Oh nein, er hat Hitler gesagt!
Bei jedem Hitler-Vergleich ist die Aufregung groß. Dabei benutzen wir alle täglich die Sprache der Nazis. Ist das schlimm? So gehen wir richtig mit den kontaminierten Wörtern um.
»Jedem das Seine.« So lautete die Bildunterschrift eines unserer Artikel
Bei den Worten ›Jedem das Seine‹ schwingen für mich sofort Konnotationen mit, die hier sicher nicht beabsichtigt sind.
Recht hat sie und gab damit die Idee zu diesem Artikel. Der Ausspruch stand nämlich über dem Haupttor des Konzentrationslagers Buchenwald.
Betretenes Schweigen in der Redaktion.
»Irgendwie haben wir das alle überlesen.«
»Stimmt. Und ja auch ganz anders gemeint.«
»Müssen wir uns nun trotzdem entschuldigen?«
»Wenn ja, bei wem eigentlich?«
Fakt ist: Wir alle verwenden regelmäßig und unbewusst Worte aus der Propaganda des Nationalsozialismus – kontaminierte Sprache. Sie tauchen in der Werbung auf, in der Politik und finden sogar wieder Eingang in unsere Jugendsprache. Dabei wurden sie alle im Dritten Reich
Ab in die Abgründe unserer Sprache …
So kamen die Nazis in unsere Sprache
»Deutsch ist nicht nur, was heute im Duden steht.«
Um zu verstehen, warum wir immer wieder über NS-Wörter stolpern, müssen wir erst einmal erklären, wo diese herkommen. Dabei hilft uns Heidrun Kämper. Sie ist Linguistin am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim und hat sich intensiv mit der Sprache der NS-Zeit
Die allermeisten Wörter der Deutschen Sprache haben eine Geschichte, die deutlich älter ist als die NS-Zeit. Aber sie sind belastet, weil sie von Vertretern eines rassistischen Regimes verwendet wurden, die mit diesen Wörtern ihre Unmenschlichkeit praktiziert haben. Einige dieser Ausdrücke sind heute zu Symbolen der Diskriminierung und Verbrechen jener Zeit geworden.
Der eigentlich noble Rechtsgrundsatz »Jedem das Seine« verwandelte sich am Tor von Buchenwald in eine Mahnung. Er war so angebracht, dass er nicht von außen, sondern aus dem Inneren des Lagers lesbar war. So mussten die Gefangenen beim Appell jeden Morgen diese Worte sehen. Dieser Zynismus war typisch für die NS-Propaganda. Denn wie bereits erwähnt, deutete sie besonders gern beliebte und bedeutende Vokabeln der damaligen Volksgemeinschaft
Erst nach 1945 wurde auch hierzulande langsam klar, welch wichtige Rolle Sprache im Nationalsozialismus gespielt hat. So ist es kaum verwunderlich, dass die deutsche Sprache kurz nach dem Krieg vielfach kritisiert und
Das geschah natürlich vor allem in intellektuellen Kreisen. Die normale Bevölkerung hatte ganz andere Sorgen, etwa ein Dach über den Kopf zu kriegen oder Essen auf den Tisch. Doch auch in den Zeitungen der sehr frühen Nachkriegszeit gab es immer wieder Sprach-Glossen, in denen man sich mit einzelnen NS-Ausdrücken auseinandersetzte. Das Sprachbewusstsein damals war sehr hoch.
Doch die damalige Aufarbeitung der Sprache verliert sich nach der Gründung der Bundesrepublik. Bestimmte NS-Wörter wurden einfach mit einem Tabu belegt. Diese Sonderbehandlung
Godwin sagt: Früher oder später kommt der Hitler-Vergleich
Heute findet man NS-Propaganda vor allem in Geschichtsbüchern und an den Stammtischen rechtsradikaler Kreise. Das hält einige Personen des öffentlichen Lebens aber nicht davon ab, mit Nazivergleichen immer wieder auf die Pauke zu hauen. So etwa der Kölner Kardinal Joachim
Auch das ist Teil der kontaminierten Sprache, findet Heidrun Kämper:
Die Entschuldigung hinterher ist dann eher halbherzig. Man hat ja schließlich bereits erreicht, was man wollte: Aufmerksamkeit.
Hier spielt unser Umgang mit der NS-Zeit den Provokateuren in die Hände: Gerade weil der Vergleich mit dem Nationalsozialismus ein Tabu ist und die Presse regelmäßig darauf anspringt, wird durch ihn besonders viel Aufmerksamkeit für die eigene Position erzeugt. Doch das Tabu kommt nicht von ungefähr:
Das Schlimme an solchen Vergleichen ist die Relativierung und Verharmlosung dieser einzigartigen historischen Verbrechen.
