Doch – aber nicht genug, sagt Tanjev Schultz. Ich habe mit dem Journalismus-Professor über Konsequenzen für die Gesellschaft und über die Rolle der Medien gesprochen.
4. November 2016
– 11 Minuten
Andreas Gebert / dpa
4. November 2011: Die Polizei kommt in Eisenach 2 Männern auf die Spur, die am Morgen eine Bank ausgeraubt haben. Bevor die Beamten sie überwältigen können, töten sich beide Männer Wenige Stunden später zerfetzt eine Explosion eine Wohnung in Zwickau. Erst Tage später wird klar, was hier wirklich passiert ist: Die rechtsextreme Terrorzelle »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) ist implodiert. Sie ist verantwortlich für eine Serie fremdenfeindlicher Anschläge. Nach und nach kommen die Ausmaße der Taten ans Licht, aber auch das Versagen der Behörden.
12 parlamentarische haben sich dem Fall seitdem gewidmet. Seit Mai 2013 läuft der NSU-Prozess am Oberlandesgericht München. Für die Süddeutsche Zeitung ist Tanjev Schultz tief in den NSU-Komplex eingedrungen, er ergatterte mit einer Kollegin 2 der begehrten Bisher war er an rund 170 Verhandlungstagen im Gerichtssaal, aktuell fährt er sein Engagement jedoch zurück:
Seit einem Jahr ist Tanjev Schultz Professor am Journalistischen Seminar in Mainz, wo ich unter seinem Vorgänger studiert hatte. Das Seminargebäude, zentral in der Innenstadt gelegen, ist mir also bestens vertraut, als ich Tanjev Schultz zum Interview in seinem Büro treffe.
Plädoyers, Pannen und Peggy
Heute vor 5 Jahren ist der NSU implodiert, als sich Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt töteten und Beate Zschäpe die Zwickauer Wohnung des Trios abfackelte. Seit 3 1/2 Jahren läuft der Prozess am Oberlandesgericht München. Ist ein Ende in Sicht?
Tanjev Schultz:
Wir sind auf den letzten Metern der Beweisaufnahme, dann kommt die Schlussrunde, die wegen der vielen Plädoyers lange dauern wird. Ich habe immer wieder einen Tipp abgegeben, wie lange der Prozess dauern wird, und immer lag ich falsch. Aber diesmal glaube ich wirklich, im Mai 2017 könnte es so weit sein.
Wenn aktuelle Ermittlungen wie Uwe Böhnhardts DNA neben der toten nicht noch ungeahnte Wendungen bringen.
Tanjev Schultz:
Der DNA-Fund war ein Überraschungsmoment, das vieles zu verändern schien. Nun kann es aber sein, dass die Spur eine Trugspur war, dann löst sich alles wieder auf.
Also viel Lärm um nichts?
Tanjev Schultz:
Ich war und bin sehr, sehr skeptisch, ob das eine reale Spur ist.
Die Geschichte weckt zumindest Erinnerungen an das – eine von zahllosen Pannen im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex. Haben die Ermittler hier besonders nachlässig gearbeitet? Oder wäre die Fehlerquote anderswo genauso hoch, wenn man genauso gründlich suchen würde?
Tanjev Schultz:
Die Fehler und die Skandale der Polizei und des Verfassungsschutzes sind im NSU-Komplex erschreckend zahlreich. Und sie werden in der Bevölkerung sehr stark wahrgenommen. Sicherlich ist es, wenn man immer weiter intensiv nachforscht und die Aufklärung akribisch betreibt, auch normal, dass man etliche Ungereimtheiten findet. Das würde man vermutlich auch, wenn man einmal ganz genau in jede Ritze einer Universität oder eines Unternehmens leuchten würde. Nirgends läuft es wie im Lehrbuch. Ich möchte es aber nicht beschönigen: Das Versagen der Sicherheitsbehörden im NSU-Komplex ist gewaltig. Manche ziehen daraus den Schluss, dass alle unter einer Decke stecken würden und sich das nur mit einer Verschwörungstheorie erklären lasse. Dafür sehe ich weniger Anzeichen. Es gab reihenweise Fehler, Versäumnisse und Machenschaften – diese wurden jedoch von ganz unterschiedlichen Leuten begangen, auf unterschiedlichen Ebenen, aus unterschiedlichen Gründen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Trotzdem ist die Häufung alarmierend. Wenn man sich zum Beispiel ansieht, wie schlecht die Spuren im Wohnmobil gesichert wurden. Und dann diese DNA-Geschichten …
… oder wenn Akten geschreddert werden.
