Wem helfe ich, und wenn ja, wie vielen?
Geld spenden geht schnell. Aber wie und wo bringt es wirklich was? Zum Glück gibt es den Effektiven Altruismus.
Stelle dir vor, du befindest dich auf einem sinkenden Schiff. Hektisch bahnst du dir deinen Weg zu den Rettungsbooten. Deinen Koffer inklusive Portemonnaie mit 700 Euro, teurem Laptop, Smartphone und Kamera hast du dabei – alles nicht versichert. In diesem Gedankenexperiment ist es erlaubt, Gepäck mitzunehmen. Es bleibt nicht viel Zeit, das Wasser steht dir bereits bis zu den Knöcheln. Dann taucht neben dir plötzlich ein Kind auf, vielleicht 7 Jahre alt. Es lebt noch, ist aber nicht bei Bewusstsein. Du könntest das Kind retten. Aber nur, wenn du deinen Koffer zurücklässt.
Du musst dich entscheiden: Kind oder Koffer?
Solltest du dich für den Koffer entschieden haben, kannst du an dieser Stelle aufhören zu lesen – dieser Artikel wird dich vermutlich nicht weiter interessieren. Solltest du Kind statt Koffer gerettet haben, habe ich eine weitere Frage.
Wahrscheinlich war für dich klar, was zu tun ist. Auch wenn du 900 Euro, 2 Laptops und 3 Kameras im Koffer gehabt hättest. Was dir vielleicht nicht klar ist: Du hast jeden Tag die Möglichkeit, Menschen zu retten. Menschen, die verhungern, an vermeidbaren oder heilbaren Krankheiten sterben. Wir sehen diese Menschen nicht so direkt vor uns wie im Gedankenexperiment, ignorieren sie aber täglich indirekt durch unsere Entscheidungen.
Gutes besser tun
Eine ähnliche Frage stellte der Moralphilosoph
Wenn du ein komfortables Leben führst, während andere Menschen hungern und an leicht vermeidbaren Krankheiten leiden, und du nichts dagegen tust, ist etwas mit deinem Verhalten nicht in Ordnung.
Der Effektive Altruismus hat Menschen auf der ganzen Welt inspiriert, mehr zu tun, als nur das Kind direkt vor ihnen zu retten. Peter Singer selbst gibt beispielsweise dauerhaft einen großen Teil seines Einkommens an verschiedene Hilfsorganisationen. Einer, den Singer besonders inspiriert hat, ist der schottische Moralphilosoph William MacAskill. Im Alter von 17 Jahren las er die Texte des Australiers. Mittlerweile ist er 29 Jahre alt
Doch das ist für einen Effektiven Altruisten nicht genug. Er will wissen, wohin er das Geld geben soll, um möglichst effektiv zu helfen. Wenn wir mit jeder Spende einen guten Zweck verfolgen, für welchen sollen wir uns dann entscheiden? William MacAskill und seine Kollegen aus der Bewegung des Effektiven Altruismus haben eine scheinbar einfache Antwort: Wir können messen und so bewerten, welche Maßnahmen Leben retten und wie teuer diese sind.
Das wohl bekannteste Beispiel, in dem die Effektivität einer Maßnahme gemessen wurde, handelt von Moskitonetzen. Die Herstellung und Verteilung eines einzelnen Moskitonetzes kostet je nach Region nur zwischen 2,50 und 7 US-Dollar. Doch nicht jedes Netz rettet einem Menschen das Leben. Dafür sind weitaus mehr Netze nötig. Verteilen wir diese flächendeckend an viele Menschen,
Geben, was wir nicht brauchen
Die von William MacAskill gegründete Organisation Giving What We Can unterstützt genau solche effektiven Maßnahmen wie die flächendeckende Versorgung mit Moskitonetzen. Das wichtigste Kriterium, das Hilfsorganisationen erfüllen müssen, um in die Liste der von Giving What We Can empfohlenen Organisationen aufgenommen zu werden: Sie müssen nachweisen, wie effektiv das gespendete Geld eingesetzt wird.
