Klimanotstand: Warum unsere Demokratie versagt hat
Du kannst nichts für den Klimawandel, sagt Graeme Maxton. Wer wirklich Schuld an der Krise hat und was wir jetzt tun müssen? Das liest du in diesem exklusiven Auszug aus seinem neuen Buch, das in Zusammenarbeit mit Perspective Daily entstanden ist.
Stellen Sie sich einen See vor, in dem jeder Fische fangen darf. Wenn jeder nur so viel fängt, wie er zum Leben braucht, kann der See alle ernähren. Stellen Sie sich nun vor, dass manche mehr fangen, als sie selbst benötigen, und diese Fische anderswo verkaufen. Diese Menschen werden reich, aber ihr Handeln verursacht Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Andere Menschen werden wütend und neidisch, die sozialen Spannungen steigen. Wenn die Gierigen zu viel Fisch aus dem See holen, brechen die Fischbestände zusammen. Der Egoismus einer Minderheit zerstört damit das »gemeine Wohl«, also das Wohl aller.
Dies ist ein Beispiel für das Allmende-Dilemma.
Der Klimawandel ist das derzeit gravierendste Beispiel dieser Tragödie. Das »gemeine Wohl« der Erdatmosphäre wird von einer kleinen und gierigen Minderheit zerstört, die beschlossen hat, die Kohle-, Öl- und Gasreserven der Welt zu verfeuern, die Regenwälder zu vernichten und umweltschädigende Landwirtschaft zu betreiben.
Die überwältigende Mehrheit jener, die darunter leiden – und die in den kommenden Jahrzehnten am meisten darunter leiden werden –, sind nicht diejenigen, die direkt für den Klimawandel verantwortlich sind.
Sie haben dieses Problem nicht verursacht, Sie können es nicht lösen
Ich habe einen deutschen Freund, der zum Pariser IPCC-Bericht von 2015 beigetragen hat. Eines Tages, bei einem gemeinsamen Mittagessen im Stadtzentrum von Singapur, schockierte er mich mit den Worten: »Eigentlich müsste man als logische Reaktion auf den Klimawandel einen SUV kaufen und häufiger in exotischen Gegenden Urlaub machen. Wenn Menschen das Gegenteil tun – wenn sie versuchen, nachhaltig zu leben –, ändern sie überhaupt nichts. Sollen sie doch besser das Leben genießen, das Ergebnis wird so oder so dasselbe sein.«
Mein Freund hat das zwar sarkastisch gemeint, er hatte aber auch vollkommen recht. Wenn ich Vorträge halte, ist genau das für die meisten am schwierigsten zu verstehen. Viele wollen wissen, was sie tun können, um die Umweltprobleme der Welt zu lösen, und die meisten haben bereits eigene Vorstellungen dazu. Sie wollen von mir hören, dass sie mehr recyceln, nicht mehr fliegen und weniger Fleisch essen sollen. Sie wollen helfen, klar. Die Sache ist jedoch die, dass sie sich von der neoliberalen Vorstellung der Lenkung durch den Markt vereinnahmen haben lassen und nun glauben, dass sie persönlich durch eine nachhaltigere Lebensweise etwas bewirken können. Sie haben die Logik geschluckt, dass sich die Situation verändern wird, wenn jeder nachhaltiger zu leben versucht. Bei genauerer Betrachtung ist dies aber ganz und gar nicht logisch.
Sogar in Europa, wo viele Menschen die Bedrohung durch den Klimawandel gut verstehen, hat nur eine kleine Minderheit ihre Gewohnheiten maßgeblich umgestellt. Und auch davon nutzen die meisten weiterhin das eigene Auto, elektrischen Strom und jede Menge Plastik. Wenn man dann noch bedenkt, dass die meisten Menschen in der restlichen Welt, vor allem in der reichen Welt, ihr Verhalten überhaupt nicht geändert haben, wird deutlich, dass eine kleine Minderheit, die ein wenig nachhaltiger lebt, die weltweiten Emissionen nicht rasch genug senken kann, um den Klimawandel zu bremsen.
Sogar wenn Hunderte Millionen von Menschen beschließen würden, nachhaltig zu leben, wäre das noch zu wenig. Das liegt daran, dass für den Großteil der Emissionen nicht das individuelle Verhalten des Einzelnen die Ursache ist. Der Großteil der menschengemachten Treibhausgase kommt aus dem Verkehr (29%), der Stromerzeugung (28%) und der Industrie (22%). Rund 10% entfällt auf die Landwirtschaft und auf Landnutzungsänderungen. Wenn sich nun Einzelne individuell bemühen, nachhaltiger zu leben, hat das auf diese Emissionen nahezu gar keinen Einfluss. Wenn man alle Einwohner Deutschlands oder Europas zusammennimmt, ist die Summe ihrer Handlungen natürlich sehr groß, keine Frage. Aber auch das ist viel weniger als der kombinierte Umweltschaden, der durch Energieerzeugung, Flugzeuge, Kreuzfahrtschiffe, Bergbau, Landwirtschaft und Straßengüterverkehr verursacht wird.