Tanjev Schultz:
Genau. Da finden sich Skandale 2., 3., 4. Ordnung – jede Menge Beifang, der nicht unmittelbar etwas aussagt über den NSU, aber etwas aussagt über die Realität der Sicherheitsbehörden. Dazu kommt, dass auch ich nicht die Hand dafür ins Feuer legen würde, dass der ein oder andere V-Mann des Verfassungsschutzes viel mehr wusste, als er zugibt. Es gibt aber wohlgemerkt keinen soliden Beleg dafür, dass staatliche Stellen etwas von den Mordplänen wussten oder diese bewusst gedeckt hätten. Doch genau dies ist ein Eindruck, den viele Menschen mittlerweile haben. Dieser Eindruck mag verständlich sein, geht aber zu weit.
Gilt das auch für den Umstand, dass im Umfeld des NSU-Komplexes mittlerweile vor ihrer Aussage gestorben sind?
Tanjev Schultz:
Da wird ja jeder erst mal stutzig, aber man muss schauen, um wen es da geht. Zum Teil sind diese Zeugen nur über mehrere Ableitungen mit dem NSU-Komplex verbunden. Und wenn man Tausende von Personen hat, die bei den Ermittlungen mal eine Rolle gespielt haben, dann ist die statistische Wahrscheinlichkeit hoch, dass es in dieser großen Gruppe auch Unglücke gibt, Todesfälle und Ähnliches.
Ich habe mir angewöhnt, in diesem Komplex nie etwas völlig auszuschließen – aber man muss unterscheiden zwischen berechtigten Spekulationen und kruden Thesen, mit denen man dem Publikum suggeriert, dahinter könnte ein schlimmer Mordkomplott stecken. Bei einem Suizid ist es leider oft nicht so leicht, Fremdverschulden mit absoluter Gewissheit auszuschließen.
Was lernen die Behörden aus ihren Fehlern?
Erst vor einem Monat hat der Suizid des Terrorverdächtigen in seiner Leipziger Gefängniszelle hohe Wellen geschlagen. Hat unser Sicherheitsapparat nichts aus den Versäumnissen beim NSU gelernt?
Tanjev Schultz:
Der Sicherheitsapparat ist unglaublich träge und unglaublich viele Akteure spielen darin eine Rolle. Wenn man einen anderen Fall nimmt, hat man andere Akteure, die machen wieder neue Fehler. Ich würde mir wünschen, dass kein Polizist oder Verfassungsschützer in diesem Land ausgebildet oder fortgebildet werden darf, ohne dass der NSU-Komplex zum Thema wird und daran erklärt wird, was alles schieflaufen kann. Es ist ein trauriges Lehrstück.
Was hat sich bei den Behörden in den vergangenen 5 Jahren getan?
Tanjev Schultz:
Ein Beispiel: Bis zum Auffliegen des NSU hatten die Behörden keinen Überblick, wer alles untergetaucht ist. Es gab keine vernetzte Weitergabe von Informationen. Das ist mit das Geringste, was wir fordern können, dass die Behörden auch über Ländergrenzen hinweg einen Überblick haben, wer eigentlich »fehlt«. Das wird jetzt regelmäßig erhoben. Es ist schon beeindruckend, dass ständig mehrere Hundert Leute, zum Teil aus dem rechtsradikalen Milieu, untergetaucht sind und Haftbefehle nicht vollstreckt werden können. Die meisten tauchen nach gewisser Zeit wieder auf. Aber manche sind dauerhaft weg und dass man das im Blick haben muss, ist eine Lehre aus dem NSU-Komplex.
Der NSU-Komplex betrifft nicht nur die Behörden, sondern vor allem auch die Gesellschaft. Gerade sieht es nicht so aus, als hätte er uns für die Gefahr von rechts sensibilisiert. Interessiert sich die Gesellschaft genug für die Verhandlung?
Tanjev Schultz:
Zurzeit gibt es eine gewisse Ermüdung, was das Interesse am NSU-Prozess angeht: Es gibt große Bereiche in der Gesellschaft, die das überhaupt nicht interessiert und die sagen, das gehe sie nichts an. Das ist verglichen mit dem, was für ein Hype um den islamistischen Terror existiert, traurig. Ich will nicht die islamistischen Gefahren herunterspielen, die sind ja offensichtlich. Aber es gibt eine Wahrnehmung, als sei nur das die große Gefahr.
Seit Beginn des Jahrtausends hat Terror 20 Menschen in Deutschland getötet – 10 davon der rechtsextreme NSU, bei den beiden islamistisch motivierten Anschlägen im Juli waren die beiden einzigen Toten die Attentäter selbst. Das steht
Tanjev Schultz:
Da gibt es eine verzerrte Wahrnehmung, was Risiken angeht. Das sagt auch etwas aus über die Gesellschaft, das treibt mich schon um.