Die Absichten der meisten Hilfsorganisationen sind gut, werden aber nicht immer effektiv umgesetzt. Nehmen wir ein Beispiel aus der Bildung, bei dem wir Geld spenden, um einem Mädchen in Afrika den Schulbesuch zu ermöglichen. Die Idee dahinter: Erhält die Familie Geld, kann sie es sich leisten, das Mädchen in die Schule zu schicken, statt zur Arbeit. Klingt ziemlich effektiv. Umgerechnet in »zusätzlichen Schuljahren pro 1.000 US-Dollar« führt dies jedoch nur zu 0,2 zusätzlichen Schuljahren. Ein Programm, dass Schuluniformen verteilt, resultiert in 7,1 weiteren Jahren pro 1.000 US-Dollar. Noch effektiver ist jedoch eine Maßnahme, die zunächst wenig mit Bildung zu tun hat: Zahlreiche schulpflichtige Kinder leiden an Würmern. Eine Initiative zur Entwurmung schlägt mit
Damit ist die Entwurmung fast 700 Mal so effektiv wie das Schulgeld.
Das bedeutet nicht, dass es nicht gut ist, einem Mädchen den Schulbesuch zu finanzieren. Mit der gleichen Summe könnten wir aber viel mehr Kindern ermöglichen, zur Schule zu gehen. Einfach, indem wir unser Geld für die Entwurmung einsetzten. Um diesen Unterschied zu zeigen, war eine wissenschaftliche Untersuchung der Effektivität verschiedener (Hilfs-)Maßnahmen notwendig. Somit ist zumindest ein Teil der Herausforderung gelöst: Wir können Geld an effektive Projekte spenden. Das Argument »Spenden werden doch eh nicht sinnvoll genutzt und kommen nicht bei hilfsbedürftigen Menschen an« zählt also nicht.
Ein paar offene Fragen bleiben dennoch.
Welches Leben wollen wir retten?
Ist es wirklich das Gleiche, wenn ich ein Kind direkt vom sinkenden Schiff rette, und wenn ich mit meiner Spende verhindere, dass ein Kind verhungert oder an Malaria erkrankt?
Peter Singers Antwort ist kurz: »Ja!« Moralisch mache es keinen Unterschied. Um dies einzusehen, sei es lediglich nötig, den Kreis der Menschen, denen wir helfen (würden), zu vergrößern. So werden nicht nur Menschen, die wir vor Augen haben, in unseren Hilfsradius eingeschlossen, sondern auch solche, die weit weg sind und denen wir vermutlich nie begegnen werden.
Haben wir diese Erweiterung vorgenommen, bleibt die Frage der psychologischen Nähe. Ist es wirklich besser, in Afrika 30 Leben zu retten, wenn wir für den gleichen Preis hier vor Ort vielleicht ein Leben retten könnten?
Wieder ist die Antwort aus dem Lager der Effektiven Altruisten kurz: »Ja«, sagt William MacAskill. Denn die Ressourcen, um Leben zu retten, seien begrenzt.
Also nehmen sie eine Kategorisierung der Verletzten vor. Die hoffnungslosen Fälle ohne Überlebenschance werden mit einer 3 markiert; sie erhalten etwas Morphium und Decken. Patienten, die nicht in direkter Todesgefahr schweben, erhalten eine 2 und werden innerhalb von 24 Stunden verarztet. Verletzte, denen direkt mit den vorhandenen Mitteln geholfen werden kann, erhalten eine 1 und werden umgehend versorgt.
Keine leichte Entscheidung, aber eine, die letztendlich dafür sorgte, dass möglichst viele Verletzte gerettet werden konnten.
