Die Mauer muss weg – diesmal richtig!
Ich habe mich geirrt: Die Mauer steht noch. Nicht mehr in Berlin, aber in vielen Köpfen. Ein Wessi-Essay.
Als die Mauer fiel, war ich 370 Tage alt. Während ich noch unbeholfen nach Spielsachen mit der Prägung »Made in West Germany« griff, war das Wörtchen »West« überflüssig geworden. Die Bundesrepublik hatte sich um gut 108.000 Quadratkilometer und 16 Millionen Bürger vergrößert. Schwarz-Rot-Gold wehte nur noch ohne Hammer und Zirkel, die westdeutsche D-Mark klimperte auch in Ost-Portemonnaies. Einigkeit und Recht und Freiheit übertönte Auferstanden aus Ruinen. Trabi und Die WM 1990 in den Dossiers der FIFA Fußball-Weltmeister.
bekamen DIN-Nummernschilder. Und Andi Brehme schoss in Rom gefühlt ganz Deutschland zumDas weiß ich zumindest aus Erzählungen, jedenfalls setzen meine frühesten Erinnerungen erst Jahre nach dem Einigungsvertrag ein. Meine erste eigene Erfahrung mit der Wiedervereinigung machte ich, als in meinem westdeutschen Wohnzimmer das Die F.A.Z. über die Rivalität der Sandmännchen Ost- und Westdeutschlands Ost-Sandmännchen in der Röhre flimmerte.
Mauerfall in der Mittelstufe: Kurz vor den Sommerferien
Dann hatte ich ein paar mauerfreie Jahre, bis zum Gymnasium, wo ein paar Wochen Geschichtsunterricht vor den Sommerferien für 40 Jahre DDR reichen mussten. Die Zeit reichte für die Grundlagen:
und den Satz Honeckers vom Januar 1989, die Mauer werde auch in 50 beziehungsweise 100 Jahren noch stehen. Als die Zeugnisnoten längst feststanden und unsere Aufmerksamkeit jenseits des Klassenzimmers lag, folgte (aus Wessi-Sicht) die Pointe: Montagsdemos, Mauerfall, Hasselhoff, Wiedervereinigung. Einigkeit und Recht und Freiheit. War wohl nix mit 50 und 100 Jahren, Erich.
Sommerferien hin oder her – dass die Wiedervereinigung, dem Unterrichtsfach entsprechend, Geschichte sei, blieb über Jahre bei mir hängen. Dass ich das lange glaubte, macht es jedoch nicht weniger falsch.
Heute weiß ich: Wir sind in einem frühen Stadium der Wiedervereinigung, auch noch 27 Jahre nach dem Fall der Mauer. Ost-West-Umfrage bei ZEIT Online Einer von 3 Westdeutschen fühlte sich 2015 benachteiligt, im Osten ist der Anteil doppelt so hoch. In den Köpfen vieler Deutschen kleben noch Wessi- und Ossi-Etiketten. Dort steht die Mauer und solange wir das nicht anerkennen, wird sie auch noch in 23 und auch noch in 73 Jahren bestehen. Honecker hätte Recht behalten.
Die ostdeutsche »Out-Group«
Ohne es zu merken, tragen viele von uns Wessis beim Thema Wiedervereinigung die Nase so hoch, als müssten sie immer noch über 3,6 Meter Stahlbeton schauen, um zu sehen, was »die da drüben« schon wieder treiben: Zum Jahrestag der Enttarnung habe ich mit Journalismus-Professor Tanjev Schultz über den NSU gesprochen NSU-Akten schreddern und nicht über die Suizidgefahr bei einem Selbstmordattentäter nachdenken. War ja klar, dass das im Osten passiert ist. Pegida und die auf der Straße und die Amtliches Endergebnis der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern 2016 AfD zweitstärkste Kraft im Landtag? Logisch, die Ossis. Und was »da drüben« in (…) passiert, ist ja auch mal wieder typisch. Solches Ossi-Bashing kommt auf jeder westdeutschen Party übrigens besonders gut an, wenn man dabei den obligatorischen sächsy Dialekt nachmacht.
