Was wir übersehen, wenn von Barrierefreiheit die Rede ist
Constantin Grosch hat genug vom bloßen Gerede über Inklusionsthemen. Der Aktivist will endlich die Barrieren abbauen, die Menschen behindern. Dabei räumt er auch mit einigen Missverständnissen auf.
Als ich mich kurz vor dem Jahreswechsel mit Constantin Grosch am Bielefelder Campus treffe, um über Barrieren zu sprechen, habe ich klare Vorstellungen im Kopf: Wir würden über defekte Aufzüge sprechen, über Treppenstufen, nicht abgesenkte Busse und barrierefreie Hotelzimmer. Constantin Grosch will mir von seiner neuen Initiative berichten, die er gemeinsam mit Raúl Krauthausen ins Leben gerufen hat. Der Name und das Ziel der Initiative lauten gleich: Barrieren brechen.
Die beiden Initiatoren wollen zeigen, wo Menschen durch Barrieren behindert werden, und sie wollen mit der Unterstützung einer großen Community dazu beitragen, dass diese Barrieren verschwinden. »Fangen wir an, die Hürden zu entfernen, die uns bisher daran hindern, genauso an der Gesellschaft teilzuhaben wie Menschen ohne Behinderung. Eine nach der anderen«, heißt es dazu
»Es ist ein Kampf, dass man nicht auf seine Behinderung reduziert wird.« – Constantin Grosch, Inklusionsaktivist
Funktionierende Aufzüge, Rollstuhlrampen, Automaten mit Sprachsteuerung – das alles sind wichtige Bestandteile einer Welt, die Menschen nicht länger behindert. Doch Barrierefreiheit ist mehr, erklärt Constantin Grosch und nennt einige Beispiele: Behördenformulare, die alle Menschen verstehen können. Veranstaltungen mit Dolmetscher:innen für Gebärden und Leichte Sprache. Leitlinien und Schrift für Sehbehinderte. Hotels, die Zimmer für Begleitpersonen bereithalten und ein entsprechendes Buchungssystem anbieten. Ein Arbeitsmarkt, der allen offensteht und Menschen nicht hindert, ein eigenes Einkommen zu verdienen. Barrieren sind eben nicht nur materiell, sondern auch Ergebnis sozialer Handlungen und Strukturen. »Ich glaube, wir benötigen ein anderes Verständnis von Barrierefreiheit«, sagt Constantin Grosch.
Auf vielen Ebenen arbeitet der 28-Jährige aus dem niedersächsischen Hameln daran, dass Barrieren fallen.
Seit Januar 2020 ist er außerdem Fraktionsvorsitzender der SPD im heimischen Kreistag. Daneben studiert er auch noch Soziologie an der Universität Bielefeld – als theoretisches Fundament, um soziale Strukturen und Vorgänge noch besser zu durchschauen, wie er selbst sagt.
Dass ihm der Schwerbehindertenausweis einen Behinderungsgrad von 100 attestiert, hält ihn nicht davon ab, seine Arbeit zu machen. Constantin Grosch sitzt im Rollstuhl, im Alter von 3 Jahren wurde bei ihm Muskeldystrophie diagnostiziert. Die Erkrankung führt zu einem langsamen Abbau der Muskelkraft. »Es ist ein Kampf, dass man nicht darauf reduziert wird«, sagt er. Als Mischung aus Aktivismus und politischer Arbeit beschreibt Constantin Grosch seine Tätigkeiten.
Informieren, benennen und aufklären, all das ist ein wichtiger Teil seiner Arbeit. Doch mit Barrieren brechen will er zeigen, dass das Sprechen über Inklusion und das Bewusstsein für die Bedürfnisse behinderter Menschen nicht ausreichen. Veränderung braucht etwas anderes: Aktion.
Ein Bewusstseinswandel ist nicht genug
Seit Jahrzehnten werde davon gesprochen, dass sich zuerst das Bewusstsein für Menschen mit Behinderung ändern müsse. Erst wenn die Probleme erkannt seien, könnten Verbesserungen erzielt werden, so das traditionelle Verständnis.
Constantin Grosch will die Zielrichtung umdrehen. Zuerst müssen die Barrieren fallen, damit Begegnung möglich wird. Der Mentalitätswandel ist dann das Ergebnis dieser Begegnungen. Was theoretisch klingt, ist tatsächlich gut
Allzu häufig werden behinderte Menschen in eine Sonderrolle gedrängt. Ihr Leben findet oft am Rand der Gesellschaft statt, in speziellen Bildungseinrichtungen, Werkstätten und Heimen. Besondere Angebote werden als »inklusiv« gekennzeichnet. Ein gutes Beispiel dafür sei die »Inklusionsdisco«, sagt Constantin Grosch. »Das ist ein Signal an die Mehrheit: Dieses Angebot ist gezielt für Menschen mit Behinderung.«
Um Inklusion handelt es sich dabei natürlich nicht. Denn eine tatsächlich inklusive Disco hätte das Etikett »inklusiv« gar nicht nötig. Constantin Grosch erklärt mir den Unterschied zwischen »Inklusion« und »Integration«:
Integration bedeutet, dass sich Menschen einer integrationswilligen Mehrheitsgesellschaft anpassen müssen. Inklusion bedeutet: Die Gesellschaft passt sich an die Bedürfnisse der einzelnen Individuen an.
Inklusionsbemühungen nehmen also die Gesellschaft in die Pflicht, während Integration stärker auf die Anpassung seitens der Minderheitengruppen abzielt. Constantin Grosch spricht in diesem Zusammenhang auch vom »Disability Mainstreaming«. Es ist einer von vielen neuen Begriffen, die ich bei unserem Gespräch kennenlerne, das wir am einzigen Tisch in der Unihalle führen, der genug Platz für einen Rollstuhl lässt.
»Disability Mainstreaming« steht – entsprechend der 2006 verabschiedeten UN-Behindertenrechtskonvention – für die Gleichstellung von Behinderten auf allen gesellschaftlichen Ebenen. An behinderte Menschen solle nicht erst »hinterher« oder »extra« gedacht werden, erklärt Constantin Grosch. Stattdessen solle das im »Mainstream« permanent geschehen.
»Wir können genauso etwas geben«
Constantin Grosch und
»Wir können produktiver Teil dieser Gesellschaft sein – wenn man uns lässt.« – Constantin Grosch, Inklusionsaktivist
Schaut man sich die Leitideen von Barrieren brechen näher an, fängt dieser Kampf gerade erst richtig an. »Wir wollen und können nicht mehr auf die vermeintlichen Heilsbringer in den Institutionen warten und organisieren uns ab sofort selbst«, heißt es dort.
Soziale Teilhabe ist ein Ziel, das Constantin Grosch in seiner täglichen Arbeit umtreibt. Ich treffe an diesem Tag jedoch keinen zornigen Aktivisten, der von Wut getrieben ist. Im Gegenteil: Er spricht in einem ruhigen, sachlichen Ton, äußert seine Kritik ausgewogen und mit Bedacht. Wir lachen viel – und das bei einem Thema, dem normalerweise mit größtem Ernst begegnet wird.
Und dann lerne ich noch ein weiteres Wort, das ich mir merken werde.
Hier findest du die beiden anderen aktuellen Dailys:
Titelbild: Lukas Kapfer - copyright