Für William MacAskill ist die beschriebene Situation mehr als ein Beispiel. Er sieht in der Geschichte auch unsere Alltagsentscheidungen in einer komplexen Welt, in der vieles miteinander verknüpft ist. Nur ein wenig indirekter als im Krankenhaus in Ruanda. Konkret bedeutet das: Wie viele weitere Kinder hättest du mit deiner Spende an Waisenhäuser in Deutschland retten können, wenn du das Geld stattdessen in Moskitonetze oder Entwurmung investiert hättest?
Hilfe! Wo höre ich auf, zu helfen?
Der Gedanke, dass unsere Spenden nicht effektiv sind, hinterlässt ein mulmiges Gefühl – wie bei einem Test, dem wir nicht gewachsen sind. Wie können wir helfen, wenn vor unseren eigenen Haustüren Menschen leiden, aber am anderen Ende der Welt noch viel größeres Elend herrscht?
»Wenn jeder sich selbst hilft, ist doch allen geholfen!« Mit dieser Einstellung erhalten Nationalisten in vielen europäischen Staaten aktuell großen Zuspruch. Doch auch ohne stark nationalistisch geprägt zu sein, geht es hier um psychologische Grenzen: Natürlich sind uns bestimmte Menschen wie Freunde und Familie wichtiger als Menschen, denen wir noch nie begegnet sind. Sind wir überhaupt in der Lage, uns von emotionalen Bindungen zu bestimmten Vorhaben – egal ob vor der Haustür oder weit entfernt – zu trennen? Projekte wie die Kinderhilfe vor Ort oder die Suppenküche der Tafel in deiner Stadt?
Peter Singer ist auch bei der Antwort auf diese Frage strikt. Die beste Entscheidung sei es, Menschen in Ländern wie Deutschland keine Spenden zu geben. Schließlich könne in anderen Ländern mit den gleichen Mitteln viel mehr Menschen geholfen werden.
Wenn wir in der Lage sind, etwas Schlimmes zu verhindern, ohne dadurch etwas von vergleichbarer moralischer Bedeutung zu verlieren, sind wir moralisch dazu verpflichtet, es zu tun.
Sein Kollege William MacAskill ist nachsichtiger. Er ist davon überzeugt, dass wir die psychologischen Bindungen nicht einfach ausblenden können; Freunde und Familie hätten immer eine höhere Priorität. Tatsächlich könnte es sich sogar negativ auswirken, wenn wir diese aufgäben. Damit würde letztendlich also die Effektivität sinken und weniger der ärmsten und hilfsbedürftigsten Menschen gerettet werden.
Ob ein Leben in Europa oder Afrika unterschiedlich viel wert ist, muss jeder für sich selbst entscheiden. Weder Peter Singer noch William MacAskill postulieren, dass ihre Weltanschauung besser sei als andere. Wenn wir jedoch den Argumenten des Effektiven Altruismus folgen und die Wirkung unserer begrenzten Mittel vergrößern wollen, bieten sie uns Empfehlungen und Ratschläge, um einen möglichst effektiven Beitrag für eine Welt mit weniger Leid zu leisten. Nicht mehr und nicht weniger.
Klimawandel stoppen oder Menschen retten?
Sollten wir der Argumentation gefolgt sein, bleibt die große Frage: Wie messen wir die Effektivität in komplexen Zusammenhängen mit möglicherweise langfristigen Folgen?
Niemand ist in der Lage, die Folgen all seiner Entscheidungen zu kalkulieren und verschiedene Entscheidungswege durchzurechnen. Es ist schlichtweg unmöglich. Dafür gibt es zu viele Unbekannte.
Nehmen wir das Beispiel des Klimawandels. Bereits jetzt sterben jedes Jahr zahlreiche Menschen an Ist es effektiver, in systemische Änderungen zu investieren?
den direkten und indirekten Folgen des Klimawandels, Tendenz steigend. Hinzu kommt, dass die Menschen in den ohnehin ärmsten Regionen der Welt in Zukunft am stärksten von den Folgen betroffen sein werden und noch mehr Lebensqualität einbüßen müssen. Ähnlich wie beim Klimawandel lassen sich Armut und Unterdrückung auch als systemische Probleme sehen. Ist es da nicht sinnvoller – also effektiver –, in systemische Änderungen zu investieren, sodass Genozide vermieden und Armutsursachen endgültig bekämpft werden?