Womit wir schon fast beim Thema Medien sind. Diese Frage geht weniger an den SZ-Reporter als an den Journalismus-Professor: Wie bewerten Sie die Qualität der Berichterstattung über den NSU-Prozess?
Tanjev Schultz:
Unterm Strich für gut, weil sie nicht den Fehler macht, einfach abzubrechen und Details nicht mehr wiederzugeben. Dass Medien über 3 Jahre am Ball bleiben und Medienunternehmen auch die Ressourcen dafür bereitstellen, ist per se ein gutes Zeichen. Die fehlen dann aber irgendwann an anderer Stelle. Zum Beispiel, um Fälle von Alltagsgewalt zu recherchieren.
Medien im Prozess: Zwischen Qualität und Clickbaiting
Vor Beginn des Verfahrens gab es großen Streit um die Plätze für Journalisten. Wie groß ist der Andrang jetzt, nach 3 1/2 Jahren?
Tanjev Schultz:
Als ich zuletzt vor 2–3 Wochen im Gerichtssaal war, war es nicht sehr voll. Es sind immer Journalisten da, aber man kommt im Moment ganz gut rein und als Medienvertreter braucht man derzeit nicht unbedingt seinen gesicherten Platz. Aber das kann auch schon bald wieder voller werden.
Wird das Verfahren in den Medien zur Beate-Zschäpe-Show?
Tanjev Schultz:
Die »softeren« Nachrichten, die sie betreffen, gehen online weitaus besser als eine komplexe Analyse der Fehler des Sicherheitsapparats. Die Gefahr, dass man zu sehr auf sie personalisiert, ist groß. Die Klickzahlen steigen, wenn man auf sie personalisiert.
Zum Beispiel, wenn sie Ist das Clickbaiting zulasten der eigentlichen Prozessberichterstattung?
Tanjev Schultz:
Manchmal hat man diesen Eindruck. Es ist allerdings ein bisschen wohlfeil, die Personalisierung in diesem Fall grundsätzlich abzuwatschen, denn die Person Beate Zschäpe ist wichtig und interessant, und zu Recht muss man manchmal berichten, wie die tickt. Das ist nicht nur voyeuristisches Interesse und es ist für das Gericht auch für die Urteilsbegründung hoch bedeutsam.
Das trifft aber auch für die anderen Angeklagten zu.
Tanjev Schultz:
Man kann den begründeten Verdacht haben, dass manche Angeklagte noch viel stärker involviert waren, als bisher bekannt ist. Wenn viele Bürger gar nicht wissen, dass es neben Beate Zschäpe noch andere Angeklagte gibt, haben die Medien zu einseitig berichtet. Sie haben so sehr auf Beate Zschäpe geschaut, dass sie nicht vermitteln konnten, dass es noch andere Angeklagte gibt.
Aber Sie sagen ja selbst, dass die Leser vor allem auf Meldungen über Beate Zschäpe anspringen. Sollten Journalisten dieses Interesse nicht nutzen, um die Aufmerksamkeit auf die Hintergründe zu lenken?
Tanjev Schultz:
Ich glaube auch, dass das eine Einhak-Möglichkeit ist. Man kann bei Beate Zschäpe einsteigen und darüber Weiteres erzählen. Bei der Süddeutschen Zeitung haben wir uns bemüht, auch die anderen Personen und Sachverhalte mit in den Blick zu nehmen. Aber man stößt an Grenzen, weil dieser NSU-Fall so komplex ist, dass man selbst beim Schreiben großer Stücke merkt, wie man zu Vereinfachungen gezwungen ist, die einem gar nicht so recht sind. Das ist bedrückend, weil man das durchaus auf andere großen Themen übertragen kann. Dieses Vereinfachen läuft auf schmalem Grat.
Was Journalisten von Juristen unterscheidet
Was heißt das ganz speziell für Gerichtsreporter?
Tanjev Schultz:
Als Journalisten blicken wir anders auf den Fall als die Juristen. Manche Dinge, die juristisch wichtig sind, berichten wir manchmal kleiner als bestimmte, journalistisch interessante Randaspekte, die im Urteil später überhaupt keine Rolle spielen werden.
Also denken Journalisten, wenn sie im Gerichtssaal sitzen, zu viel an die Menschen draußen und Juristen umgekehrt zu wenig?
Tanjev Schultz:
Die Juristen sind oft unzufrieden damit, wie wir vorgehen. Aber wir Journalisten sagen, wir sind nicht dafür da, dem Leser juristisches Kleinklein wiederzugeben, sondern den Prozess verständlich zu übersetzen.
Vielleicht müssen wir uns noch mehr bemühen, eine Art juristische Volkshochschule mitzuliefern.
Als die ARD vor gut 2 Wochen einen fiktiven Gerichtsprozess verfilmte, überschlugen sich die Juristen: habe die Verhandlung aufs Unzulängliche vereinfacht.