Auch im privaten Rahmen scheint der gezielte Bruch des Tabus einen besonderen Reiz auszumachen, zumindest im Internet. Dort waren Nazi-Vergleiche so präsent, dass sie ein »Gesetz« prägten: Godwins Law, zuerst beschrieben vom Rechtsanwalt und Autor Mike Godwin. Es besagt:
Mit zunehmender Länge einer Online-Diskussion nähert sich die Wahrscheinlichkeit für einen Vergleich mit den Nazis oder Hitler dem Wert 1 an.
Anders formuliert: In einer hitzigen Online-Debatte begeht irgendjemand früher oder später mit Sicherheit den Vergleich. Der häufige Zusatz von Godwins Law »und verliert dadurch die Diskussion« ist jedoch problematisch. Denn echte Rechtsradikale gibt es auch heute noch und manchmal passt die Erwähnung der NS-Zeit eben doch.
Durch die Sprache kehren die Nazis ins Heute zurück
Abseits schädlicher Vergleiche feiert auch echte Nazi-Rhetorik ein Comeback im Jahr 2016, vor allem bei sozialen Medien wie Facebook und Twitter. Dort benutzen die neuen Nationalsozialisten von 2016 kontaminierte Sprache weiterhin zur Unterstützung der eigenen Ideologie, und um das Hitler-Regime zu verherrlichen: »Gleichschaltung«,
Dabei verlassen sich die rechten Jungs und Mädels
Diese Tarnworte stehen stellvertretend für andere Begriffe der kontaminierten Sprache und helfen den Sprechern, die Gesinnung des Gegenübers zu erkennen und dem Verfassungsschutz zu entgehen. So postete ein Metzger aus Düsseldorf 2015 in einer einschlägigen Facebook-Gruppe:
Duschen stehen hier natürlich für Gaskammern, Ascheplätze für Konzentrationslager – die Aussage ist also ein Aufruf zum Völkermord. Das konnten auch die Richter lesen und so gab es eine Strafe von 500 Euro wegen Volksverhetzung, inklusive halbherziger Rechtfertigung: Es sei doch gar nicht so gemeint gewesen.
Andere neue Tarnworte finden sich längst auch
Nicht weniger besorgniserregend ist das Wiederaufleben der NS-Sprache in der Politik. So erklärte »Schritt 1: gezielter Tabubruch
Nur wenige Tage später setzte die CDU-Politikerin
Schritt 2: halbherziges Zurückrudern
Schritt 3: Aufmerksamkeit!«
Wenn Politiker diese Begriffe für einen kurzen Aufmerksamkeits-Schub verbreiten, erleichtern sie Neonazis ihre Arbeit. Doch die Medien stehen nun vor einem Problem: Wer darauf eingeht, spielt den Provokateuren in die Hände und sorgt für einen gelungenen PR-Stunt. Wenn niemand reagiert, werden rechtsextreme Deutungsmuster wieder salonfähig und sorgen damit bei rechten Bewegungen für sprachlichen Rückenwind.
Eine Zwickmühle.
Wir alle sind die Sprachwächter!
Hand aufs Herz: Das Thema Sprache ist nicht sexy oder aufregend. Aber Sprache ist wichtig! Wir nutzen sie alle jeden Tag. Genauso war und ist sie auch Teil des Nationalsozialismus. Sie stützte das Regime, verbreitete ihre Ideologie und wirkt in ihren Vokabeln bis heute fort.
Aber wie gehen wir nun mit kontaminierter Sprache um?
Horst Dieter Schlosser ist darin ein Fachmann. Der Linguist gründete im Jahr 1991 die Aktion »Unwort des Jahres«. Diese bemüht sich darum, die Sensibilität für die deutsche Sprache zu erhöhen, und kürt jedes Jahr mit ausführlicher Begründung ein besonders fragwürdiges Wort in der deutschen Öffentlichkeit. Der aktuelle Titelträger von 2015: »Gutmensch«. Ich habe mit ihm gesprochen.
Sprache ist ständig im Fluss und wird auf vielen Ebenen verwendet. Ein Teil wird dabei ganz natürlich vergessen; das gilt nicht nur für negative Begriffe. Ein anderer Teil hält sich mit den alten Bedeutungen und wird auch bewusst weitergepflegt.
