Hallo, wir sind die Menschen aus der »Risikogruppe«
Wie geht es den Menschen, für die das Virus auf verschiedene Arten besonders gefährlich ist? Sie erzählen und wir hören zu.
Von ihnen ist in letzter Zeit oft die Rede: Menschen aus der Risikogruppe. Vor allem hört man immer wieder unpersönlich von »Älteren und Menschen mit Vorerkrankungen«, für die Covid-19 besonders gefährlich ist. Doch hinter dieser nüchternen Kategorie verbergen sich Menschen, die genau wie alle anderen Gefühle, Träume, Wünsche und gerade jetzt große Ängste haben. 6 von ihnen lassen uns hier an ihren Gedanken teilhaben, die alle Sorgloseren bestärken sollten, angemessene Schutzmaßnahmen zu befolgen.
»Durchhalten! Sonst hätte sich der Kampf von Menschen wie mir nicht gelohnt«
von Christine Knappheide, 34, lebt mit KrebsMittlerweile ist es 4 Wochen her, dass ich auf meinem Bürostuhl hin und her rutschte und mir die Frage stellte: Kann ich mir verzeihen, wenn doch was passiert? Noch am gleichen Tag räumte ich meinen Schreibtisch auf, nahm alles mit, was ich zum Arbeiten benötige, und begab mich in die selbstgewählte Quarantäne. Viel früher als die meisten Deutschen.
Der Grund: Seit 10 Jahren kämpfe ich gegen eine Krebsart, bei der keine Aussicht auf Heilung besteht. Dank einem guten Gesundheitssystem, liebevollen Menschen und eisernem Willen bin ich noch da. 34 Jahre alt, aktiv und unabänderlich optimistisch, fühle ich mich stark. Doch 3 Chemotherapien und eine fortlaufende Medikation gehen nicht spurlos an mir vorbei. Mein Immunsystem würde eine Ansteckung mit Covid-19 wahrscheinlich nur schlecht verkraften.
Christine ist unsere Kollegin und Freundin. Wir durften sie während ihrer letzten Chemotherapie begleiten.
Aussagen von sorgloseren Menschen wie »Ich bin fit, mir passiert schon nichts!« und »Ich lasse mich doch nicht in meiner Freiheit einschränken!« haben mittlerweile einen bitteren Beigeschmack. Ich persönlich wünsche mir, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Ansteckungsgefahr strikt umgesetzt werden. Covid-19 geht uns alle an. Den eisernen Willen, durchzuhalten, müssen jetzt alle Menschen aufbringen. Denn sonst hätte sich der Kampf von Menschen wie mir nicht gelohnt.
Mir ist klar, dass ich viel erwarte, und aus Erfahrung weiß ich: Um durchzuhalten, braucht es ein Ziel! Also, liebe Wissenschaftler:innen und Politiker:innen: Her mit den Statistiken, die allen Menschen zeigen, wie eine Zukunft aussehen kann, wenn wir unser Möglichstes tun. So vage sie auch sein mögen – wir verdienen Perspektiven!
»Wenn unser Gesundheitssystem ans Limit kommt, dann leiden zuerst die Schwachen«
von Raúl Krauthausen, 39, lebt mit »Osteogenesis imperfecta«Die Krankheit
Wir sind in unserem Büro schon länger Homeoffice-erprobt. Der einzige Unterschied zu meinem Alltag sonst ist, dass ich jetzt noch mehr zu Hause bin und noch weniger im Büro, dass ich nicht rausgehe und keine Freunde treffe. Ich fühle mich aber nicht einsam. Ich wohne ja in einer WG und wir machen es uns, soweit wir können, gemütlich. Ich beobachte bei mir, dass ich manchmal zu viel arbeite, weil ich ja keine Fahrwege mehr habe. Der Feierabend ist ein Teil der Selbstdisziplin, die man sich auferlegen muss.
Ich gebe gerade viele Interviews und bekomme viele Fragen zu mir als Mensch in der Risikogruppe gestellt. Ich möchte allen sagen: Macht euch um mich keine Gedanken und keine Sorgen, sondern lasst uns jetzt mal auf diejenigen schauen, die tatsächlich Ängste spüren, die nicht wissen, wie es weitergeht. Denen niemand zuhört. Wie helfen wir jetzt Menschen, die Angststörungen oder Waschzwänge haben, die einsam sind oder durch Social Distancing einsam werden? Was machen wir mit Menschen, die diese Situation finanziell nicht aushalten können? Mit Alleinerziehenden, die jetzt auch noch die Kinder zu Hause haben, zum Beispiel. Diese Fragen beantwortet gerade keiner. Mir wird viel zu viel über die Wirtschaft geredet und viel zu wenig über die sozialen Auswirkungen.