Tanjev Schultz:
Ich frage mich öfter, wie weit ich etwas vereinfachen kann und was ich voraussetzen kann. Ich stelle immer wieder fest, dass man recht wenig voraussetzen kann, das beginnt mit der Frage: Was ist ein Pflichtverteidiger? Und wenn man lange über einen Prozess schreibt, denkt man, man hat es doch schon einmal erklärt. Man ist gezwungen, immer wieder neu die Dinge zu erklären.
Bis heute werde ich angesprochen und muss erklären, dass Frau Zschäpe sich die Anwälte nicht wegen der Namen ausgesucht hat. Viele Menschen wissen auch nicht, dass es keine offiziellen Protokolle gibt. Wie ein Gerichtsverfahren abläuft, ist nicht unbedingt bekannt.
Ist es eine besondere Herausforderung, über einen Prozess zu berichten, bevor das Urteil gesprochen worden ist?
Tanjev Schultz:
Da arbeite ich nicht mit einer Schere im Kopf. Was im Prozess besprochen wird, kann Gegenstand der Berichterstattung sein. Natürlich kann ich mich aus ethischen Gründen fragen, wie detailliert ich zum Beispiel berichte, wenn jemand im Prozess weinend zusammenbricht. Aber im Hinblick auf die Unabhängigkeit des Gerichts mache ich mir keine Gedanken. Das ist Sache der Richter.
Und im Hinblick auf die Unschuldsvermutung?
Tanjev Schultz:
Natürlich sind wir in der Pflicht, keine Vorverurteilung vorzunehmen und das bis ins Sprachliche einzuhalten. Aber je länger so ein Prozess geht, desto länger bildet man sich als Journalist auch sein eigenes Urteil und sollte das auch wiedergeben dürfen. Die Beweiserhebung in diesem Fall ist sehr weit fortgeschritten und wenn ein Angeklagter einen Aspekt zugibt – wie die Brandstiftung in Zwickau –, dann muss man bei gebotener Vorsicht das auch schon schreiben können, bevor das Urteil gefällt ist.
Und was lernen wir nun daraus?
Ein Urteil will ich Sie heute schon fällen lassen: Wie hoch dürfen unsere realistischen Erwartungen an den NSU-Prozess sein?
Tanjev Schultz:
Es ist aus meiner Sicht einer der wichtigsten Prozesse der letzten Jahrzehnte. Weil er jenseits von möglichen Schuldsprüchen einen wichtigen und erschütternden Teil der Wirklichkeit in Deutschland offenlegt. Dieser Prozess ist historisch, er wird aber die vielen Fragen, die es im NSU-Komplex gibt, nicht endgültig und zufriedenstellend klären können. Diese Erwartung wäre unrealistisch, schon deshalb, weil ein Strafprozess bestimmte Schranken hat. Er ist nur ein Teil der gesellschaftlichen Aufklärung des Gesamtkomplexes – es gibt Untersuchungsausschüsse, es gibt journalistische Recherchen, es wird weitergehen mit vielen Fragen. Dennoch es ist sehr wichtig, dass es dieses geordnete Strafverfahren gibt, und es wird hoffentlich den Opferfamilien helfen, das Geschehen zu verarbeiten. Wobei diese teilweise schon signalisieren, dass sie sich nicht mehr viel vom Prozess versprechen.
Es ist Aufgabe der Gesellschaft, der Medien und der Behörden, weitere Schlüsse zu ziehen. Was ist das für ein Kapitel der Geschichte, was können wir daraus lernen?
Die Frage würde ich gerne an Sie zurückgeben: Was können wir als Gesellschaft aus dem NSU-Komplex lernen?
Tanjev Schultz:
Mich erschüttert, wie in dem Prozess der Alltagsrassismus zum Vorschein kommt. Es ist vielleicht eine Sonntagsphrase, aber wir müssen viel schneller und deutlicher Zivilcourage zeigen. Wenn das Leben im Untergrund so gestaltet ist, dass es auch an der Oberfläche funktioniert und man sich dort mit Leuten umgeben kann, die vor Hitler-Bildchen Partys feiern, läuft etwas gewaltig schief. Ich würde unserer Gesellschaft wünschen, viel wacher zu sein.
Wenn Zugvögel im Schwarm fliegen, beeinflusst jedes einzelne Tier die Richtung aller – das hat David bei einer Recherche gelernt. Sonst berichtet er eher über Menschen, stellt sich dabei aber eine ganz ähnliche Frage: Welche Rolle spielt der einzelne Wähler und Verbraucher, welchen Einfluss hat jeder von uns auf die Gesellschaft? David recherchiert gern unterwegs, studiert hat er Musikmanagement, Englisch und Journalismus.