Vokabeln und Bedeutungen werden dabei ständig neu verhandelt, und zwar nicht nur von Kulturschaffenden
Horst Dieter Schlosser betont allerdings, dass Worte an sich unschuldig sind. Es kommt auf den Sprecher und den Kontext an:
Wer Worte aus der NS-Zeit neu benutzt, bezweckt dabei meist etwas. Mit dem Wort »völkisch« sollen wohl die Kreise angesprochen werden, die an der völkischen Ideologie festhalten und für die diese Vokabeln sehr reizvoll sind. Ich glaube, dass ein Großteil der Leute sich bei diesen Worten absolut nichts denkt. Es ist aber geradezu kriminell, dass Leute, welche ein Minimum an historischem Wissen besitzen, diese Worte wiederverwenden und diese für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren.
Wer kontaminierte Sprache unbewusst verwendet und nur den Geistlichen, Politikern und Journalisten nachredet, die bewusst mit dem sprachlichen Feuer der NS-Vergangenheit spielen, den trifft keine Schuld. Anders formuliert: Wer »Kulturbereicherer« sagt, ist nicht automatisch rechtsradikal – hier fehlt oftmals einfach das Sprachbewusstsein. Und genau dort setzt Horst Dieter Schlosser seine Lösung an und nimmt uns alle in die Verantwortung:
Es ist geradezu eine moralische Verpflichtung aller derjenigen, die ein Minimum an sprachhistorischem Wissen haben, wachsam zu bleiben und gegen den bewusstlosen Gebrauch von Wörtern vorzugehen.
Die Lösung für Jedermann lautet also: Mit gutem Beispiel vorangehen und das eigene Sprachbewusstsein schärfen. Und so könnte das aussehen:
- Vergleiche meiden, wo sie nicht angebracht sind: Es gibt genug Superlative in der deutschen Sprache, es muss nicht immer die NS-Zeit als Vergleich sein. Wer gedankenlos Politiker mit Hitler oder Parteien mit der NSDAP vergleicht, um Aufmerksamkeit für die eigene Sache zu erhalten, der tut sich und der Gesellschaft keinen Gefallen.
- Auf Kernausdrücke des Rassismus verzichten: Bestimmte Begriffe sind in der NS-Zeit stark geprägt und beinhalten rassistisches Gedankengut, etwa »Umvolkung« oder »völkisch«. Wer diese verwendet oder umdeutet, verwischt damit die historische Bedeutung.
- Keine Ausdrücke zynisch verharmlosend benutzen: Die Verschleierung der Sprache war eine zentrale Taktik der NS-Propaganda und wird heute noch von Neonazis aktiv praktiziert. Wer rechtsextreme Vokabeln benutzt, hilft dabei mit, Neonazi-Codes salonfähig zu machen.
- Bedeutungen auch in Vergessenheit geraten lassen: Bei Weitem nicht alle Worte aus der NS-Zeit sind kontaminiert und in ihrer historischen Bedeutung erhaltenswert. Bestimmte Ausdrücke sind einfach in unseren normalen Sprachgebrauch übergegangen. Das ist normal und betrifft vor allem die Vokabeln, die wir in der Sprache nicht leicht ersetzen können oder die nur in bestimmter Kombination in der NS-Sprache verwendet wurden. Oder regt sich jemand über das Betreuungs-
Und was, wenn uns echte kontaminierte Sprache begegnet? Dann hilft Empörung ohne Einordnung kaum weiter. Wer eifrig die Tabu-Keule schwingt, sorgt nur für Aufmerksamkeit und verstärkt den Reiz der betroffenen Wörter.
Der richtige Weg sei, so Horst Dieter Schlosser, aufzuklären und immer wieder zu kritisieren. Das sei auch der einzige Weg, den echten Rassisten in unserer Gesellschaft den Wind aus den Segeln zu nehmen und dafür zu sorgen, dass sie nicht klammheimlich die Bedeutung der Worte beliebig verdrehen können.
Kontaminierte Sprache kann und sollte dabei der Anlass sein, dass wir uns immer wieder mit unserer Geschichte und den Verbrechen der NS-Zeit auseinandersetzen – wie sprachliche Stolpersteine eben.
Hast du es bemerkt?
Ich habe im Artikel eine Reihe von Worten der NS-Sprache versteckt, deren kontaminierte Bedeutung wir heute kaum noch kennen. Klick auf »anzeigen«, um sie im Text zu markieren. Mit einem Klick auf den kleinen Pfeil dahinter, kannst du mehr über sie erfahren und dein Sprachbewusstsein schärfen.
Titelbild: Ernest McGray, Jr. - CC BY-SA 3.0