Wenn jemand ein Licht anmacht oder ein Auto fährt – und sei es ein Elektroauto –, nutzt diese Person Energie. Bei der Erzeugung ebenjener Energie – die heute immer noch zu über 80% aus fossilen Brennstoffen erfolgt – entstehen die Emissionen, die den Klimawandel verursachen. Es sind zwar Einzelpersonen, die den Strom verbrauchen, doch nur wenige davon haben die Möglichkeit zu entscheiden, wie diese Energie hergestellt wird. Nicht der Einzelne entscheidet, Kohle, Gas und Öl zu verfeuern, um diese Energie zu erzeugen.
Der Einzelne ist daher nur für einen sehr kleinen Teil des Klimawandels direkt verantwortlich, somit kann der Einzelne auch nur sehr wenig ausrichten, um ihn einzudämmen. Die Entscheidung, ohne Auto zu leben, reduziert nicht die Emissionen, die von Millionen von Bussen und Lastfahrzeugen generiert werden. Die Container- und Kreuzfahrtschiffe befahren weiterhin die Meere, und die Anzahl der Flüge steigt ebenfalls weiter. Was Sie tun und was ich tue, ändert nichts daran. Wenn Sie beschließen, nur mehr mit einem Elektroauto zu fahren, machen Sie das Ganze sogar noch schlimmer, falls der Strom in Ihrem Land überwiegend aus Kohle, Öl oder Gas erzeugt wird.
Natürlich kommen die Bemühungen jener, die nachhaltiger zu leben versuchen, der Lösung der Umweltprobleme zugute. Aber deren Beitrag ist viel zu gering, um das bevorstehende Schicksal der Menschheit abzuwenden. Nur wenn nahezu alle Menschen weltweit ebenfalls nachhaltig leben und für die Industrie, den Verkehr, die Landwirtschaft und die Stromerzeugung strenge Einschränkungen gelten würden, würde sich etwas ändern. Auch wenn alle Einwohner Deutschlands und Österreichs so nachhaltig wie möglich lebten und gar keine Treibhausgase erzeugten, würde die weltweite Emissionsrate dennoch Jahr für Jahr weiter steigen. Auch wenn jeder in der gesamten EU – eine halbe Milliarde Menschen – möglichst nachhaltig leben würde – kein Fleisch, kein CO2, keine Einwegprodukte –, würde sich nahezu nichts ändern. Die Welt würde dennoch Mitte der 2030er-Jahre den ökologisch kritischen Kipppunkt erreichen. All diese 500 Millionen Menschen, die Gutes tun, die im Dunkeln leben ohne Auto und Flugzeug, würden die Katastrophe bestenfalls lediglich für ein paar Jahre hinauszögern.
Wo unsere Energie besser aufgehoben ist
Ich sage nicht, dass der Einzelne nichts tun soll. Ich sage vielmehr, dass all die Energie, die Menschen in Recyclingmaßnahmen und in Bemühungen um eine nachhaltige Lebensweise stecken, stattdessen in etwas fließen sollte, was tatsächlich etwas bewirken könnte. Etwa indem man aktiv darauf hinarbeitet, ein radikales politisches Umdenken herbeizuführen. Um die nötige Veränderung zu erzielen, muss praktisch jeder Bauer und jedes Unternehmen seine Treibhausgasemissionen auf null reduzieren. Und damit meine ich nicht null als Nettosaldo nach irgendwelchen Auf- und Gegenrechnungen. Ich meine wirklich NULL. Emissionen durch Zertifikatehandel zu kompensieren reicht nicht. Bäume wachsen nicht schnell genug, um das produzierte Kohlendioxid zu absorbieren, und CO2-Zertifikate sind bloß Papiere, die es den Käufern erlauben, das Problem noch schlimmer zu machen.
