Warum Senioren gefährlicher sind als Terroristen
Zum ersten Mal fürchten die Deutschen nichts mehr als den Terror. Doch selbst Senioren und Kugelschreiber sind gefährlicher als Bombenleger. Es gibt also keinen Grund zur Panik.
Deutschland im 21. Jahrhundert: Es kann jederzeit sein, dass es uns einfach erwischt. Eben noch ein Eis mit der Liebsten essen und – zack! – sind wir tot. Fast überall kann es passieren! Auf offenen Plätzen. Im Straßenverkehr. Selbst beim Blumenladen um die Ecke können wir nie zu 100% sicher sein.
Jedes Jahr sterben Unschuldige, es drohen immer mehr zu werden. Wir müssen die Bundesregierung endlich zum Handeln aufrufen! Die gute Nachricht: Es gibt eine Lösung – und auch wenn sie in die Freiheit Einzelner eingreift, so schafft sie mehr Sicherheit. Darin sind sich alle Fachleute einig. Je schneller wir gegensteuern, desto weniger Tote müssen wir als Gesellschaft verantworten!
Also: Her mit den Eignungstests für Fahrtauglichkeit. Verpflichtend für alle Senioren.
Nicht überzeugt? Wieso, wenn ich fragen darf? Wofür das die Lösung ist?
Von Terror? Das ist der scheinbar naheliegendste Gedanke. Unsere Großeltern-Generation macht uns weniger Angst als die Vorstellung, dass beim nächsten Reiseantritt ein Vermummter »Alluha Akbar!« schreit und uns in den Tod reißt.
Aber in diesem Artikel geht es nicht »nur« um Terror. Und auch die Frage, ob Behörden Senioren regelmäßig auf Fahrtauglichkeit überprüfen sollten, werde ich nicht beantworten. Stattdessen geht es um den Vergleich dieser beiden ungleichen und doch in einem entscheidenden Punkt ähnlichen Gefahren. Und es geht darum, was wir aus diesem Vergleich lernen können.
Moment mal: ähnliche Gefahren? Ist mein Großvater etwa ein Terrorist, nur weil er altersbedingt Brems- und Gaspedal vertauscht? Natürlich nicht.
Doch es gibt eine ganz entscheidende Gemeinsamkeit. Und zwar aus Sicht des potenziell Sterbenden: Es kann einen (fast) überall erwischen! Na klar, die Wahrscheinlichkeit ist nicht besonders hoch,
Die graue Gefahr?
Ich habe diesen Vergleich in meinem Umfeld diskutiert. Vor allem meine älteren Gesprächspartner reagierten emotional auf den Unsinn, Gefahren durch Senioren mit jenen durch Terror zu vergleichen. Doch alle stimmten mir in einem Punkt zu: Aus Sicht des Sterbenden ist es völlig egal, ob jemand vorsätzlich oder fahrlässig umgebracht wird. Höchstens die Dauer des Sterbeprozesses spielt eine Rolle. Darüber hinaus waren sich alle einig: Tot ist tot.
Ganz anders der Befund aus Sicht der Überlebenden: Wird ein Angehöriger von einem altersschwachen Pensionär überfahren, so ist dies eine Tragödie. Aber deswegen fürchten wir uns fortan nicht vor ergrautem Haar. Fällt jedoch ein Angehöriger einem islamistischen Terroranschlag zum Opfer, so ist es wahrscheinlich, dass wir uns künftig unwohl(er) fühlt, wenn sich Dunkelhaarige mit langem Bart nähern.
Gefühlt ist Terror gefährlicher als betagte Verkehrsteilnehmer.
Doch ist dem auch tatsächlich so?
»Nie zuvor im Laufe unserer Umfragen sind die Ängste innerhalb eines Jahres so drastisch in die Höhe geschnellt wie 2016« – Brigitte Romstedt, Leiterin des Infocenters der R+V Versicherung
Statistisch gesehen nicht. Es ist gar nicht so leicht, herauszufinden, wie viele Deutsche pro Jahr sterben, weil ein Autofahrer aus Altersgründen eigentlich nicht mehr fahrtauglich ist. Aber wir können uns der Zahl annähern: Von den knapp 3.500 Verkehrstoten, die es letztes Jahr auf deutschen Straßen zu beklagen gab,
Fürchtest du den Tod durch Terror? Und falls ja: Spielst du auch Lotto?