Das sind wichtigen Fragen, deren Antworten am Ende von den Möglichkeiten, aber auch der Weltsicht des Fragenden abhängen. Jeder, der effektiv helfen möchte, muss für sich abschätzen, wo er die größte Wirkung durch sein Handeln sieht, sei es bei systemischen Änderungen, im Kampf gegen den Klimawandel oder durch eine monatliche Spende an eine effektive Hilfsorganisation.
Angesichts der komplexen Zusammenhänge den Kopf in den Sand zu stecken und auf eine magische Änderung unseres Wirtschaftssystems oder technische Allheilmittel zu spekulieren, ist zu kurz gedacht. Es gibt immer ein »besser« oder »effektiver« – aber »etwas« ist in jedem Fall besser, als nichts zu tun. Level 2 ist dann die Optimierung.
Was also hilft, um effektive Entscheidungen zu treffen?
Wie können wir effektiver über Gutes nachdenken?
Es lohnt sich immer, über den möglichen Erfolg einer Maßnahme oder Organisation zu informieren. Ähnlich wie beim Kauf eines Produktes lohnt es sich auch hier mitzuteilen, welche »Qualität« eine Maßnahme hat. Wofür wird das Geld eingesetzt? Welche Informationen zur Umsetzung kann ich nachlesen?
Am Ende seines Buches listet William MacAskill Fragen auf, die Orientierung bei Entscheidungen geben können. Diese sind unabhängig davon, ob wir Geld spenden oder Zeit investieren wollen.
- Wie vielen Menschen kann ich helfen? Und in welchem Ausmaß?
- Ist dies das Effektivste, was ich aktuell tun kann?
- Ist dies ein Bereich, in den noch zu wenige investieren, sodass meine Unterstützung einen großen Beitrag leisten kann?
- Was würde passieren, wenn ich mich für etwas anderes entscheide?
- Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass mein Handeln, um Gutes zu tun, Erfolg haben wird? Wie groß ist die mögliche Wirkung dieses Erfolgs?
Ein effektives Fazit?
Das Gedankenexperiment vom sinkenden Schiff und die Leitfragen hier haben mich wirklich nachdenklich gemacht. Kann und sollte ich nicht mehr tun? Es beeindruckt mich, mit welcher Selbstverständlichkeit Effektive Altruisten ihren Wohlstand aufgeben, um anderen Menschen zu helfen. Auch wenn sie weiterhin damit beschäftigt sind, zu messen, welche Maßnahmen die effektivsten sind und fortlaufend darüber diskutieren, hält sie das nicht davon ab, schon jetzt einen großen Teil ihres Geldes und ihrer Zeit an andere zu geben.
Jeder von uns ist in der Lage, Dutzende oder Hunderte Leben zu retten, oder das Wohlbefinden von Tausenden von Menschen signifikant zu verbessern. Auch wenn über uns keine Bücher oder Filme geschrieben werden sollten, können wir alle erstaunlich viel Gutes tun …
Dennoch habe ich den Eindruck, dass die Effektiven Altruisten die Sache zu sehr »verwirtschaftlichen«. Brauchen sogar unsere guten Taten eine Kosten-Nutzen-Analyse? Auf der anderen Seite ermöglicht nur diese Herangehensweise eine vorsichtige Antwort auf die Frage, die auch die Effektiven Altruisten nachts wachhält: Kann ich woanders besser helfen?
Das Titelbild zeigt ein Kind in Somalia, das nach einer Malariainfektion behandelt wird.
Titelbild: TOBIN JONES - CC0 1.0