Die Mauer muss weg – diesmal richtig!
Ich habe mich geirrt: Die Mauer steht noch. Nicht mehr in Berlin, aber in vielen Köpfen. Ein Wessi-Essay.
Als die Mauer fiel, war ich 370 Tage alt. Während ich noch unbeholfen nach Spielsachen mit der Prägung »Made in West Germany« griff, war das Wörtchen »West« überflüssig geworden. Die Bundesrepublik hatte sich um gut 108.000 Quadratkilometer und 16 Millionen Bürger vergrößert. Schwarz-Rot-Gold wehte nur noch ohne Hammer und Zirkel, die westdeutsche D-Mark klimperte auch in Ost-Portemonnaies. Einigkeit und Recht und Freiheit übertönte Auferstanden aus Ruinen. Trabi und
Das weiß ich zumindest aus Erzählungen, jedenfalls setzen meine frühesten Erinnerungen erst Jahre nach dem Einigungsvertrag ein. Meine erste eigene Erfahrung mit der Wiedervereinigung machte ich, als in meinem westdeutschen Wohnzimmer das
Mauerfall in der Mittelstufe: Kurz vor den Sommerferien
Dann hatte ich ein paar mauerfreie Jahre, bis zum Gymnasium, wo ein paar Wochen Geschichtsunterricht vor den Sommerferien für 40 Jahre DDR reichen mussten. Die Zeit reichte für die Grundlagen:
Sommerferien hin oder her – dass die Wiedervereinigung, dem Unterrichtsfach entsprechend, Geschichte sei, blieb über Jahre bei mir hängen. Dass ich das lange glaubte, macht es jedoch nicht weniger falsch.
Heute weiß ich: Wir sind in einem frühen Stadium der Wiedervereinigung, auch noch 27 Jahre nach dem Fall der Mauer.
Die ostdeutsche »Out-Group«
Ohne es zu merken, tragen viele von uns Wessis beim Thema Wiedervereinigung die Nase so hoch, als müssten sie immer noch über 3,6 Meter Stahlbeton schauen, um zu sehen, was »die da drüben« schon wieder treiben:
Packen sich Wessis (wie ich auch) doch lieber mal an die eigene Nase und bringen sie zurück auf normale Höhe. Jetzt folgt keine Absolution für die gerade angesprochene schlampige Justiz, Extremismus oder Gewalt – das alles kann man im Osten, aber übrigens auch im Westen kritisieren. Stattdessen folgt eine Erkenntnis, die im Westen, vor allem bei den »Eliten«, noch nicht allzu weit verbreitet ist.
Das große Versäumnis der Wiedervereinigung hat mit Identität zu tun: Die große BRD hat die kleine DDR mit Haut und Haaren geschluckt. Das bringt Verdauungsbeschwerden mit sich, weil damit auch sämtliche – das Sandmännchen und das Merchandising-taugliche Ost-Ampelmännchen vielleicht mal ausgenommen – Charakteristika der DDR von der Bildfläche verschwanden. Und es zementiert Verhältnisse, die in der Soziologie mit dem Wortpaar
Wenn für die einen nichts und für die anderen alles anders wird, fühlen sich letztere nicht zugehörig, also in der »Out-Group«. Als Kind der »In-Group« habe ich lange nicht im Traum daran gedacht, dass es auch eine »Out-Group« geben könnte. Und in meiner Wahrnehmung fehlt diese Erkenntnis vielen Wessis bis heute.
Die Herausforderung ist nun, die »Out-Group« ihrer Zugehörigkeit zu versichern und eine 81 Millionen Menschen große »In-Group« zu schaffen. Den naheliegendsten Trick für innenpolitische Stärkung hat zum Beispiel Präsident Wladimir Putin im wirtschaftlich sanktionierten Russland angewandt: außenpolitische Abgrenzung. Kommt aus meiner Sicht für Deutschland unter keinen Umständen in Betracht – aus historischen Gründen, aber vor allem auch aus politischen und weltanschaulichen. Wenn in unseren deutschen Köpfen nach 27 Jahren noch eine Mauer oder auch nur ein Mäuerchen steht, ist das eine rein deutsche Herausforderung.
