Toleranz bedeutet nicht das, was du denkst
Forscher sagen: »Toleranz setzt immer Ablehnung voraus.« Lies hier, wie sie die Gesellschaft trotzdem zusammenhält.
»Rassismus ist ein Gift, der Hass ist ein Gift. Und dieses Gift existiert in unserer Gesellschaft.« So äußerte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem
Fehlt es aber wirklich an Freiheit oder vielmehr an Toleranz? Dieser Begriff umfasst andere Aspekte, als wir uns vielleicht vorstellen. Die Ansichten und Lebensweisen von Mitmenschen anzunehmen oder auch nur zu mögen leistet Toleranz gar nicht, meint Julian Paffrath: »Toleranz setzt immer Ablehnung voraus.« Und doch kann sie uns dabei helfen, die Gesellschaft zusammenzuhalten.
»Toleranz setzt immer Ablehnung voraus« – Julian Paffrath, Psychologe
Wie aber soll das gehen? Julian Paffrath ist Psychologe und schreibt gerade seine Dissertation
Derzeit untersucht Julian Paffrath, wie tolerant die weiße, katholische Mehrheit in Polen ist, und hofft, daraus auch Rückschlüsse für die deutsche Gesellschaft ziehen zu können. Das Modell, mit dem er arbeitet, hat sein Doktorvater Bernd Simon entwickelt, Professor an der Universität Kiel. Für ihn ist Toleranz »durch Respekt gezähmte Ablehnung«. Bernd Simon sieht es als normalen Prozess an, dass wir alle Menschen in Kategorien einordnen. Auch das sogenannte »Othering« oder ein Gefühl von »Wir gegen die« ist für ihn ein üblicher sozialer Prozess, der vermutlich auch evolutionär bedingt ist.
»Unsere stammesgeschichtliche Entwicklung haben wir in Gruppen vollzogen. Draußen in anderen Gruppen waren Konkurrenten oder Feinde«, erklärt er. Wichtig sei nur, dass Angehörige anderer Gruppen dabei dennoch als ebenbürtig anerkannt würden. »Das Ziel der Toleranz ist die Anerkennung als andersartige Gleiche«, sagt er.
Wer respektiert wird, respektiert auch andere
Um zu bestimmen, wie tolerant Menschen sind, wird in einem Fragebogen von Julian Paffrath danach gefragt, ob Muslime, Homosexuelle oder Feministinnen in Polen so leben können sollen, wie sie möchten. Die Proband:innen können auf einer Skala (0–4) ankreuzen, wie sehr sie dieser Aussage zustimmen. Gleichzeitig wird der Respekt erfasst, den die Proband:innen innerhalb ihrer eigenen Gruppe und der gesamten Gesellschaft erfahren. Anschließend bestimmt er, welchen Einfluss diese Faktoren auf die sogenannte »separatistische Identifikation« der weißen, katholischen Bevölkerung in Polen haben, die dort die Mehrheit stellt.
Die sich separatistisch identifizierenden Katholik:innen glauben, dass die als »anders« empfundenen Gruppen nicht zum »echten« Polen gehören. Dies geht einher mit einem Gefühl der Überlegenheit gegenüber anderen und dem Streben nach sogenannter »Hegemonie«. Hegemonie ist der Versuch, die eigenen Meinungen, Normen und Werte zum verpflichtenden Standard für alle Bürger zu erklären. Dabei ist das Streben nach Hegemonie das Gegenteil von Toleranz. Julian Paffrath kann mit seinen Studien zeigen, dass es die separatistische Identifikation verringert, wenn man selbst Respekt von der Gesellschaft erfährt.
Separatistische Tendenzen lassen sich derzeit in vielen Gesellschaften weltweit beobachten. In Polen mag die Besonderheit darin liegen, dass die weiße, katholische Bevölkerung die Mehrheit stellt. In Deutschland machen die Anhänger:innen aller christlichen Konfessionen gerade mal einen
Derzeit wird häufig über den Rechtsruck debattiert. Straftaten mit politischem Hintergrund sind deutlich häufiger als noch vor 10 Jahren. Es gibt rassistische Anschläge mit Todesopfern. Ist der Rechtsruck ein Zeichen dafür, dass unsere Gesellschaft immer intoleranter wird?
Für Bernd Simon ist der Rechtsruck in der Gesellschaft klar beobachtbar. Dabei müsse jedoch auch unterschieden werden: »Wir müssen uns fragen, ob das nur Ablehnung ist oder ob auch Respekt verweigert wird.« Das sei wichtig, um Menschen nicht in die Arme derjenigen zu treiben, die Respekt verweigern – mit potenziell gewaltsamen Folgen.
Wie aber könnte unsere Gesellschaft wieder toleranter werden? Neben der Forschung von Julian Paffrath haben auch andere Studien der Kieler Arbeitsgruppe gezeigt, dass der Respekt wirkt, der uns selbst entgegengebracht wird. Wenn wir Respekt erfahren, sind wir nicht nur eher bereit, auch denjenigen Respekt zu zollen, von denen wir ihn bekommen. Wir weiten diesen Respekt auch auf andere Gruppen aus.
Laut Bernd Simon müssten wir wieder mehr miteinander ins Gespräch kommen. Ernsthafte, auch kontroverse Diskussionen führen. Und das nicht nur im Netz. »Soziale Medien machen mittelbar intoleranter, weil sie die Zähmungskomponente vernachlässigen«, meint er. Statt verkürzt im Netz zu kommunizieren sollten wir wieder lernen, zu verstehen, warum manche Gruppen eine andere Meinung haben, und deren Beweggründe nachvollziehen. Hier sieht Bernd Simon gerade auch Schulen und andere Bildungseinrichtungen in der Pflicht: »Wir brauchen eine Ablehnungskultur. Aber eine durch Respekt gezähmte.«
Hier findest du die beiden anderen aktuellen Dailys:
Mit Illustrationen von Doğu Kaya für Perspective Daily