Packen sich Wessis (wie ich auch) doch lieber mal an die eigene Nase und bringen sie zurück auf normale Höhe. Jetzt folgt keine Absolution für die gerade angesprochene schlampige Justiz, Extremismus oder Gewalt – das alles kann man im Osten, aber übrigens auch im Westen kritisieren. Stattdessen folgt eine Erkenntnis, die im Westen, vor allem bei den »Eliten«, noch nicht allzu weit verbreitet ist.
Das große Versäumnis der Wiedervereinigung hat mit Identität zu tun: Die große BRD hat die kleine DDR mit Haut und Haaren geschluckt. Das bringt Verdauungsbeschwerden mit sich, weil damit auch sämtliche – das Sandmännchen und das Merchandising-taugliche Ost-Ampelmännchen vielleicht mal ausgenommen – Charakteristika der DDR von der Bildfläche verschwanden. Und es zementiert Verhältnisse, die in der Soziologie mit dem Wortpaar Mehr zur »In-« bzw. »Out-Group« schreibt Han Langeslag im Text über Autoritarismus »In-« bzw. »Out-Group« bezeichnet werden. Dabei geht es um die Wahrnehmung des Einzelnen gegenüber einer (geschlossenen) Gruppe: Ist man Mitglied der Gruppe oder außen vor? Steht man vor oder hinter der Mauer?
Wenn für die einen nichts und für die anderen alles anders wird, fühlen sich letztere nicht zugehörig, also in der »Out-Group«. Als Kind der »In-Group« habe ich lange nicht im Traum daran gedacht, dass es auch eine »Out-Group« geben könnte. Und in meiner Wahrnehmung fehlt diese Erkenntnis vielen Wessis bis heute.
Die Herausforderung ist nun, die »Out-Group« ihrer Zugehörigkeit zu versichern und eine 81 Millionen Menschen große »In-Group« zu schaffen. Den nächstliegenden Trick für innenpolitische Stärkung hat zum Beispiel Präsident Wladimir Putin im wirtschaftlich sanktionierten Russland angewandt: außenpolitische Abgrenzung. Kommt aus meiner Sicht für Deutschland unter keinen Umständen in Betracht – aus historischen Gründen, aber vor allem auch aus politischen und weltanschaulichen. Wenn in unseren deutschen Köpfen nach 27 Jahren noch eine Mauer oder auch nur ein Mäuerchen steht, ist das eine rein deutsche Herausforderung.
Meanwhile in Bonn: Kohl statt Beethoven
Wie würde Deutschland heute aussehen, wenn beide Regierungen nach dem Mauerfall eine Wiedervereinigung erreicht hätten statt einer Wiedereingliederung Ostdeutschlands? Einerseits ist die Frage müßig, andererseits finde ich die Idee faszinierend, aus 2 Systemen die jeweils besten Teilaspekte zu übernehmen. (Welche, ist eine Diskussion, die ich an dieser Stelle nicht aufmachen will. Auf keinen Fall jedoch den Wie man sich der Überwachung vielleicht entziehen kann, überlegt Künstler Adam Harvey im Interview mit Nikola Schmidt Überwachungsstaat, Herr de Maizière, bitte.)
Aber auch unabhängig von Systemfragen hätten die Regierenden eine gesamtdeutsche Identität fördern können, anstatt die westdeutsche gen Osten auszuweiten. (Politische Identität hat im 21. Jahrhundert häufig mehrere Ebenen, wie eine Zwiebelschale: Je nach Situation kann ich mich als Europäer, Deutscher, Wessi, Saarländer/Rheinländer/Franke fühlen. Die vorletzte Ebene bräuchten wir jedoch eigentlich nicht mehr.) Das wiedervereinigte Volk hätte etwa über staats- und identitätsstiftende Merkmale wie Nationalhymne oder Flagge neu abstimmen können – sicher hätten wir uns längst statt an Haydn oder Eisler auch an Beethovens
gewöhnt. Spätestens, wenn Thomas Müller und Toni Kroos hochkonzentriert und Arm in Arm singen: »Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.«Stattdessen war die erste demokratische Aktion der neuen Bürger, dass sie 2 Monate nach der formellen Einheit den Bundestag im fernen Bonn wählen sollten. Helmut Kohl blieb Kanzler und das Alles-ist-möglich-Momentum der Wiedervereinigung wurde abgewetzt von der Tagespolitik der neuen, alten Bundesrepublik.