Meanwhile in Bonn: Kohl statt Beethoven
Wie würde Deutschland heute aussehen, wenn beide Regierungen nach dem Mauerfall eine Wiedervereinigung erreicht hätten statt einer Wiedereingliederung Ostdeutschlands? Einerseits ist die Frage müßig, andererseits finde ich die Idee faszinierend, aus 2 Systemen die jeweils besten Teilaspekte zu übernehmen. (Welche, ist eine Diskussion, die ich an dieser Stelle nicht aufmachen will. Auf keinen Fall jedoch den
Aber auch unabhängig von Systemfragen hätten die Regierenden eine gesamtdeutsche Identität fördern können, anstatt die westdeutsche gen Osten auszuweiten. (Politische Identität hat im 21. Jahrhundert häufig mehrere Ebenen, wie eine Zwiebelschale: Je nach Situation kann ich mich als Europäer, Deutscher, Wessi, Saarländer/Rheinländer/Franke fühlen. Die vorletzte Ebene bräuchten wir jedoch eigentlich nicht mehr.) Das wiedervereinigte Volk hätte etwa über staats- und identitätsstiftende Merkmale wie Nationalhymne oder Flagge neu abstimmen können – sicher hätten wir uns längst statt an Haydn oder Eisler auch an Beethovens
Stattdessen war die erste demokratische Aktion der neuen Bürger, dass sie 2 Monate nach der formellen Einheit den Bundestag im fernen Bonn wählen sollten. Helmut Kohl blieb Kanzler und das Alles-ist-möglich-Momentum der Wiedervereinigung wurde abgewetzt von der Tagespolitik der neuen, alten Bundesrepublik.
Zeit für die »Wende 2.0«
Das heißt jedoch nicht, dass der Zug für alle Zeiten abgefahren ist: Wir brauchen aber ein neues gesamtdeutsches Projekt, das in den Schatten stellt, auf welcher Seite der Mauer wir aufgewachsen sind. Zahlreiche Geflüchtete unterzubringen und die, die bleiben wollen, zu integrieren, wäre so ein Projekt gewesen – das Thema ist uns jedoch emotional zu sehr über den Kopf gewachsen, als dass es für derartige Nebeneffekte noch taugen würde. Für die Wieder-Wiedervereinigung brauchen wir ein frisches Projekt.
Für diese »Wende 2.0« gibt es zahllose Möglichkeiten – auf unserer politischen Agenda steht ein Thema, das besonders geeignet ist. Nicht nur, weil es das Wort »Wende« bereits im Namen trägt: die Energiewende. Sie ist aus mehreren Gründen geeignet: Das Thema betrifft uns alle, ist akut und dringend, läuft im Land bisher gar nicht so schlecht und es gibt einen weitgehenden Meinungskonsens in der Bevölkerung – Aufsichtsräte der Energieversorger und Alu-Hutträger einmal außen vor. Die Energiewende ist mit den sprichwörtlich deutschen Tugenden Zuverlässigkeit und Fleiß und Ingenieurs-Knowhow gut umzusetzen. Und mit unserer wirtschaftlichen Situation sowieso.
Dazu gehört, die jeweiligen Standortvorteile zu nutzen. In Brandenburg und an der Küste stehen schon heute riesige Windparks (nicht immer ohne Gegenwind), in Bayern sind es Wasserkraftwerke, in NRW sind es gut geschulte Maschinenbauer und Infrastruktur, in Berlin findige Start-Ups für neue Geschäftsmodelle, in Baden-Württemberg die großen Autohersteller für die Mobilitätswende … Die Stromtrassen
Wenn Deutschland zum internationalen Zugpferd der Energiewende würde, wären Menschen von Konstanz bis Kap Arkona stolz. Das wäre kein Nationalstolz in einem nationalistischen, überheblichen und arroganten Sinne, sondern das zusammenschweißende Gefühl »Wir als gesamtdeutsches Volk haben das geschafft«. Und zwar nicht zuletzt deshalb, weil unzählige Bürger Solaranlagen auf ihr Dach gehievt haben, als nächstes Auto ein Elektromobil gekauft haben oder gelernt haben, wie man im Alltag Energie spart. Im internationalen Vergleich ist egal, ob das Kohlekraftwerk bei Göttelborn oder bei Görlitz abgeschaltet wird, und das wird auch im Land nicht unterschiedlich bewertet. Je mehr Bürger, Lokalpolitiker, Initiativen und Unternehmen zwischen Aachen und Frankfurt an der Oder sich für ein gemeinsames Ziel engagieren, desto weniger bleibt von der Mauer in den Köpfen übrig.
So ein Engagement aus der breiten Bevölkerung lässt sich beliebig auch für andere große gesellschaftliche Aufgaben durchspielen – wenn eine breite Mehrheit hinter einem gesteckten Ziel steht, stärkt das den kollektiven Zusammenhalt. »Wir sind das Volk«, tatsächlich gerufen von weiten Teilen des Volkes, hat auch schon 1989 die Wende gebracht.
Trotzdem ist 27 Jahre danach noch nicht entschieden, ob der alte Honecker am Ende Recht behält mit seinem Satz: »Die Mauer [in den Köpfen] wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen.« Wollen wir ihm diesen Triumph gönnen?
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