Schluss mit der Ökomoral!
Wie wir die Welt retten, ohne ständig daran zu denken
Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus dem Buch »Schluss mit der Ökomoral!« von Michael Kopatz.
Kürzlich traf ich eine gute Freundin im Café des Bioladens bei mir um die Ecke. Wir plauderten angeregt, auch über die kommunale Verkehrs- und Klimapolitik. Genau wie ich interessiert Luisa sich sehr dafür. Sie fährt viel Fahrrad, auch bei schlechtem Wetter. Sie wählt die Grünen. Nach einer Stunde stand Luisa auf und sagte: »So, ich gehe jetzt noch rasch rüber zum Lidl, ich will da noch Nüsse kaufen.« Ich erwiderte: »Die gibt es doch auch hier im Bioladen.«
Luisa: »Ja, aber die sind so teuer.«
Ihre Antwort hat mich irritiert. Luisa arbeitet in einer Werbeagentur und hat ein überdurchschnittliches Gehalt, ihr Mann ist Manager und Spitzenverdiener. Die beiden müssen nicht auf jeden Euro schauen. »Du hast doch genug Geld«, sagte ich. »Was kümmern dich ein paar Euro mehr oder weniger? Eigentlich könntest du für die ganze Familie im Bioladen einkaufen, und in eurem Haushaltsbudget würden die Extrakosten kaum auffallen.«
»Das stimmt schon«, sagte Luisa, »aber ich habe das halt so drin. Ich bin wohl so erzogen worden.«
Luisa ist in guter Gesellschaft: Viele Menschen tun nicht das, was sie für richtig halten. Jeder von uns, mich eingeschlossen, verhält sich an der ein oder anderen Stelle widersprüchlich. Mehr als 90 Prozent der Deutschen können sich vorstellen, deutlich mehr Geld für gutes Fleisch auszugeben, doch nur vier Prozent tun es wirklich.
Befragungen zeigen auch, dass die Mehrheit der Menschen viel weniger Autos in den Städten haben möchte. Neun von zehn begrüßen eine ambitionierte Klimaschutzpolitik. Allein, bei sich selbst anfangen, das möchten nur wenige.
Mehr als 90 Prozent der Deutschen können sich vorstellen, deutlich mehr Geld für gutes Fleisch auszugeben, doch nur vier Prozent tun es wirklich.
Daran haben die Kampagnen und Bildungsinitiativen der vergangenen 30 Jahre für mehr und besseren Umwelt- und Klimaschutz wenig geändert. Okay, wir fliegen mit schlechtem Gewissen und manche fahren auch mit schlechtem Gewissen Auto.
Doch letztlich ist das Gegenteil von dem passiert, was eigentlich alle für richtig hielten: Wohnungen, Fernseher und Kühlschränke wurden zusehends größer und heizen weiter den Ressourcenverbrauch an. Autos sind heute doppelt so schwer und zahlreich wie in den 1980er-Jahren. Geflogen wird so viel wie nie zuvor.
All das war nicht Ihre oder meine bewusste Entscheidung. Und es gibt wohl nur wenige, die sagen: »Scheiß drauf, das geht mich nix an!« Es werden wohl auch nicht allzu viele Menschen feststellen: »Ups, das habe ich gar nicht gewusst, das mit der Ökokatastrophe!«
Wenn wir uns nichts vormachen, stehen wir vor dieser Situation: Wir sind offenbar sehr gut darin, mit extremen Widersprüchen zu leben. Wir lieben unseren Haushund und legen gleichzeitig Billigwürstchen aus martialischer Tierhaltung auf den 800-Euro-Grill. Diese Form der gelebten Schizophrenie beherrschen auch viele Politiker. Sie fordern vehement Klimaschutz und lassen trotzdem Jahr für Jahr neue Straßen und Fluglandebahnen bauen. Sie beschließen Lärmschutzpläne, um gleich darauf Tempo-30-Zonen abzulehnen. Manche beklagen die Nitratbelastung des Grundwassers und fördern parallel Massentierhaltung und Fleischexport.
Die Konzerne wiederum verweisen bei jeder Gelegenheit auf die Verantwortung der Konsumenten. Produziert werde doch nur, was der Verbraucher wolle und was auch gekauft wird. Doch so einfach ist das nicht. Die Industrie gibt schließlich pro Jahr mehr als 30 Milliarden Euro für Werbung aus, damit die Menschen Dinge kaufen, die sie eigentlich nicht brauchen. Wir schuften, um zu shoppen. All der materielle Konsum macht uns dabei nicht glücklicher. Glück ist nicht beliebig steigerungsfähig.