Etwas anders verhält es sich mit der Sterblichkeit aufgrund von Terrorismus in Deutschland. Die
Betrachten wir den Zeitraum 2000 bis 2015, so ergibt sich Folgendes:
- Insgesamt
- Unter diesen Todesopfern war
Ergebnis: Es war in Deutschland in diesem Jahrtausend bislang etwa 100-mal wahrscheinlicher, plötzlich durch einen Autofahrer der Generation Ü65 überfahren zu werden, als einem terroristischen Anschlag zum Opfer zu fallen.
Besonders ungefährlich war Terror übrigens für all jene, die weder Polizistin noch US-Soldat waren, selbst kein Attentat begangen haben und keine türkischen oder griechischen Wurzeln haben: Für diese zig Millionen Einwohner Deutschlands betrug die Wahrscheinlichkeit, hierzulande wegen Terrors zu sterben, seit der Jahrtausendwende exakt 0%.
Das Jahr 2016 wird in der »Global Terrorism Database« noch nicht abgebildet. Gefühlt war es besonders schlimm. Was sagen die Zahlen?
- 18. Juli:
- 4 Tage später hält ganz Deutschland den Atem an: Ein 18-jähriger Deutsch-Iraner legt die Münchner Innenstadt lahm. Gespannt verfolgen die TV-Zuschauer »Experten«-Kommentare, die vorsorglich schon einmal darüber fabulieren, was denn wäre, wenn dieser Anschlag islamistisch motiviert sei (wovon die meisten auszugehen scheinen).
- 24. Juli:
- Am selben Tag attackiert ein 21-Jähriger in Reutlingen Passanten mit einem Dönermesser. Eine 45-Jährige stirbt, die mit dem Täter zusammen in einem Imbiss arbeitete. Große Aufregung in den Medien: Ein neuer Anschlag? Die Polizei geht von einer Beziehungstat aus –
- Anfang Oktober beginnt das Kapitel »Pleiten, Pech und Pannen der sächsischen Justiz« mit einem missglückten Versuch, den Terrorverdächtigen Syrer al-Bakr festzunehmen.
Die Angst vor dem Terror hilft nur dem IS
Wenn es uns nur um unseren Überlebenstrieb ginge, so müssten wir uns vor der Todesgefahr »Senior am Steuer« also sehr viel mehr fürchten als vor Terror.
Natürlich ist damit zur Einordnung dieser 2 Gefahren nicht alles gesagt. Es gibt wesentliche Unterschiede zwischen Gefahren durch Terroristen und jenen, die von betagten Autofahrern ausgehen:
- Eine Besonderheit des Terrors ist es, dass Großangriffe möglich sind. Am 11. September 2001 starben beispielsweise knapp 3.000 Menschen auf einmal. Und ein Szenario, dass Terroristen zum Beispiel in den Besitz einer Atombombe gelangen, ist nicht völlig ausgeschlossen. Auch wenn Gefahren in solchen Dimensionen unwahrscheinlich sind: Ein großer, aber sehr unwahrscheinlicher Schaden stellt – abhängig von den Fragen, wie groß und wie wahrscheinlich der Schaden ist – zumindest gefühlt ein größeres Risiko dar als viele vergleichsweise »kleine« Schäden, die sehr wahrscheinlich eintreten.
- Ein anderer Unterschied ist psychologischer Natur. Er betrifft die sehr unterschiedliche Reaktion der Überlebenden, also der Angehörigen, der Augenzeugen, aber letztlich der ganzen Gesellschaft.
Szenario 1: Der Senior A überfährt den unschuldigen Heinrich H. aus Merseburg. Angehörige sind verzweifelt, Augenzeugen möglicherweise traumatisiert. Die Lokalpresse berichtet. Und einige in der Gesellschaft fragen sich: Warum unterzieht man Menschen ab einem gewissen Alter nicht einer Fahrtauglichkeitsprüfung?
Szenario 2: Der Attentäter B. wähnt sich im heiligen Krieg und ersticht den aus seiner Sicht Ungläubigen Heinrich H. aus Merseburg. Angehörige sind verzweifelt, Augenzeugen möglicherweise traumatisiert. Die Presse auf der ganzen Welt berichtet wochenlang über die Hintergründe, die Tat erhält einen Wikipedia-Artikel, Politiker debattieren darüber, wie wir unsere Gesellschaft vor der scheinbar großen Gefahr beschützen können.
Der wesentlichste Unterschied zwischen Szenario 1 und 2: Im Falle eines Terroranschlags haben wir einen Mörder, der aufgrund eines politischen Motivs getötet hat. Der Terrorist hasste uns.
Und zu viele hassen zurück.
