Dieser Arzt verschreibt ein einfaches Mittel: Geld
Armut und ihre Folgen kosten Jahr für Jahr Zehntausende Menschen das Leben – auch hier in Deutschland. Dabei hat ein kanadischer Arzt längst gezeigt, dass es anders gehen kann.
Dass unsere Gesundheit ein hohes Gut ist, wird besonders den fitten Menschen erst dann klar, wenn sie akut bedroht ist. Covid-19 rückt den Stellenwert der eigenen Unversehrtheit aktuell in das Bewusstsein von jedem von uns. Doch klar ist auch: Die Pandemie wird vorbeigehen, wenn auch unklar ist, wann genau.
Was hingegen nicht vorbeigeht, ist eine Gesundheitsbedrohung, die für Tausende Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Übergewicht und psychische Probleme verantwortlich ist – Tag für Tag.
Die Rede ist von Armut.
Stark vereinfacht gesagt, ist es der mit Armut einhergehende Mangel, der sie zu einem der größten Killer weltweit macht. Von etwas nicht genug zu haben – sei es Essen, Kleidung, Zeit zur Erholung oder ganz allgemein Geld –, versetzt von Armut betroffene Menschen in einen Stresszustand, der auf Dauer toxisch wirkt.
Doch der »klassische« Arztkoffer enthält nur Instrumente gegen die Symptome, die damit einhergehen: Depressionen aufgrund von Langzeitarbeitslosigkeit? Ein Antidepressivum könnte helfen. Übergewicht aufgrund von mangelnder Abwechslung im Speiseplan? Mehr als ein guter Rat für ausgewogene Ernährung und mehr Bewegung ist nicht drin.
Doch ein kanadischer Arzt weigert sich, das zu akzeptieren, und begann damit, eine wirksame Medizin zu verschreiben: Geld.
Alles zum Zusammenhang zwischen Gesundheit und Geld erfährst du in diesem Text:
Armut tötet – dabei ist sie einfach zu bekämpfen
Gary Bloch arbeitet als Allgemeinmediziner am St.-Michaels-Krankenhaus in Toronto. Er untersucht die gesellschaftlichen Komponenten von Krankheiten und weiß um die enormen Gesundheitsrisiken, die mit Mangel und Armut einhergehen. Seit Jahren kämpft er für ein medizinisches und gesamtgesellschaftliches Umdenken: Armut solle nicht länger primär als soziales oder ethisches Problem gesehen werden, sondern als ein gesundheitliches Problem, das behandelt werden kann.
Da es in Kanada (leider) ebenso wenig wie bei uns möglich ist, Patienten einfach Geld zu verschreiben, nutzte Bloch für seine »Behandlung« einen Trick: Er verwendete
Und die Maßnahme war ein großer Erfolg: Der Zustand vieler seiner Patienten verbesserte sich so sehr, dass andere Mediziner:innen bald mitmachten. Bald begannen sie damit, in einer »Klinik gegen Hunger« auf einer Wiese vor dem Regierungsgebäude in Toronto öffentlichkeitswirksam ihr neues Wundermittel zu verschreiben: Geld.
In seinem »TED«-Talk aus dem Jahr 2013 berichtet Gary Bloch von den Ereignissen aus diesem Jahr und umreißt sein gesamtes Konzept:
Natürlich konnten Bloch und seine Unterstützer:innen nicht dauerhaft auf den Trick mit dem Formular zurückgreifen. Die kanadische Regierung änderte nach kurzer Zeit das Gesetz, das das Geld auf Rezept per Formular ermöglicht hatte.
Doch Bloch und seine Mitstreiter: innen ließen sich dadurch nicht entmutigen:
- Fragen und zuhören: Um die gesundheitlichen Umstände von Patient:innen einschätzen zu können, ist die Frage nach der finanziellen Situation unerlässlich. Dabei dürfen sich die Mediziner:innen laut Bloch nicht von Äußerlichkeiten täuschen lassen, da sich an Kleidung weder Wohlstand noch Mangel sicher ablesen lassen.
- Einkommen verschreiben: Wie Mediziner:innen im nächsten Schritt Geld »verschreiben« können, ist von Land zu Land unterschiedlich schwierig. Schlupflöcher wie in Kanada gibt es kaum. In den meisten Ländern kann eine Unterstützung der Patient:innen, zum Beispiel durch Hinweise auf Sozialleistungen, Ansprechpartner:innen und Hilfsangebote, aber schon eine Menge bewirken. Schließlich mangelt es den Betroffenen oft auch einfach an Informationen über ihre Situation. Voraussetzung: Ärzte müssen sich selbst mit den Anlaufstellen vertraut machen.
- Teams zur Armutsbekämpfung ausbauen: Allein stehen Hausärzt:innen auf verlorenem Posten. Deshalb hilft es, ein Netzwerk aus Allgemeinmediziner:innen, Sozialarbeiter:innen und regionalen Ansprechpartner:innen aufzubauen, die über Zuständigkeitsgrenzen hinweg helfen und Armut so effektiv bekämpfen können.
- Wandel einfordern: Es ist weder der primäre Aufgabenbereich von Mediziner:innen, die Symptome von Armut zu bekämpfen, noch Armut an sich zu besiegen – auch wenn es in unserem heutigen System notwendig erscheint. Für echten Wandel können jedoch nur politische Entscheidungsträger:innen sorgen. Daher plädiert Bloch dafür, beständig Öffentlichkeit zu schaffen, mit Medienvertreter:innen zu sprechen und Kontakt zu lokalen Politiker:innen zu suchen.
Und dabei kann am Ende jeder von uns helfen: Das alltägliche, enorme Gesundheitsrisiko Armut nicht länger als etwas Normales akzeptieren.
Hier findest du die beiden anderen aktuellen Dailys:
Mit Illustrationen von Mirella Kahnert für Perspective Daily