Der Verbraucher hat die Macht, heißt es gerne. Oder: Die Verkehrswende muss zuerst in den Köpfen stattfinden! Wäre ich ein Lobbyist für Volkswagen, dann würde ich mir genau solche Sprüche einfallen lassen. Etwas Besseres kann den Autobauern gar nicht passieren, als die Verantwortung an die Verbraucher weiterzureichen. Die Konsumenten sind dann eben schuld an der globalen Erwärmung, sie kaufen die vielen SUVs. Sie kaufen auch das Billigfleisch. Die Landwirte liefern ja nur, was alle wollen. Das ist für die Produzenten sehr bequem. Sie können an ihren umweltschädlichen Geschäftsmodellen festhalten und müssen sich um nichts anderes kümmern als um ihre Profite.
Standards und Limits
Bio für alle! Das ist möglich, wenn wir die Standards in der Landwirtschaft schrittweise anheben. Dafür müsste die Europäische Kommission nur die Verwendung von Pestiziden und Düngemitteln weiter beschränken. Das Regelwerk ist vorhanden. Schon heute gibt es detaillierte Vorgaben für Landwirte, welche Grenzwerte einzuhalten sind.
Ein Fahrplan für die Agrarwende müsste nur noch festlegen, in welchem Ausmaß und Zeitraum der Einsatz von Chemie und Dünger zu reduzieren ist. Das kann eine großzügige Zeitspanne sein, etwa bis zum Jahr 2030. Die Zulassung des Ackergifts Glyphosat wird wohl nicht erneut verlängert werden. Das ist ein Anfang.
Da der Ökolandbau teurer ist als die konventionelle Landwirtschaft, werden die Preise für Lebensmittel langfristig etwas steigen. Das geschieht jedoch nicht von heute auf morgen. Es geschieht allmählich, sodass der Preisanstieg für Kartoffeln, Gurken oder Äpfel leichter zu verkraften ist und kein Politiker Angst haben muss, dass die Entscheidung für den Ökolandbau zu massiven Protesten führen wird. Bei 100 Prozent Biolandwirtschaft sinken zudem die Produktions-, Verarbeitungs- und Vertriebskosten. Der Preisanstieg wäre somit auf ein moderates Maß beschränkt.
Bio für alle würde im Übrigen auch das Ende der Zweiklassengesellschaft am Mittagstisch einläuten. Viel zu klaglos nehmen wir bis heute hin, dass es zu sehr am Geldbeutel hängt, ob jemand sich gesund und umweltfreundlich ernähren kann. Auch mit der verrückten Situation, dass die Deutschen extrem wenig Geld für etwas so Wichtiges wie Lebensmittel ausgeben, würde dann Schluss sein.
Bio für alle würde auch das Ende der Zweiklassengesellschaft am Mittagstisch einläuten.
Sie denken vielleicht: Schön, wenn es so einfach wäre! Doch das Konzept der Ökoroutine ist in der Praxis bereits erprobt. Weitgehend unbemerkt haben Politiker im Jahr 2003 den Auslauf für Legehühner in der EU verdoppelt, mit Übergangsfristen für die Landwirte. Und siehe da: Die Landwirtschaft hat mit steigenden Standards kein Problem, solange sie für alle Mitbewerber in der Union gelten. Vor kurzem erklärte Philipp Skorning, Chefeinkäufer von Aldi Süd, dass er höhere Standards begrüßen würde – am besten EU-weit.
Auch Elektrogeräte, Häuser und Autos wurden effizienter, nachdem die gesetzlichen Standards schrittweise erhöht wurden. Beispielsweise hatten unsere Geräte in Wohnzimmer, Küche und Bad einen Stromverbrauch von bis zu 30 Watt, selbst wenn sie nur im Stand-by-Betrieb oder sogar ganz ausgeschaltet waren. Die Stand-by-Verordnung der EU hat den Maximalverbrauch auf 0,5 Watt im Aus- und 1 Watt im Bereitschaftszustand begrenzt. Allerdings gibt es für vernetzte Geräte Ausnahmen. Von den eingesparten Stromkosten profitieren 500 Millionen Konsumenten in der Europäischen Union. Und auch Gebäude müssen heute viel energieeffizienter sein.
Durch die gleiche Methode könnten alle Autos emissionsfrei sein, die ab dem Jahr 2028 zugelassen werden, sodass der gesamte Fahrzeugbestand Schritt für Schritt klimafreundlich wird. Wie die Automobilindustrie dieses Ziel erreicht, darüber muss sich die Politik nicht den Kopf zerbrechen. Darum werden sich die Ingenieure kümmern. Statt mit moralischen Appellen von den Konsumenten das »richtige« Verhalten einzufordern, ist es viel effektiver, die Produktion zu verbessern.
Neben steigenden Standards braucht es Limits und Obergrenzen, beispielsweise für den Flugverkehr. Wenn wir unsere eigenen Worte zum Klimaschutz ernst nehmen, müssen wir die weitere Expansion begrenzen. Die Deutschen fliegen zu viel. Es darf nicht noch mehr werden.
Der schlichte Vorschlag: Wir limitieren die Starts und Landungen auf dem gegenwärtigen Niveau. Ganz einfach.