Mich erreichen in den letzten Tagen Meldungen, dass Menschen, die im Wohnheim leben, einer erhöhten Gefahr ausgesetzt sind, sich zu infizieren. Es ist gar nicht so einfach, Orte, die kontaminiert sind, zu desinfizieren, es gibt auch zu wenig Desinfektionsmittel. Das heißt, die Ansteckungsgefahr ist groß. Wenn die Politik sagt: »Leute, bleibt zu Hause«, dann vergisst sie, dass diese Leute in den Heimen zu Hause sind.
Wenn unser Gesundheitssystem, aber auch die Gesellschaft an sich ans Limit kommt, dann leiden darunter zuerst die Schwachen. Und ich glaube, wir müssen dafür sorgen, dass wir uns zuerst auf die Schwachen konzentrieren und dann auf die Starken.
»In Deutschland gibt es nur ein paar Hundert bekannte Fälle«
von Susanne, 55, lebt mit sporadischer »Lymphangioleiomyomatose« (LAM)Wir sind natürlich dem Wunsch nachgekommen, dass nicht alle hier ihren vollständigen Namen veröffentlichen wollen. Bei einigen haben wir auch den Vornamen anonymisiert. Die Redakteur:innen, die an den Texten gearbeitet haben, kennen deren echte Identitäten.
Seit 2013 bin ich sauerstoffpflichtig. Deshalb sieht man mich meist mit einem kleinen Rucksack für mein Sauerstoffgerät und einer Sauerstoffbrille in der Nase. Schuld daran ist die
Seit 2013 bin ich sauerstoffpflichtig. – Susanne
Mir geht es in meiner persönlichen Isolation eigentlich ganz gut. Bei schönem Wetter sitze ich auf meiner Terrasse und lese ein gutes Buch oder telefoniere. Mit meiner Tochter oder meinen Eltern, die leider nicht in der Nähe wohnen. Was jetzt ehrlich gesagt gut ist, denn die Distanz verringert die Ansteckungsgefahr. Meine Einkäufe erledigt eine gute Freundin für mich. Dafür bin ich sehr dankbar!
Etwas, was mich in diesen Tagen bewegt: Ich war selbst 30 Jahre lang Röntgenassistentin und weiß, dass in vielen Krankenhäusern, auch ohne Corona, am Limit gearbeitet wird. Deshalb ziehe ich jetzt vor dem Einsatz der Kollegen den Hut. Und hoffe, dass das Klatschen auf Balkons für sie nicht schon der höchste Ausdruck der Anerkennung war. Generell sollten alle, die gerade die Situation abfedern – vom Krankenhauspersonal über Verkäuferinnen, Familien, Alleinerziehende – viel mehr Wertschätzung erhalten, auch finanziell.
Was nicht nur in Krankenhäusern, sondern auch bei mir zu Hause zum Problem wird: Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel werden knapp. Ich fände es deshalb gut, wenn es diese in den Apotheken für Risikopatienten wie mich auf Rezept gäbe.
»Wir sind es gewohnt, von Moment zu Moment zu denken«
von Sven, 41, lebt mit »Myalgischer Enzephalomyelitis / Chronischem Fatigue-Syndrom« (ME/CFS)
»Unrest« ist ein preisgekrönter Dokumentarfilm aus dem Jahr 2017 von Jennifer Brea, die selbst von ME betroffen ist
Die Einschränkungen durch Covid-19 sind für mich gar keine so große Umstellung. Wir ME/CFS-Patienten haben Erfahrung damit, was es heißt, zu Hause bleiben zu müssen. Wir sind es gewohnt, von Moment zu Moment zu denken und immer wieder die Perspektive zu wechseln – um einen Weg zu finden,
Für sie [die ME/CFS-Kranken] wird sich der Bewegungsfreiraum nicht automatisch wieder weiten, sobald die Luft rein von Coronatröpfchen ist. Es schadet niemandem, das im Kopf zu behalten.
Ich versuche, so gelassen wie möglich, aber wachsam zu sein. Im Umgang mit der Isolation hilft es mir, zu meditieren. Ich habe eingangs geschrieben, dass ich moderat erkrankt bin, deshalb denke ich in diesen Tagen ganz besonders an die Mitpatienten, denen es noch wesentlich schlechter geht als mir. Für sie besteht ein hohes Risiko und wir alle müssen sie konsequent schützen. Zumal sich nur sehr wenige Ärzte mit der Erkrankung auskennen und diesen Zustand richtig einordnen. Spezielle Kliniken sind dringend notwendig,
Deshalb sehen ich und viele andere Erkrankte weltweit auch eine Chance in der Coronakrise: Vielleicht kann die Gesellschaft nun besser nachempfinden,
»Es fühlte sich ein bisschen an wie damals, als der Krieg ausbrach«
von Elly, 86Ich wohne in einem Apartmentkomplex für Senioren in den Niederlanden und koche und putze noch selbst. Auch einkaufen kann ich eigentlich noch allein. Doch seit Ende Februar die ersten Coronafälle in den Niederlanden aufgetaucht sind, übernimmt meine Familie die Einkäufe.