Es ist ein weiterer Trick neoliberaler Ökonomen, den Menschen zu suggerieren, dass jeder Einzelne für die Umweltprobleme wie Klimawandel, Meeresverschmutzung und Artenschwund verantwortlich sei. So können sie argumentieren, dass es nicht die Unternehmen sind, die den Müll nach Rumänien oder China exportieren und die dortige Bevölkerung vergiften. Sie und ich seien dafür verantwortlich, sagen sie, da wir diesen Müll verursachen. Die Ölverschmutzung an den Stränden sei Ihre Schuld und meine, da Sie und ich Kraftstoff für unsere Autos wollen. Wenn uns Kaffee in nicht recycelbaren Bechern verkauft wird, liegt das daran, sagen die Ökonomen, dass Sie und ich diese Bequemlichkeit wollen.
All das stimmt natürlich nicht. Sie und ich haben keine Firmen beauftragt, unseren Müll zu exportieren. Wir wollen ja gar nicht erst so viel Müll produzieren. Weder Sie noch ich haben Ölfirmen nahegelegt, zu wenig in Sicherheit zu investieren. Ebenso wenig haben wir um nicht recycelbare Kaffeebecher gebeten.
Das Dogma der Neoliberalen will uns glauben machen, dass wir für diese Probleme verantwortlich sind, weil sie nicht wollen, dass sich etwas verändert. Nichts soll die Wachstumsrate der Wirtschaft oder den Vermögenszufluss nach oben bremsen. Sie wollen nicht, dass die Menschheit begreift, dass Unternehmen für diese Entscheidungen verantwortlich sind, ebenso wie jene, die immer höhere 1/4-jährliche Renditen verlangen.
Weder Sie noch ich haben Ölfirmen nahegelegt, zu wenig in Sicherheit zu investieren. Ebenso wenig haben wir um nicht recycelbare Kaffeebecher gebeten.
Statt zu akzeptieren, dass das Grundproblem in ihrem Wirtschaftssystem liegt, schieben die Neoliberalen Ihnen und mir die Schuld für die Probleme zu, die sie geschaffen haben. Daraufhin bieten sie uns, ganz geschickt, eine Lösung an. Sie sagen uns, wir könnten die Umweltprobleme der Welt lösen, indem wir unser Kaufverhalten ändern. Wenn wir andere Produkte kaufen – wohlgemerkt aber unseren Konsum insgesamt nicht reduzieren –, können wir eine Veränderung bewirken, so ihr Tenor. »Save the world!« ist ihre Botschaft. Sie als Konsument sind es, der den Planeten zerstört, sagen sie, nicht wir. »Kaufen Sie Solarpanele! Kaufen Sie Wärmedämmung! Kaufen Sie ein Elektroauto! Kaufen Sie vegane Lebensmittel! Aber hören Sie ja nicht auf, Dinge zu kaufen.«
In Wirklichkeit können Sie und ich das Klimaproblem nicht dadurch lösen, dass wir anders leben oder andere Dinge kaufen. Denn wir sind für die Hauptursachen der Verschmutzung nicht verantwortlich. Nicht Sie und ich haben beschlossen, all diese Kohlekraftwerke zu bauen. Nicht Sie und ich haben Produkte hergestellt, die nicht recycelt werden können. Nicht Sie und ich haben beschlossen, Kreuzfahrtschiffe mit den umweltschädlichsten Motoren der Welt auszurüsten.
Nicht Sie und ich haben dieses Problem verursacht, und deshalb können Sie und ich es logischerweise auch nicht lösen.
Die Verantwortlichen haben Namen und Adressen
Aber es gibt Menschen, die diese Entscheidungen treffen. Eine kleine Gruppe von Personen weltweit beschließt, Kohle zur Stromerzeugung zu verwenden, wohl wissend, dass dies den Klimawandel verschlimmert. Eine kleine Gruppe investiert in das Ölgeschäft, wohl wissend, dass dieses die Umwelt zerstört. Dieselbe kleine Gruppe baut Flughafenterminals, wohl wissend, dass weitere Flüge die Luft noch mehr verschmutzen werden. Sie bauen neue Autofabriken, wohl wissend, dass die erforderliche Energie und die verursachte Verschmutzung der Atmosphäre schaden werden. Sie arbeiten im Produktdesign, im Marketing und im Vertrieb, um den Rest von uns davon zu überzeugen, umweltzerstörende Produkte zu kaufen. Und sie arbeiten für PR-Firmen und Denkfabriken, die neoliberale Ideen verbreiten und Zweifel an wissenschaftlichen Klimaerkenntnissen säen.
Die Umweltzerstörung und der Klimawandel kommen nicht von allein. Es sind Menschen, die diese Probleme verursachen – und sie haben Namen und Adressen.
Die Menschen, die all dies tun, haben alle eines gemeinsam. Ihnen sind kurzfristige Gewinne wichtiger als die Zukunft der Menschheit. Für sie ist das Geld, das sie heute einstreichen, wichtiger als die Welt, die sie ihren Enkeln morgen vererben. Zahlen auf einem Kontoauszug sind ihnen wichtiger als die vielen Hundert Millionen Menschen, denen eine Zukunft ohne Wasser bevorsteht.
