Wie West Virginia den Kater seines Kohle-Rauschs abschütteln will
Wo früher der Bergbau brummte, klafft heute ein schwarzes Loch: West Virginias Wirtschaft strauchelt. Seine Bewohner beginnen, nach Alternativen zu suchen.
Etwa eine Autostunde südlich von Charleston, der Hauptstadt des US-Bundesstaates West Virginia, schlängelt sich eine kaum befestigte Straße den Berg hinauf zum Kayford Mountain. Hier kommen nur geübte Fahrer mit einem Pickup herauf. Oben angekommen bietet sich ein ungewöhnliches Bild: Es gibt keinen Berggipfel zu erklimmen, keine Bäume, kaum Vegetation. Wo früher eine saftig grüne Bergkuppe ruhte, endet die Straße nun in einer Mondlandschaft, spärlich mit Gras bewachsen, hier und da behauptet sich eine kleine Pflanze.Schätzungsweise 200 Höhenmeter haben Arbeiter in 20 Jahren weggesprengt.
Gewaltige Massen Erde und Gestein sind hier bewegt worden: Schätzungsweise 200 Höhenmeter haben Arbeiter in 20 Jahren weggesprengt. Nun ist die Kohle abgebaggert, der Abraum mit Schwermetallen und Chemikalien in das Tal gekippt. »Das war einmal der höchste Berg in dieser Gegend«, erzählt der Umweltschützer Paul Corbit Brown. Nie wieder werde hier Wald wachsen, sagt der Umweltschützer.
Die Kohle hat den Kayford Mountain zu dem gemacht, was er heute ist. West Virginia ist heute gezeichnet vom schwarzen Rohstoff – dabei fing alles ganz gut an.
Die Kohle gab den Ton an
Seit der Gründung von
Der Kohlebergbau hat das Land über viele Jahrzehnte geprägt, sowohl wirtschaftlich als auch kulturell. Gerade in den Appalachen gibt es eine große Bergbautradition, die oft viele Generationen zurückreicht. »Es ist eine Kultur«, sagt Jeremy Richardson, der für die renommierte Umweltorganisation Für viele Menschen ist die Kohle mehr als nur ein Job – sie ist ihre Identität.
Für viele Menschen sei es mehr als nur ein Job – es sei ihre Identität.
Doch die Globalisierung stellt diese Identität zunehmend infrage: Mindestens 50 US-Kohlekonzerne haben in den vergangenen Jahren Bankrott gemacht. Ende April musste mit Peabody Energy der größte private Kohleförderer der Welt Insolvenz anmelden. Sie alle sind oder waren auch in West Virginia groß im Geschäft. Noch vor 5 Jahren war Peabody 20 Milliarden US-Dollar wert, seitdem ging es bergab.
Ein weiteres Problem für die Kohlebranche in West Virginia ist der Boom der Fracking-Technologie zur Erdgasförderung. Beinahe überall im Land wurden in den vergangenen 5 Jahren neue Fracking-Gebiete erschlossen, auch in West Virginia. Mit den günstigen Gaspreisen kann die Kohle nicht mithalten. Zudem ist der weltweite Hunger nach Kohle nicht so stark angewachsen wie erhofft,
Die Kohleminen, die zuerst dichtmachen, liegen unter Tage. Hier ist die Förderung am teuersten. Weniger betroffen sind die Minen über Tage, denn dort wird größtenteils mit der Mountaintop Removal Methode (MTR) (englisch, etwa Berggipfel-Abtragung) gearbeitet. Dabei werden Bergkuppen, -kämme und -spitzen mit viel Dynamit weggesprengt und abgetragen, um an die darunterliegenden Kohleflöze zu gelangen. Mit riesigen Maschinen wird anschließend nach dem schwarzen Gold gegraben. Der meist giftige Abraum aus den Minen wird größtenteils in die Täler gekippt,
Die Hobet-Mine rund 50 Kilometer südlich von Charleston in West Virginia, aufgenommen zwischen 1984 und 2015 von einem Satelliten der NASA.
Gleich neben dem mondähnlichen Kayford Mountain hat der Kohleförderer Blackhawk Mining eine neue Mine eröffnet – und sprengt mit deutschem Geld den Berg in die Luft. Die schmutzige Kohle aus West Virginia wird auch in
Die Kohle macht Mensch und Natur krank
Der Abgang der großen Kohlekonzerne hinterlässt nicht nur in der Natur Spuren: 2015 arbeiteten nach Angaben staatlicher Stellen gut 48.000 Menschen in West Virginia im Kohlesektor – 10.000 weniger als noch 5 Jahre zuvor.
