Von wegen schulfrei: Wie Corona das Klassenzimmer im Eilverfahren ins Netz verlagert
Das sind die Lehren aus den vergangenen Wochen. Und so könnte es bis zum Sommer weitergehen.
Es ist Freitag, der 13. März, kurz vor Unterrichtsschluss, als die Nachricht per Durchsage kommt: Die Schulen werden bis auf Weiteres dichtgemacht. Unsichere Blicke der Schülerinnen und Schüler gehen vom Lautsprecher durch den Klassenraum. Der Lehrer blättert noch schnell durch das Mathebuch und gibt ein paar Aufgaben. Wirklich vorbereitet ist niemand –
»Das kam alles plötzlich, wir wurden ins kalte Wasser geworfen. Ich war schon zu Hause, als ich realisierte: Das war jetzt dein letzter Schultag vor dem Abitur. Und nun ist alles ziemliches Chaos«, schildert der Schüler Nils Reichardt (18) die Situation.
Er ist einer von 11 Millionen Kindern und Jugendlichen, die in Deutschland gerade ohne Unterricht dastehen. Diese Woche sind in vielen Bundesländern reguläre Osterferien, danach sollen die Schulen eigentlich wieder öffnen. Doch aktuell scheint es stattdessen wahrscheinlicher, dass eine Verlängerung der Schulschließungen folgt.
Was also passiert, wenn die Schulen zu bleiben?
Eigenverantwortliches Lernen daheim mit den Eltern funktioniert vielleicht für disziplinierte Einser-Kandidaten. Doch gerade Kinder mit Lernschwächen, aus sozialen Brennpunkten oder mit Sprachbarrieren drohen dabei auf der Strecke zu bleiben. Allen Verantwortlichen ist klar: Schule muss im Ausnahmefall auch ohne Schulgebäude weiter funktionieren.
Die vergangenen Wochen haben gezeigt, wie das gehen kann: mit ungeahnter Flexibilität aller Beteiligten – Kindern und Jugendlichen, Eltern, Lehrpersonal und auch Bildungsanbietern. Und weil sie gerade alles geben, macht Schule in Deutschland jetzt einen längst überfälligen großen Sprung in die digitale Welt.
Dieser Schüler koordiniert den Unterricht für Zehntausende
Ausruhen vor dem Abi kommt für Nils Reichardt nicht infrage. Der Schüler aus Düsseldorf hat alle Hände voll zu tun, schließlich ist er Jungunternehmer. Er bietet in der Ausnahmesituation eine eigene Lösung an. Weil er sich mit seiner Klasse online besser koordinieren wollte, entwickelte er zusammen mit 2 Freunden die Plattform Sharezone. Seit der Gründung vor 2 Jahren hat sie bereits über 85.000 Registrierungen bundesweit, zu Beginn der Schulschließungen kamen täglich über 3.000 neue über alle Schulformen hinweg
Anders als manche englischsprachige Anbieter arbeitet Sharezone unter dem Dach des europäischen Datenschutzes (DSGVO-konform). »Unsere Daten liegen in Rechenzentren in Frankfurt und werden schon bei der Übertragung serverseitig verschlüsselt. Das macht uns standardmäßig sicherer als E-Mails«, betont
Dabei zeigt Sharezone in der Krise einen weiteren Vorteil: Die App setzt auf die Selbstorganisation der Klassen. Hadert die Lehrkraft noch mit der Technik, können motivierte Jugendliche Arbeitsblätter einfach selbst hochladen und die Termine einpflegen. »Schülerinnen und Schüler sind heute meist schon sehr digital unterwegs, manche Lehrkräfte bisher eher noch nicht so. Das ist auch klar, schließlich haben sie sich bisher offline organisiert und stehen jetzt vor neuen Herausforderungen«, sagt Nils Reichardt.
Doch gerade während der Schulschließungen meistern manche Lehrkräfte diese Herausforderungen mit Bravour und beweisen, dass sie in der digitalen Welt angekommen sind.
Diese Lehrerinnen und Lehrer zeigen, was online geht
Sind die Kids daheim, machen ihre Lehrkräfte nur das Nötigste –
- Youtube-Nachhilfe in Mathe: Die angehende Lehrerin Magda Mayerhoffer will bei den Abiturvorbereitungen helfen und
- Politikstunde online: Die Bundeszentrale für Politische Bildung (Bpb) streamte wochenlang täglich zusammen mit Professorinnen und Professoren und Youtube-Stars
Auch wenn diese Angebote gut gemacht sind, stellen sie keinen Ersatz für echten Unterricht dar. Nur Lehrerinnen und Lehrer kennen ihre Klassen samt Stärken und Schwächen und wissen, was individuell funktioniert, motiviert und zu den Konzepten der eigenen Schule passt. So suchen viele Lehrkräfte online selbst nach Lösungen,
Dabei zeigt sich, dass die Coronakrise auch ein Härtetest für bestehende Angebote im Bereich des digitalen Lernens ist – eine erzwungene Evaluation, was jetzt funktioniert und welche Angebote dem Andrang eben nicht standhalten. Eine Plattform ist dabei derzeit in aller Munde: Sofatutor. In Bremen und Sachsen-Anhalt ist sie während der Pandemie bereits im Großeinsatz.