Die meisten jener Menschen, die diese Entscheidungen treffen, wissen, was sie tun. Sie wissen, dass sie Klimaveränderungen verursachen. Sie wissen, dass mehr Flüge und Autofahrten mehr Verschmutzung verursachen. Sie wissen, dass sie Plastikverpackungen verkaufen, die die Meere vergiften werden. Sie könnten das ändern und eine Arbeit finden, die nicht die Umwelt zerstört. Stattdessen reden sie sich ein, dass das, was sie da tun, in Ordnung ist.
Die Menschen, die all dies tun, haben alle eines gemeinsam. Ihnen sind kurzfristige Gewinne wichtiger als die Zukunft der Menschheit.
Von 8 Milliarden Menschen weltweit sind vielleicht ein paar Dutzend Millionen für diese folgenschweren Entscheidungen verantwortlich. Sie betreiben die Öl-, Kohle- und Gasunternehmen sowie die Fluggesellschaften und Automobilhersteller. Sie managen Plastikfirmen und Bergbauunternehmen. Sie sind die Banker und Private-Equity-Investoren, die diese Unternehmen dazu puschen, alle 3 Monate noch höhere Gewinne vorzulegen. Sie sind die Politiker, die umweltzerstörende Unternehmen unterstützen und die Konsequenzen ignorieren. Sie sind die Familien all dieser Menschen, die ihre Augen vor all dem schädlichen Tun verschließen.
Wenn Sie für ein Fossilenergie-Unternehmen arbeiten, egal wo in der Hierarchie, sind Sie Teil des Problems. Wenn Sie für Volkswagen, OMV, Glencore, Holcim, BHP, Syngenta, Daimler, Lufthansa, BMW, BASF oder deren Pendants in anderen Ländern arbeiten, sind Sie Teil des Problems. Wenn Sie diese Unternehmen finanzieren oder bei der Werbung für ihre umweltschädigende Ware helfen, sind Sie ebenfalls Teil des Problems.
Ich starte eine Kampagne gegen Pseudo-Nachhaltigkeit, die Art von ›Sie haben die Wahl‹-Gerede, die uns weismachen will, dass milliardenschwere Konzerne sich um die Umwelt sorgen oder um unsere Zukunft. Dass wir von denjenigen gesagt bekommen, wir sollen unseren Planeten lieben, die selbst in konstant klimatisierten Gebäuden aus Stahl und Glas sitzen, in Räumen mit Teppichen und Mobiliar aus petrochemischer Produktion und verschiedensten Formen von Metall, wo Mitarbeiter am Abbau seltener Erden und nicht erneuerbarer Bodenschätze verdienen und der Einzelne ganz und gar keine Wahl hat, wäre ungeheuer komisch, wäre es nicht so abscheulich kriminell, dumm und schamlos gelogen.
Man beachte: Die große Mehrheit der Menschen, die das Problem verursachen, lebt in der reichen Welt. Den Kampf gegen den Klimawandel gewinnen wir nicht, indem der Rest von uns vegan zu leben beginnt. Gewinnen können wir ihn nur, wenn die Mehrheit der Menschen weltweit dafür sorgt, dass das entsetzlich zerstörerische Verhalten dieser kleinen Minderheit aufhört. Sie und ich müssen wieder die demokratische Kontrolle in die Hand nehmen und für ein ordentlich funktionierendes Staatswesen sorgen, damit das Wirtschaftssystem nicht unsere Zukunft zerstört. Dies ist kein Kampf zwischen 99% und 1% der Menschheit. Es ist ein Kampf zwischen 99,995% und 0,005% der Menschheit.
Es gibt Menschen, die für den Klimawandel verantwortlich sind – eine kleine Schar, die nur an sich selbst denkt, ungeniert agierend unter dem Deckmantel der Ideen, die von neoliberalen Ökonomen postuliert werden. Deren Handlungen sind das, was sich ändern muss. Der große Rest von uns hat die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass dies geschieht.
Wie wir das schaffen, erfährst du im neuen Perspective-Daily-Buch »Globaler Klimanotstand«. Bestelle jetzt dein Exemplar in unserem neuen Perspective-Daily-Shop! Alternativ kannst du an unserem Gewinnspiel auf Instagram teilnehmen, das im Laufe des Tages startet, und eines von 5 Exemplaren gewinnen. Viel Glück!
Mit Illustrationen von Doğu Kaya für Perspective Daily