Was uns die Systemrelevanten wirklich wert sind, müssen wir nach der Krise beweisen
Applaus und Prämien für Kassiererinnen und Pflegekräfte sind wichtige Gesten. Doch eine Gesellschaft, die ihre Wertschätzung für diese Arbeit zeigen möchte, sollte sie besser bezahlen. Diese Aufgabe betrifft uns alle.
Für manche Menschen ist der Supermarktbesuch im Moment vielleicht die einzige Gelegenheit, anderen Leuten zu begegnen. Für mich ist das Einkaufen aktuell mit großem Unbehagen verbunden. Fremde beschimpfen einander, weil sie nicht genügend Distanz wahren. Sie nehmen sich das Toilettenpapier weg. Meine kleine Tochter wird böse angeschaut, weil sie einmal hustet und der Abstand möglicherweise nur 1,37 Meter beträgt und nicht 1,50 Meter. Natürlich, mein Fehler. Ich mag mir kaum vorstellen, wie belastend diese Situation gerade für die Mitarbeiter:innen sein muss, die den ganzen Tag im Supermarkt verbringen müssen. Umso erstaunter bin ich über die Freundlichkeit, mit der sie ihrer Kundschaft weiterhin begegnen.
Das rührt nicht nur mich, sondern auch viele andere Menschen, die irgendwie das Bedürfnis haben, den Menschen etwas zurückzugeben, die jetzt in Krisenzeiten den Laden am Laufen halten. Deshalb legen sie Schokoladentafeln aufs Band und schenken sie der Kassiererin. Deshalb kommen Menschen auf ihre Balkons und klatschen. Für die einen ist das eine Geste der Anerkennung, der Dankbarkeit, sicher auch der Aufmunterung und Motivation, damit alle weiter durchhalten. Für die anderen ist der Applaus nur eine Selbstberuhigung derjenigen, die besser dran sind.
Vielleicht stimmt beides. Richtig ist in jedem Fall, dass sich die nett gemeinten Gesten nicht auf den Kontostand auswirken. Viele der Menschen, die jetzt als Heldinnen und Helden gefeiert werden, wollen das vielleicht gar nicht sein, sondern einfach ein Gehalt bekommen, von dem sie gut leben können.
Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass sich die Wertschätzung für systemrelevante Berufe in Euro messen lassen sollte.
Laut einer Untersuchung des
Viele von ihnen müssen ihr Einkommen sogar mit staatlichen Leistungen aufstocken. Wie aus einer Antwort auf eine Anfrage der Linken-Bundestagsfraktion
Alle sollten verdienen, was sie verdient haben
Langsam wächst nun die Einsicht, dass sich die Wertschätzung für gesellschaftlich besonders wichtige Berufe in Euro messen lassen sollte. Andere Länder zeigen, dass das möglich ist. Die Regierung des kleinen südasiatischen Staates Bhutan hat 2019 eine folgenreiche Entscheidung getroffen. Dort sollen Menschen, die sich für die Gesellschaft einsetzen, die lange und unter großer Belastung arbeiten und häufig noch am Wochenende ranmüssen, nicht nur Anerkennung genießen,
Als systemrelevant könnten schon bald jene Arbeitgeber gelten, die dafür sorgen, dass die Wirtschaft wieder anspringt.
Und bei uns? Aktuell deutet vieles darauf hin, dass Politik und Verbände vor allem die Wirtschaft stützen wollen. Der Handelsverband Deutschland (HDE), der den Einzelhandel vertritt, will die vereinbarte Tariflohnerhöhung aussetzen.
In eine ähnliche Richtung deuten Aussagen des neuen Mittelstandsbeauftragten der Bundesregierung, Thomas Bareiß (CDU): »Über die Krise hinaus brauchen wir ein Fitnessprogramm für den Mittelstand und die Wirtschaft insgesamt«, sagte er in einem Handelsblatt-
Übersetzt heißt das: Der Supermarkt muss unterstützt werden, nicht aber die Kassiererin. Das mittelständische Familienunternehmen muss unterstützt werden, nicht aber die dort Angestellten, die ein besseres Einkommen benötigen, um gut leben zu können. Und auch nicht die Kleinunternehmerin, die um ihren Friseurladen bangt. Als systemrelevant könnten demnach schon bald jene Arbeitgeber gelten, die dafür sorgen, dass die Wirtschaft wieder anspringt. Im schlimmsten Fall bleibt dann für die Kassiererin und die Friseurin wieder nur eins: Wertschätzung.
Einmalige Prämien reichen nicht
Dazu darf es nicht kommen. Deshalb muss der Druck auf Politik und Verbände steigen. Die Prämien, die mehrere große Supermarktketten jetzt an ihre Beschäftigten ausgezahlt haben, sind ein Anfang. Auch Pflegekräfte sollen
Wenn es dabei bleiben sollte, ist aber auch das nicht viel mehr als ein symbolischer Akt. Langfristig sind strukturelle Veränderungen nötig. Seit Jahren sinkt die Zahl der Dienstleistungsunternehmen, die nach Tarif zahlen. Die Pflegebranche hat noch keinen einheitlichen Tarifvertrag. Gewerkschaften und Arbeitgeber müssen sich jetzt zügig darauf einigen. Die Bundesregierung kann ihren Beitrag dazu leisten, indem sie einen angemessenen Pflegemindestlohn einführt.
Je schneller Fortschritte erzielt werden, desto besser. Strukturelle Veränderungen brauchen aber Zeit. Entscheidend ist daher, dass unsere Aufmerksamkeit für systemrelevante Arbeit diese Krise überdauert. Nicht nur jetzt, sondern besonders dann, wenn die Arbeitskämpfe um Tarifverträge und Mindestlöhne ausgetragen werden, verdienen Beschäftigte in der Pflege, im Einzelhandel und in der Zustellung unsere Solidarität. Es geht um die Frage, was uns diese Arbeit wert ist. Sind auch wir als Gesellschaft bereit, höhere Beiträge zur Pflegeversicherung zu zahlen und mehr für Lebensmittel und Pakete auszugeben? Erst dann, wenn die wahren Leistungsträger:innen unserer Gesellschaft das verdienen, was sie wirklich verdient haben, komme ich auf meinen Balkon und applaudiere.
Hier findest du die beiden anderen aktuellen Dailys:
Mit Illustrationen von Mirella Kahnert für Perspective Daily