Diese Plattform könnte zum neuen Standard im Bereich Online-Bildung werden
In der Coronakrise wird deutlich, dass Deutschland im Bereich digitaler Unterricht nicht gut vorbereitet war. Das weiß auch Unternehmer Stephan Bayer: »Deutschland liegt beim Thema Digitalisierung der Schule unter den Industrienationen bisher im letzten Drittel.« Bayer sieht hier auch Versäumnisse der Schulbuchverlage: »Die Verlage haben mit Blick aufs Ausland gelernt, dass Umsätze wegbrechen und haben den Prozess lieber hinausgezögert.«
Seit Jahren versucht Bayer, Schulen und Träger von den Vorteilen der Digitalisierung zu überzeugen. Während der Coronakrise scheint sein Moment gekommen. Bereits 2009 gründete Bayer sofatutor, die größte deutsche Lernhilfe-Plattform. Heute produziert ein 129-köpfiges Team digitale Lerninhalte für 1,5 Millionen Schülerinnen und Schüler. Aktuell kommt sofatutor nach eigenen Angaben auf rund 11.000 Lernvideos,
Die Videos werden direkt mit Übungen verbunden, die Gelerntes abfragen und vertiefen – insgesamt Zehntausende Übungen und Arbeitsblätter auf Basis der Lehrpläne der Bundesländer. Ergänzt wird das Angebot von einem »Lehrerchat«, der Schülerinnen und Schüler mit 60 angestellten Lehrkräften verbindet, die Fragen beantworten und Hilfestellungen geben. Persönliche Betreuung per App – das sehen manche Lehrerinnen und Lehrer skeptisch, wie auch Stephan Bayer weiß.
»Da gibt es zunächst viele Vorurteile und Ängste. Doch die Digitalisierung macht auch etwas mit der Rolle der Lehrkräfte: Sie werden von Erklärbären an der Tafel eher zu Tutoren und Coaches. Schule entwickelt sich weiter, da muss aber niemand um seinen Job fürchten«, sagt Bayer und hofft darauf, dass die Schulschließungen in Deutschland als Nebeneffekt einen Durchbruch im Bereich digitalen Unterricht bringen. Seine Plattform jedenfalls dürfte gerade fraglos davon profitieren.
Dass digitales Lernen mit Lernvideos auch flächendeckend funktioniert, zeigt Bremen, das bei digitaler Bildung in Deutschland der Vorreiter ist. Seit 2018 arbeitet das Bundesland in einem Pilotprojekt mit sofatutor zusammen, angestoßen von der Bildungssenatorin Claudia Bogedan. Alle Schülerinnen und Schüler sowie alle Lehrkräfte haben dabei über ein Lernmanagementsystem Zugriff auf die Inhalte der Plattform – das Land zahlt die Rechnung. Das Ergebnis: 30% nutzten sofatutor schon vor der Krise regelmäßig, während der Schulpause stieg die Zahl auf 60%. Für die Bildungssenatorin ein »voller Erfolg«, auch in der jetzigen Situation:
Die Verfügbarkeit von Lernvideos hilft den Lehrkräften in den Schulen bei fehlendem Präsenzunterricht natürlich zusätzlich […], trotzdem lebt Schule von der physischen Anwesenheit aller im Klassenraum. Lernen ist ein sozialer Prozess. Distanzlernen kann in Notfällen wie diesen eine Hilfe sein, ersetzt den Unterricht aber keinesfalls.
Das ganze Kurzinterview mit Claudia Bogedan findest du in den Diskussionen.
Mit Sofatutor steht also tatsächlich eine erprobte Bildungsplattform in Deutschland bereit, die sich leicht zum Herzstück digitalen Unterrichts in Deutschland ausbauen ließe. So sind digitale Lehrerzimmer und Notenkonferenzen nach Angaben des Unternehmens bereits in Planung. Serversysteme, die mit steigenden Nutzerzahlen automatisch mitskalieren, beugen Überlastungen vor, unter denen manch andere Unterrichtsplattform gerade leidet.
Doch wenn viele Schulen auf dieselbe Plattform setzen, könnten ganz neue Probleme entstehen.
Das Coronavirus zeigt: Das sind die Baustellen der digitalen Bildung
Die vergangenen Wochen haben einen guten Eindruck davon gegeben, wie Schule auch in Zukunft digital sein könnte, selbst wenn die Schulgebäude wieder öffnen. Doch die Erfahrungen aller Beteiligten während der Krise legen auch Finger auf wunde Punkte des Online-Unterrichts – und geben neue Lösungsansätze:
- Zeitliche Grenzen: Wer jederzeit mit der Klasse kommunizieren kann, steht vor einem neuen Online-Präsenzdruck. Doch Kinder und Lehrende brauchen auch eine klare Zeit abseits des Lernens. An eine mögliche Lösung denkt zum Beispiel Nils Reichardt von Sharezone: Chatfunktionen mit den Lehrern nur während der Arbeitszeiten freischalten. Kommt zwischendurch eine Nachfrage, könnte sie zurückgehalten und erst am nächsten Morgen weitergeleitet werden.
- Flächendeckender Standard: Stephan Bayer von sofatutor ist im engen Kontakt mit Lehrkräften in ganz Deutschland und sieht ein heterogenes Bild: »Manche gehen selbstverständlich online, andere hadern noch. Hier braucht es einen wichtigen Baustein: Lehrerweiterbildung.« Bis das in der Lehrerausbildung verankert ist, könnten das digitale Plattformen übernehmen. sofatutor
- Finanzierung: Nicht nur Laptops und Whiteboards an Schulen bringen Unterricht in Deutschland voran, sondern vor allem Plattformen und digitale Angebote. Diese Erkenntnis hatten jetzt auch die Bildungsminister:
- Soziale Gerechtigkeit: Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft vermutet,
Werden diese Punkte in den kommenden Monaten ausgeräumt, stehen die Chancen gut, dass sich Freitag, der 13. März 2020 nicht als Unglückstag erweist, sondern als der Stichtag, an dem die Digitalisierung der Bildung in Deutschland endlich in Fahrt kam.
Mit Illustrationen von Mirella Kahnert für Perspective Daily