Was müsste die Bundesregierung dafür tun? Nichts! Wenn die Regierung keine weiteren Lizenzen für Starts und Landungen vergibt, wenn Städte wie München und Hamburg ihre Flughäfen nicht erweitern, dann wird das Limit automatisch erreicht und der weitere Anstieg von Lärm und Treibhausgasemissionen verhindert. Oft geht es darum, etwas besser zu lassen, als es besser zu machen.
Außerdem sollten wir den Ausbau der Straßen beenden. Nur so lässt sich vermeiden, dass der Lkw-Verkehr weiter zunimmt. Das eingesparte Geld könnte der Verkehrsminister in die Bahn investieren. In der Folge würden Spediteure ihre Routinen ändern.
Das Konzept der Ökoroutine beginnt nicht in den Köpfen, sondern bei der Infrastruktur. Es beginnt mit Radschnellwegen, Busspuren und dem Rückbau von Parkplätzen. Es muss einfacher und cleverer werden, mit dem Nahverkehr oder dem Fahrrad in die Stadt zu fahren. Wenn die Planer eine Pkw-Spur in einen Busstreifen verwandeln, steigen Autofahrer – das ist erwiesen – genau dann in den Bus um, wenn sie ihr Ziel damit schneller erreichen.
Das Konzept der Ökoroutine beginnt nicht in den Köpfen, sondern bei der Infrastruktur.
Für breite und sichere Radschnellwege werden die Planer auch Parkstreifen opfern müssen. Das heißt, der Verkehrsraum ist neu aufzuteilen. Die Transformation von der autogerechten zur menschengerechten Stadt wird nicht durch Absichtserklärungen und moralische Appelle erreicht, sondern durch gute Strukturen.
Utopisch? Nein! Es gibt Vorbilder, wie sich Verhaltensnormen durch ordnungspolitische Maßnahmen in kurzer Zeit radikal ändern können. Dass in Zügen, Restaurants und öffentlichen Gebäuden heute nicht mehr geraucht werden darf, ist innerhalb weniger Jahre eine Selbstverständlichkeit geworden.
Arsch hoch!
Bei meiner Freundin Luisa im Bioladen-Café habe ich keine Grundsatzdiskussion angefangen und es auf sich beruhen lassen. Ich nehme ihr ihr widersprüchliches Verhalten nicht übel. So ist das halt. Immerhin weiß ich, dass Luisa voll und ganz das Konzept der Ökoroutine unterstützt. Wenn die Produkte beim Discounter eines Tages genauso öko sind wie die beim Superbiomarkt, könnte sie damit sehr gut leben. Das fände Luisa total praktisch, ja regelrecht befreiend, um nicht zu sagen erlösend. Und ich auch. Denn meine Einkäufe sind auch nicht zu 100 Prozent bio.
Statt sich dem persönlichen Ohnmachtsgefühl hinzugeben, nimmt Luisa jetzt an Demonstrationen teil. Denn die beschriebenen Strukturen und Limits kommen nicht von allein. Dafür müssen sich Menschen engagieren. Zum Beispiel Sie!
Eine schlichte Form von Engagement ist Protest, etwa bei der Demo »Wir haben es satt!«. Gleich zu Jahresbeginn können Sie nach Berlin fahren und mitmarschieren. Parallel zur Grünen Woche, der wichtigsten Messe der weltweiten Agrarindustrie, fordern dort Zehntausende Menschen bessere Standards in der Landwirtschaft. Ohne dieses Engagement von Verbänden und Bürgern wüsste heute niemand, was Glyphosat überhaupt ist.
Oder Sie besetzen ein Braunkohlerevier. Wem das zu riskant ist, der kann an der
Lasst den Verstand nicht schrumpfen!
Wer über nichts mehr nachdenkt
als die Verwendung des Gehalts,
dessen Verstand schrumpft
auf die Dimension seiner Geldbörse.
Die Verhältnisse ändern sich nur, wenn wir eine enkeltaugliche Politik einfordern. Wir sind nicht nur Verbraucherinnen und Verbraucher, sondern vor allem Bürgerinnen und Bürger. Wir sind das Volk, hieß es mal.
Das sollten sich auch unsere Eliten klar machen. Da gibt es tatsächlich viele, die sich nur noch um die Verwendung ihres Einkommens kümmern und über Politik und Politiker lästern. Das ist ja so bequem. Doch gerade diejenigen, die durch ihre Ausbildung Top-Qualifikationen mitbringen, gerade die sind prädestiniert, sich einzumischen und Druck zu machen.
Ein Anfang ist die Teilnahme an einer Demonstration. Zugegeben, ich habe mir vor einigen Jahren auch noch gedacht, ist doch egal, einer mehr oder weniger bei einer Demo, da kommt es dann auch nicht drauf an. Da war mein Verstand wohl schon ziemlich geschrumpft.
Titelbild: Timothy Dykes - CC0 1.0