»Mein Leben soll geschützt werden, während deins riskiert wird«
Die Gefahr für Millionen Inder im Lockdown lässt unsere Journalistin vor Ort, Anuradha Sharma, nicht mehr schlafen. In diesem Brief aus den Mitternachtsstunden lässt sie uns an ihren Gedanken teilhaben und lehrt eine wertvolle Lektion über Demut.
In Indien gilt der härteste Lockdown weltweit für 1,3 Milliarden Menschen. Am 24. März erließ Premierminister Narendra Modi eine komplette Ausgangssperre. Die Regelungen sollen Menschen vor der Infizierung mit Covid-19 schützen, doch in Indien haben sie bereits Leben gekostet.
An meine trauernde Schwester,
ich komme gleich zur Sache: Es ist deine Schuld.
Ich sah das Video von dir. Hörte deine Wehklagen. Sie fühlten sich an wie 1.000 Nadelstiche, die meinen Körper malträtierten.
Du hattest einen Sohn. Er war 3 Jahre alt und starb in deinen Armen, als du und dein Mann von Krankenhaus zu Krankenhaus rannten. Sein Vater sagte, dass euch ein Krankenwagen verweigert wurde;
Es ist weit nach Mitternacht. Ich sitze auf dem Bett und betrachte meine 2 Kinder, die friedlich neben mir schlafen. Und ich denke an dich,
Es ist dein Fehler, dass du arm bist. Wusstest du das nicht? Dass es eine Straftat ist, arm in diesem Land zu sein? Vor allem jetzt, da eine Pandemie wütet.
Ich bin wütend auf dich
Es tut mir leid, dass ich wütend bin. Ich bin wütend, weil es mich in meiner Hilflosigkeit tröstet. Ich bin wütend auf dich, weil … auf wen soll ich sonst wütend sein? Auf die Regierung, die diesen Lockdown beschlossen hat, ohne an Menschen wie dich zu denken? Oder auf die Privilegierten, zu denen ich mich zähle – deren Leben jetzt geschützt werden sollen, während deins riskiert wird? Lass mich auf dich wütend sein und all die Menschen, die in Armut leben.
Während ich diese Zeilen schreibe,
Hast du die Rede von Premierminister Narendra Modi gehört, in der er den Lockdown verkündete? Hat er nur ein Wort verloren über Menschen wie dich? Ein großer Teil der indischen Bevölkerung ist so arm wie du, und nichts wurde darüber verkündet, wie ihr alle die Ausgangsbeschränkungen überleben sollt – Menschen, die nicht die Möglichkeit haben, von zu Hause zu arbeiten oder sich von anderen zu distanzieren.
Wie sollt ihr die Hygieneverordnungen einhalten, wenn ihr nicht einmal Zugang zu sauberem Wasser habt, geschweige denn genug Geld, um ein Stück Seife zu kaufen?
Ich weiß nicht, ob es dir hilft, zu wissen, dass du nicht allein bist, meine Schwester. Millionen leiden wie du. Die plötzliche und totale Abriegelung des Landes, die die Ausbreitung des Coronavirus eindämmen soll, hat
Eine massive humanitäre Krise entfaltet sich. Aber wer stört sich daran? Während die Armen befürchten, dass der Hunger sie noch vor dem Virus erwischt, und die Reichen vor Langeweile eingehen, ist die größte Sorge der Regierung, dass sie gut dasteht.
Sie versprach,
Die Regierung hat währenddessen mit der Arbeit am
Im Grunde genommen bist du also auf dich allein gestellt. Was wirst du tun? Aufzugeben ist niemals eine Lösung, meine Schwester. Unsere einzige Hoffnung sind Menschen – Menschen wie du und ich.
Denn in einer Zeit, in der sich die Regierung vom Volk, insbesondere von den Armen, distanziert hat, haben wir es selbst in die Hand genommen, uns gegenseitig durch diese Krise zu helfen.
Es ist wichtig zu erwähnen, dass diese Menschen sich gegenseitig helfen, ohne Rücksicht auf ihren religiösen Hintergrund zu nehmen. Wie du weißt, leben wir in stark polarisierten Zeiten. Nachdem die Medien – was mir leid tut und auch mich als Journalistin beschämt – immer wieder darüber berichtet haben, dass das Coronavirus eine islamische Verschwörung sei, weil viele Mitglieder der muslimischen Gemeinde positiv getestet wurden,
Bevor ich nun ende, Schwester, gestatte mir, mich bei dir zu entschuldigen. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Ich wollte dir sagen, dass wir alle gemeinsam in dieser Situation stecken, aber ich bin mir meiner Privilegien nur allzu bewusst – ich gehöre zu den Leuten, die »von zu Hause aus arbeiten« und genügend Essen in der Küche haben.
Hoffnungsvoll,
deine Schwester in Gedanken
Aus dem Englischen übersetzt von Juliane Metzker
Hier findest du die beiden anderen aktuellen Dailys:
Mit Illustrationen von Doğu Kaya für Perspective Daily