»2016 ist das Jahr der Ängste« – Professor Manfred G. Schmidt, Politologe an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg
Dieser Gedanke ist ein Türöffner für eine der komplexesten Diskussionen unserer Zeit: Wie lässt sich Terror bekämpfen? Ist die Bedrohung so außerordentlich, dass wir mit ebenfalls außerordentlichen Maßnahmen »zurückschlagen« müssen? Oder besiegt der Terror »den Westen« womöglich am Ende dadurch, dass Demokratien die eigenen Werte über Bord werfen, Menschen foltern, bestimmte Gruppen bewusst strukturell diskriminieren und einen Teufelskreis in Gang setzen?
Ohne Zweifel ist die Terrorgefahr realistisch genug, dass der Staat abwägen muss, welche Mittel angesichts des Risikos geeignet und angemessen sind. Doch dies sollte mit Augenmaß geschehen. Dieser Artikel vergleicht Gefahren, soll diese Fragestellung aber nicht abschließend beantworten, sondern eine bessere Grundlage für Entscheidungen schaffen. Zu schnell wähnen sich zu viele angesichts der scheinbar allgegenwärtigen »Terrorgefahr« in einem Kampf der Kulturen. Mit dieser Sichtweise werden sie unfreiwillig zu Werkzeugen jener, vor denen sie sich fürchten:
Was sind unsere Anti-Terror-Angst-Maßnahmen?
Sollte der Staat also seinen Anti-Terror-Werkzeugkasten einmotten und statt »Schläfern« betagte (Sekunden-)Schläfer aufspüren? Nun, zunächst einmal stehen Anti-Terror-Politik und Verkehrssicherheit in keinem alternativen Verhältnis. Beide Sachverhalte sollten und werden unabhängig voneinander diskutiert. Welche Möglichkeiten gibt es jeweils, um Gefahren abzuwehren?
Zunächst zu betagten Inhabern einer Fahrerlaubnis: Es gibt eigentlich nur 2 vielversprechende Optionen, die Gefahr signifikant zu reduzieren:
- Regelmäßige, verpflichtende Fahrtauglichkeitsprüfungen ab einer gewissen Altersschwelle. Zum Beispiel ab 75 alle 5 Jahre. Wem das zu altersdiskriminierend ist: Wie wäre es mit Fahrtauglichkeitsprüfungen für alle? Schließlich gibt es auch genug junge Menschen, denen aus gutem Grund ihr Führerschein entzogen werden könnte. Damit würden wir, bezogen auf altersschwache Autofahrer, gewiss nicht alle Unfälle verhindern. Aber – das ist geraten – vielleicht die Hälfte. Macht rund 50 Menschenleben im Jahr. Statistisch gesehen könnten wir so binnen weniger Monate mehr Menschenleben retten, als es in Deutschland in diesem Jahrtausend Terroropfer gab.
- Selbstfahrende Autos, die über alle Altersklassen hinweg das Unfallrisiko erheblich reduzieren. Leider sind wir technisch noch nicht so weit. Es wird noch Jahre dauern.
Jahrzehnte dauert allerdings bereits die Debatte, ob altersbedingte Fahrtauglichkeitsprüfungen verpflichtend eingeführt werden sollen. Und es gibt immer mehr ältere Wähler, die man mit verpflichtenden Prüfungen verschrecken würde. Mein Tipp: Ich werde bei einem Cuba Libre in einem selbstfahrenden Google Car von Münster nach Berlin fahren, bevor die Fahrtauglichkeit meines Vaters behördlich überprüft wird.
Halten wir fest: Es gibt aktuell eine Möglichkeit, die von autofahrenden Pensionären (oder sogar von allen Autofahrern) ausgehende Gefahr effektiv zu reduzieren. Und schon bald gibt es 2 Möglichkeiten!
Und wie effektiv ist unsere derzeitige Terror-Abwehr? Da wird es etwas unübersichtlicher. Ein paar Beispiele:
Gewiss ist außerdem: Vor Terror können wir uns nicht zu 100% schützen. »Macht doch nichts«, möchte man sagen, wenn wir allein auf das Sterberisiko schauen. Der Gefahrenvergleich zeigt schließlich, dass es bei der Diskussion um Terrorabwehr nicht darum gehen kann, das Sterblichkeitsrisiko der Einwohner Deutschlands wesentlich zu senken. So ehrlich sollten wir sein, wenn wir über Terror reden.
Die viel größere Gefahr, die von Terroranschlägen ausgeht, ist eine andere: Ein großer, islamistischer Anschlag auf deutschem Boden würde gesellschaftliche Fliehkräfte entfalten, die tatsächlich gefährlich werden könnten. Mit Blick auf die Rhetorik von rechts gegenüber Migranten und Geflüchteten in den USA, Frankreich und auch in Deutschland wird einem angst und bange, was gesellschaftlich infolge erfolgreicher Terroranschläge droht.