Die Infrastruktur des Bundesstaats ist marode, das betrifft nicht nur Straßen und Energieversorgung. Die Internetanbindung ist sogar im Zentrum der Hauptstadt Charleston mittelprächtig, die verlegten Kabel sind alt und können mit dem steigenden Datenverkehr nicht mithalten. Zukunftsfähige Geschäftsfelder lassen sich so kaum etablieren. Das Haushaltsjahr 2016 wurde mit einem
So geht der wirtschaftliche Niedergang der Kommunen weiter, und die gesundheitlichen Auswirkungen des Kohleabbaus müssen bezahlt werden. Wie nahezu alle Einwohner West Virginias hat auch der Umweltschützer Brown Familienangehörige, die in der Kohleindustrie gearbeitet haben. Sein Großvater habe bereits als 10-Jähriger in den Kohleminen geschuftet. Sein Vater könne nicht mehr arbeiten, Sein Großvater hat bereits als 10-Jähriger in den Kohleminen geschuftet. Sein Vater leidet an einer Kohlenstaub-Lunge.
er leide an einer schweren Kohlenstaub-Lunge.
Tatsächlich ist die Lebenserwartung in West Virginia auffallend niedrig: Sie
So kaputt wie viele Kumpel ist auch die Natur in West Virginia: In drei Vierteln der Wasserläufe und Seen der Region solle die Bevölkerung laut den Behörden nicht baden, erzählt Brown. Nur zu bestimmten Jahreszeiten sollten selbst gefangene Fische verzehrt werden, und wenn, dann nur bestimmte Arten.
Wer verarztet die offenen Wunden?
Für einen Großteil der Umweltverschmutzungen können keine Firmen direkt haftbar gemacht werden, sagt Energieexperte Richardson. Sei dies doch einmal möglich, erklärten die Unternehmen am nächsten Tag ihre Insolvenz. Wäre etwa der Hudson River in New York von solchen täglichen Verschmutzungen oder Unfällen betroffen, müssten sicher etliche Politiker ihren Hut nehmen. In West Virginia dagegen würden die Kohlelobbyisten ganze Arbeit leisten, um Vorschriften zu verwässern und strengere Gesetze zu verhindern.
Lokale NGOs wie Keeper of the Mountains und Es wird Jahrhunderte dauern, bis sich auf den weggesprengten und abgetragenen Bergkuppen wieder Wald ansiedelt.
die Frage um, was mit den verlassenen MTR-Kohleminen geschieht, wenn die Kohlevorräte erschöpft sind. Eigentlich sind die Konzerne gesetzlich dazu verpflichtet, die Natur wiederherzustellen. Oft beschränke sich die Wiederherstellung allerdings auf das Ausbringen von Grassamen, erzählt Umweltaktivist Brown. Die lokalen Behörden würden das Problem ignorieren.
Aufgrund der Insolvenzen der großen Kohlefirmen sind sogar die kleinsten Wiederherstellungsmaßnahmen in Gefahr. Allein Peabody Energy hatte bei der Insolvenzanmeldung entsprechende offene Verpflichtungen in Höhe von 723 Millionen US-Dollar,
Die Politik hält stur am Alten fest
Bevölkerung und Politiker in West Virginia setzen zwar große Hoffnungen darauf, dass sich der Abwärtstrend in West Virginia verlangsamen wird, aber eines ist klar: Die verlorenen Kohlejobs werden nicht wiederkommen. Umweltschützer und externe Beobachter machen die Regierung des Bundesstaats für eine verfehlte Politik verantwortlich. Diese halte noch immer an den alten Seilschaften und an der Kohleindustrie fest, sagt Brown.
Ein Blick auf die am 8. November zusammen mit den US-Präsidentschaftswahlen stattfindenden Wahlen für den neuen Gouverneur von West Virginia gibt ihm Recht. Auf Seiten der Demokraten, die seit 2001 das Amt in ihrer Hand haben, tritt der Kohlemagnat Jim Justice an.
Ein weiteres Beispiel dafür, dass die Politik in West Virginia sich gegen das Unabwendbare sträubt? Noch immer stammen
Auch wenn ein übergreifendes, zukunftsträchtiges Konzept für West Virginia fehlt, gibt es kleine lokale Programme, die größtenteils auf dem Engagement von Menschen und Unternehmen vor Ort beruhen. Wie die kleine Organisation
Die »Appalachen-Mentalität«
Finanzielle Unterstützung kommt von einem nationalen Programm: Präsident Barack Obama hat erkannt, dass den ehemals stolzen und wirtschaftlich prosperierenden Kohleregionen des Landes geholfen werden muss. Mit dem
»Power+« sei zwar wichtig, aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein, berichtet die Leiterin des Hubs, Stephanie Tyree. Mit den Die Leute lieben ihr Land, West Virginia und die Berge.