Für mich war es schwierig, als die Lage im März ernster wurde. Es fühlte sich ein wenig so an wie damals, als der Zweite Weltkrieg ausgebrochen war. Auf einmal war da dieses Gefühl von Gefahr, das plötzlich alle Menschen miteinander teilten. Ich hatte gehofft, dass ich das nicht noch einmal erleben muss.
Ich hatte gehofft, dass ich das nicht noch einmal erleben muss. – Elly
Gerade jetzt ist meine Familie eine wichtige Unterstützung, auch wenn ich sie oft nur aus der Ferne sehen kann. Am Wochenende habe ich zum Beispiel mit meinen Urenkeln per Facetime gesprochen. Sie haben mir gezeigt, welche Schularbeiten sie nun zu Hause erledigen müssen.
Ansonsten kann ich mich aber auch ganz gut selbst beschäftigen: Ich habe ein Fernseh-Magazin, in dem ich die interessantesten Dokus heraussuche. Ich lese die Zeitung von vorne bis hinten, lese Bücher und mache Kreuzworträtsel. Und auch der Frühjahrsputz steht bald an.
Ich gehe auch noch raus, um kleine Runden zu laufen, versuche dabei aber, anderen Menschen aus dem Weg zu gehen: Die Zeitung hole ich zum Beispiel jeden Tag extra früh, dann sind nur wenige Leute wach. Und wenn jemand im Fahrstuhl ist, sage ich, dass ich den nächsten nehme.
In meiner direkten Umgebung erlebe ich gerade viel Solidarität. Die Menschen, denen ich draußen begegne, halten alle Abstand. Und auch wenn man nicht direkt miteinander redet, lächelt und winkt man einander zu und realisiert: Wir sitzen alle im gleichen Boot!
»Panik bringt uns allen momentan am wenigsten«
von Jessi, 33, lebt mit allergischem AsthmaDass ich in dieser Jahreszeit durch meine Allergie häufig an Kurzatmigkeit und starkem Husten leide, begann ungefähr vor 15 Jahren. Seitdem macht sich jedes Frühjahr Unruhe in mir breit und meine Lunge fängt an zu pfeifen.
Auch wenn ich als Allergikerin kein geschwächtes Immunsystem habe, würde mein Körper wahrscheinlich größere Probleme haben, mit dem Coronavirus umzugehen.
Wir wissen einfach noch nicht, wie sich Covid-19 wirklich in Verbindung mit allergischem Asthma verhält. Die Prognosen gehen weit auseinander und täglich bekommen wir neue Informationen. Obwohl ich mir der Risiken für Jessi bewusst bin, spreche ich es nicht oft an. Denn ich möchte nicht, dass Sorgen unseren Alltag bestimmen.
Dass ich potenziell zur Risikogruppe gehöre, versuche ich nicht zu präsent werden zu lassen. Ich möchte mich in dieses Gedankenkarussell nicht hineinbegeben, denn Panik bringt uns allen momentan am wenigsten. Dennoch ist es wichtig, den Ernst der Lage zu begreifen.
Um mich und andere zu schützen, halte ich mich vor allem an die Auflagen. Ich gehe so wenig nach draußen wie möglich, aber so viel wie nötig, denn einen kleinen Spaziergang am Abend braucht es manchmal.
Noch sind wir am Anfang der Epidemie und manchmal denke ich an die Entwicklung in anderen Ländern. Durch meine Ausbildung als Gesundheits- und Krankenpflegerin weiß ich, wie ein Krankenhaus funktioniert. Meine größte Sorge gilt deshalb dem Punkt, an dem aufgrund von Personalmangel die medizinische Versorgung nicht mehr für alle gewährleistet werden kann.
Damit es nicht so weit kommt, bitte ich dich: Bleib zu Hause! Und wenn du zur Risikogruppe gehörst, scheu dich nicht, Hilfe anzunehmen. Manchmal ist deinem Umfeld deine Lage auch gar nicht so bewusst. Dann ist es vollkommen okay, danach zu fragen.
Mit Illustrationen von Doğu Kaya für Perspective Daily