Wie bereiten wir uns auf diesen Fall der Fälle vor? Was sind unsere Anti-Terror-Angst-Maßnahmen? Darüber spricht keiner.
Keine Panik!
Zusammengefasst lehrt uns der Gefahrenvergleich dieser unterschiedlichen und doch (für den Sterbenden) ähnlichen Gefahren Folgendes:
- Die statistische Todesgefahr durch Terror ist in diesem Jahrtausend bisher verschwindend gering.
- Die höchste Terrorgefahr im 21. Jahrhundert entfaltete hierzulande bislang ausgerechnet jenes »politische Lager«, das am schrillsten vor islamistischem Terror warnt:
- Das größte Gefahrenpotenzial eines terroristischen Anschlags liegt in der Reaktion der Gesellschaft. Die Politik verfällt in Aktionismus und wirft Grundrechte und rechtsstaatliche Prinzipien bereits heute nur allzu schnell über Bord. Teile der Gesellschaft verlieren sich in fremdenfeindlichen Gedanken.
Übrigens sollten wir auch bezogen auf autofahrende Senioren die Relationen und die Verhältnismäßigkeit beachten, bevor wir uns vorschnell empören:
- Für die meisten Unfälle sind noch immer die jüngsten Autofahrer verantwortlich.
- Für zahlreiche ältere Menschen könnte es außerdem das Ende ihres selbstständigen Lebens bedeuten, entzögen wir ihnen die Fahrerlaubnis –
- Vor allem aber ist der Straßenverkehr heute um ein Vielfaches sicherer als noch vor ein paar Jahrzehnten. Zum Vergleich:
Mit anderen Worten: Keine Panik! Die Zahlen legen nahe: Objektiv besteht kein Grund für Sicherheitsfanatismus. Und zwar weder bezogen auf Senioren noch bezogen auf Terroristen. Wenn es uns »nur« um das Retten möglichst vieler Menschen geht, dann sollten wir lieber Kugelschreiber verbieten:
Wenn wir angesichts der Terror-Gefahren als Gesellschaft nach Lösungen suchen, sollten wir diese Relationen im Hinterkopf behalten. Am besten sind wir beraten, wenn wir sachlich abwägen und uns der Tatsache bewusst sind, was da gesellschaftspsychologisch mit uns passiert.
Wir dürfen nicht überreagieren. Es geht bei der Terrorgefahr nicht um unser Überleben. Es geht um unsere Angst – und das, was mit unserer Gesellschaft passiert, wenn wir uns dieser Angst hingeben. Das ist die wirklich gefährliche Waffe des Terrorismus. Sie sollten wir bekämpfen.
Auflösung der Foto-Rätsel:
Alle auf den Bildern dargestellten Tätigkeiten führen mit einer Wahrscheinlichkeit von 8 Mikromort zum Tod. Ausnahme: eine Bergtour im Himalaya, die mit einer Wahrscheinlichkeit von 12.000 Mikromort tödlich endet.
Ein Mikromort entspricht der Wahrscheinlichkeit von 1 zu 1 Million, dass ein bestimmtes Handeln das Leben beendet. Der Entscheidungstheoretiker Ronald A. Howard erfand diese Einheit im Jahr 1980, um Todesrisiken für den menschlichen Verstand vergleichbarer zu machen.
Zum Vergleich: Die Gefahr, in den vergangenen 16 Jahren einem Terroranschlag in Deutschland zum Opfer zu fallen, betrug im Gesamtzeitraum (also nicht pro Jahr) etwa 1/6 Mikromort (Tod als Attentäter mit einberechnet). Gehen wir von jährlich 300 Toten im Straßenverkehr durch die Generation Ü65 aus, wirst du im Jahr 2017 mit einer Wahrscheinlichkeit von knapp 4 Mikromort einem Senioren im Straßenverkehr zum Opfer fallen.
Richtigstellung:
In einer früheren Version dieses Artikels wurden 5 weitere gestorbene Flüchtlinge zu den Terroropfern gezählt. Diese Terror-Toten werden fälschlicherweise in der Global Terrorism Database aufgeführt: Weder in
Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen und danken unserem Mitglied Claudius für den Hinweis!
Angst kann uns hemmen, aber auch schützen – oder sogar antreiben.
Willst du mehr über diese uralte Emotion wissen? Dieser Text ist Teil unserer Reihe zum Thema Angst!
Titelbild: Karen Beate Nøsterud - CC BY 3.0