Geldern könnten nur kleine Leuchtturm-Projekte angestoßen werden. Deshalb setzt das Hub besonders auf das Engagement der Menschen vor Ort. Diese liebten ihr Land, West Virginia und die heimischen Berge, erzählt Tyree, die selbst nach Jahren in New York wieder in ihre Heimat zurückgekehrt ist. Die Bevölkerung wolle etwas verändern, wenn man ihnen nur Chancen aufzeigen und Mut zusprechen würde.
Als Lichtblick gilt für sie der Ort Harpers Ferry im Osten West Virginias, an der Grenze zu Maryland und Virginia. In und um das Dorf mit etwas mehr als 300 Einwohnern blüht der Tourismus, auch aufgrund der Nähe zur amerikanischen Hauptstadt Washington, D.C. Eine bewegte Geschichte im Bürgerkrieg, die idyllische Lage und nicht zuletzt das Engagement der Bürger haben das kleine Nest wieder attraktiv gemacht. Erstmals seit den 1950-Jahren
Was Tyree und andere besonders stolz macht: Ein großes Feuer zerstörte im Juli 2015 etwa ein Drittel des historischen Zentrums und stürzte kleine Geschäftsinhaber in Existenznöte. Die Denkmalschutzbehörde, Bürger, Vereine und die West Virginia University ziehen seitdem an einem Strang. Jeder in der Stadt arbeite mit Hingabe zusammen und helfe einander, berichtet Chad Proudfoot, der als Experte der Universität nach Harpers Ferry abgestellt wurde. »So katastrophal das Feuer war, ist es doch ein Katalysator für wundervolle Dinge«, sagt er, offensichtlich angetan vom Elan seiner Mitstreiter. Es ist diese Anpacker-Mentalität, die Tyree, Brown und Richardson den Menschen in West Virginia bescheinigen – und die wollen sie wecken.
Viele neue Ideen gegen alte Kohle
Unterstützung kommt auch von anderer Seite: Seit 2013 versucht die Union of Concerned Scientists unter Federführung von Jeremy Richardson und regionalen Partnern in West Virginia,
Dass diese Bereiche in den nächsten Jahren nicht allein das wirtschaftliche Ruder West Virginias herumreißen können, ist Richardson klar. Deshalb hat er noch eine weitere Idee: Der Staat könne in verschiedene Sektoren jeweils 1 Million US-Dollar investieren. Das sei zwar keine große Summe, um ausreichend Arbeitsplätze zu generieren, helfe aber bei der Bestimmung des Potenzials einzelner Branchen. Denn die gleichzeitigen Investitionen und die festgesetzte Summe helfe beim Vergleich und könne neue Diversifizierungs-Möglichkeiten für West Virginia aufzeigen. In einem Gedankenspiel kommt Richardson bereits zu möglichen Sektoren: Land- und Forstwirtschaft (Ökolandbau inbegriffen), Holzpellet-Herstellung und Tourismus
Auf einen Punkt geht Richardson allerdings kaum ein: Den Bau und Betrieb von Erneuerbaren-Energien-Anlagen in West Virginia. Denn mit dem Abstieg der Kohle in den USA geht nicht nur der Fracking-Boom einher, sondern auch der rasante Aufstieg von Solar- und Windenergie. Bei den
Glaubt man neuesten Studien, besitzt West Virginia großes Potenzial, die Erneuerbaren Energien in der bergigen Region aus dem Tiefschlaf zu holen. In wind- und sonnenreichen Regionen wie Texas werden Energiepreise von
5 US-Cent je Kilowattstunde gehandelt.
Einer Studie der staatlichen
Vorausgesetzt die Politik schafft die notwendigen regulatorischen Voraussetzungen dafür, wäre der gesteuerte Wandel im Energiesektor weg von Kohle und hin zu Erneuerbaren Energien ein gewaltiger Gewinn für die Menschen, Wirtschaft und Umwelt in West Virginia. Es schlummert nicht nur Kohle unter den Bergen West Virginias. Die Gipfel verbergen ungenutztes Potenzial, das helfen kann, den Fluch der Kohle dauerhaft zu brechen.
Die Recherchereise nach West Virginia wurde Clemens Weiss durch das Transatlantic Climate & Energy Media Fellowship der Heinrich-Böll-Stiftung Nordamerika ermöglicht.
Titelbild: Paul Corbit Brown - copyright