Was Obdachlosen wirklich hilft? Eine Wohnung!
Finnland zeigt, warum die naheliegendste Lösung am besten funktioniert. Auch in Deutschland gibt es schon Modellprojekte.
Der Winter ist für Obdachlose keine besinnliche Jahreszeit. Wenn die Temperaturen unter 0 Grad fallen, bezahlen sie die Kälte schlimmstenfalls mit dem Leben. Für Menschen, die
Dabei herrscht in Deutschland ein verhältnismäßig mildes Klima. Weiter nördlich, wo im Winter noch verlässlich Schnee fällt und Flüsse gefrieren, müsste es für Wohnungslose noch gefährlicher sein. Doch tatsächlich zeichnet sich in Finnland – wo das Thermometer teilweise auf −25 Grad Celsius sinkt – ein anderes Bild: Wer in Helsinki, Turku oder den anderen Städten der Republik im Freien übernachtet, ist genauso sicher wie zu anderen Jahreszeiten.
Was aber macht das Land im Nordosten Europas besser als der Rest des Kontinents?
Finnische Wohnpolitik: so simpel wie radikal
Rückblick: Dezember 1985. Finnland leidet unter akuter Wohnungsnot. Nicht nur für Familien ist es schwierig, eine vernünftige Bleibe zu finden. Auch kleine Appartements sind heißbegehrt – und deshalb Mangelware. Der Druck auf dem Immobilienmarkt hat weitreichende Folgen: 25.000 Menschen haben keinen festen Wohnsitz in dem Land, das zu diesem Zeitpunkt noch keine 5 Millionen Einwohner zählt.
Es braucht eine Lösung. Und der Arzt Ilkka Taipale und Heikki S. von Hertzen, stellvertretender Leiter der Stadtverwaltung von Helsinki, meinen, sie gefunden zu haben: Sie gründen die
Heute gehört die Philosophie der Y-Stiftung zur Strategie der finnischen Regierung im Kampf gegen die Wohnungslosigkeit. Die Ergebnisse sprechen für sich: Im Jahr 2017 zählt Finnland nur noch 6.700 Obdachlose. Es haben seit Gründung der Y-Stiftung also etwa 18.000 Menschen ein Dach über dem Kopf bekommen. Während im Rest Europas die Wohnungslosigkeit ungebremst zunimmt, ist Finnland heute das einzige Land,
Dabei ist die Strategie der Y-Stiftung so einfach wie erfolgreich.
Der Name ist Programm: »Housing First«
Das Konzept, mit dem Finnland die Wohnungslosigkeit bekämpft, heißt Housing First: Zuerst kommt die eigene Wohnung, dann erst die soziale Arbeit.
In vielen Ländern wird indes das genaue Gegenteil praktiziert, so auch in Deutschland. Hierzulande kommen Obdachlose zunächst in Notunterkünften unter, danach in
Housing First hingegen überspringt alle Zwischenschritte und setzt genau dort an, woran es den Wohnungslosen fehlt: am eigenen Zuhause. Nach dem Einzug können sie soziale Arbeit in Anspruch nehmen; die Hilfsangebote sind aber freiwillig.
Maßgeblich entwickelt wurde dieses Konzept nicht in Finnland, sondern in den USA. Der Psychotherapeut Sam Tsemberis gilt unter Forschenden als geistiger Vater von Housing First. Er gründete in den frühen 90er-Jahren
- Wohnen ist ein Menschenrecht.
- Den Teilnehmenden gebühren Wahlfreiheit und Respekt.
- Wohnung und therapeutische Behandlung werden strikt voneinander getrennt.
- Der Fokus liegt bei erkrankten Teilnehmenden auf dem Heilungsprozess.
- Schädliches Verhalten wie Drogen- oder Alkoholmissbrauch gilt es zu reduzieren.
- Die Annahme der Hilfe ist freiwillig.
- Jede Form von Hilfe ist auf die Teilnehmenden zugeschnitten.
- Unterstützung wird so flexibel wie möglich und so lange wie nötig geleistet.