Zeit für die »Wende 2.0«
Das heißt jedoch nicht, dass der Zug für alle Zeiten abgefahren ist: Wir brauchen aber ein neues gesamtdeutsches Projekt, das in den Schatten stellt, auf welcher Seite der Mauer wir aufgewachsen sind. Zahlreiche Geflüchtete unterzubringen und die, die bleiben wollen, zu integrieren, wäre so ein Projekt gewesen – das Thema ist uns jedoch emotional zu sehr über den Kopf gewachsen, als dass es für derartige Nebeneffekte noch taugen würde. Für die Wieder-Wiedervereinigung brauchen wir ein frisches Projekt.
Für diese »Wende 2.0« gibt es zahllose Möglichkeiten – auf unserer politischen Agenda steht ein Thema, das besonders geeignet ist. Nicht nur, weil es das Wort »Wende« bereits im Namen trägt: die Energiewende. Sie ist aus mehreren Gründen geeignet: Das Thema betrifft uns alle, ist akut und dringend, läuft im Land bisher gar nicht so schlecht und es gibt einen weitgehenden Meinungskonsens in der Bevölkerung – Aufsichtsräte der Energieversorger und Alu-Hutträger einmal außen vor. Die Energiewende ist mit den sprichwörtlich deutschen Tugenden Zuverlässigkeit und Fleiß und Ingenieurs-Knowhow gut umzusetzen. Und mit unserer wirtschaftlichen Situation sowieso.
Dazu gehört, die jeweiligen Standortvorteile zu nutzen. In Brandenburg und an der Küste stehen schon heute riesige Windparks (nicht immer ohne Gegenwind), in Bayern sind es Wasserkraftwerke, in NRW sind es gut geschulte Maschinenbauer und Infrastruktur, in Berlin findige Start-Ups für neue Geschäftsmodelle, in Baden-Württemberg die großen Autohersteller für die Mobilitätswende … Die Stromtrassen
verlaufen in ein paar Jahren längs durch die Republik – Südostlink als gemeinsames Projekt alter und neuer Bundesländer. Wichtiger als solche Großvorhaben sind jedoch die vielen kleinen, die auf lokaler Ebene stattfinden. In Deutschland haben bereits rund 1 Million Privathaushalte mit staatlicher Förderung Solarzellen aufgebaut. Es ist an der Bundesregierung, solche Förderungen aufrechtzuerhalten und klug auszubauen. Nachhaltige Energie muss sich gegenüber fossilen Trägern lohnen. Dann werden auch die deutschen Ziele des Klimaabkommens von Paris greifbar: Deutschland und die EU haben zwar ratifiziert, die innerhalb der Regierung umkämpften Maßnahmen sollen ausgerechnet an diesem 9. November durchs Kabinett.Wenn Deutschland zum internationalen Zugpferd der Energiewende würde, wären Menschen von Konstanz bis Kap Arkona stolz. Das wäre kein Nationalstolz in einem nationalistischen, überheblichen und arroganten Sinne, sondern das zusammenschweißende Gefühl »Wir als gesamtdeutsches Volk haben das geschafft«. Und zwar nicht zuletzt deshalb, weil unzählige Bürger Solaranlagen auf ihr Dach gehievt haben, als nächstes Auto ein Elektromobil gekauft haben oder gelernt haben, wie man im Alltag Energie spart. Im internationalen Vergleich ist egal, ob das Kohlekraftwerk bei Göttelborn oder bei Görlitz abgeschaltet wird, und das wird auch im Land nicht unterschiedlich bewertet. Je mehr Bürger, Lokalpolitiker, Initiativen und Unternehmen zwischen Aachen und Frankfurt an der Oder sich für ein gemeinsames Ziel engagieren, desto weniger bleibt von der Mauer in den Köpfen übrig.
So ein Engagement aus der breiten Bevölkerung lässt sich beliebig auch für andere große gesellschaftliche Aufgaben durchspielen – wenn eine breite Mehrheit hinter einem gesteckten Ziel steht, stärkt das den kollektiven Zusammenhalt. »Wir sind das Volk«, tatsächlich gerufen von weiten Teilen des Volkes, hat auch schon 1989 die Wende gebracht.
Trotzdem ist 27 Jahre danach noch nicht entschieden, ob der alte Honecker am Ende Recht behält mit seinem Satz: »Die Mauer [in den Köpfen] wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen.« Wollen wir ihm diesen Triumph gönnen?
Titelbild: dpa - copyright
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