Ließe sich das nicht auch in Deutschland umsetzen?
Was »Housing First« hierzulande noch bremst
Tatsächlich sind im deutschen Hilfssystem für Wohnungslose bereits Aspekte verwirklicht, die Housing First ähneln. So gilt hierzulande etwa rein formal ein Recht auf Unterbringung. Die Sozialämter sind verpflichtet, Menschen, die zwangsweise wohnungslos sind, eine Bleibe zu beschaffen. Zur Not muss den Betroffenen noch am Tag der Vorsprache ein Hotelzimmer gebucht werden.
Dazu weiß aktuell niemand genau, wie viele Menschen in Deutschland wirklich von Wohnungslosigkeit betroffen sind. Einzig die Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) geben eine Ahnung:
Mit dem sogenannten
- Wohnungsbeschaffung: Etwa 2.500 Sozialwohnungen wurden zur Bekämpfung der Wohnungsnot aus dem Boden gestampft oder von privaten Anbieter:innen akquiriert. Die Y-Stiftung verwaltet inzwischen 17.000 Appartements in mehr als 50 Städten des Landes.
- Sozialarbeiter:innen einstellen: 350 Sozialarbeiter:innen wurden eingestellt, um den Teilnehmenden nach Einzug optimal unter die Arme greifen zu können. Insgesamt konnte das Programm die Wohnungslosigkeit um 35% reduzieren und die Langzeitwohnungslosigkeit gänzlich beenden. In den Jahren 2016–2019 hat Finnland noch einmal nachjustiert und besonders die Präventionspolitik verbessert. Pro Jahr stellte der Staat dafür 9,5 Millionen Euro zur Verfügung.
- Kurzfristig Gelder freimachen: Das Paavo-Programm inklusive Housing First kostete den Staat zunächst einmal Geld. Doch tatsächlich handelt es sich dabei um Investitionen – denn das Konzept spült einiges wieder in die Staatskasse zurück.
Möglich wäre eine Umsetzung sofort, sogar in Krisenzeiten. Ab 2008, als Finnland Housing First einführte, ging es nämlich bergab mit der finnischen Wirtschaft. Der Absturz von Nokia, die Russland-Sanktionen sowie die Finanz- und Eurokrise
Housing First speist sich vor allem aus etwas, das in Deutschland aktuell noch fehlt: dem Willen, etwas radikal zu verändern. Das beweisen auch die Erfahrungen aus Finnland. Die dortigen Obdachlosenheime wurden nach der Einführung geschlossen und zu Appartements umgebaut, um konzentriert eine Strategie zu verfolgen.
Wie »Housing First« hierzulande vorankommen kann
FEANTSA, die EU-weite Dachorganisation der Wohnungslosenhilfe, befürwortet das Konzept von Housing First innerhalb der Europäischen Union und hat eigens dafür einen
Das bis dato größte wissenschaftliche Experiment wurde im Jahr 2013 durchgeführt. In Amsterdam, Budapest, Glasgow, Kopenhagen und Lissabon wurden Versuche gestartet, die vor allem eines belegen: Housing First funktioniert.
Deutschland hat bislang noch kein bundesweit einheitliches Konzept gegen Wohnungslosigkeit entwickelt –
Das heißt aber nicht, dass es keine Initiativen gäbe, die den Wohnungslosen ihre Suche nach einem Dach über dem Kopf abnehmen möchte. In größeren Städten,
Ein Beispiel ist das Modellprojekt
Berlin und NRW zeigen, was möglich wäre
»Ich bin der festen Überzeugung, dass die Finanzierung nach den 3 Jahren weitergehen wird,« erklärt Sebastian Böwe. Er ist Mitarbeiter bei Housing First Berlin und für die Wohnraumbeschaffung zuständig. Anfang 2020 hatten bereits 23 Teilnehmende eine eigene Wohnung, 2 weiteren stand die Schlüsselübergabe kurz bevor.
Aus Sebastian Böwe spricht viel Erfahrung. Seit 2 Jahrzehnten vermittelt er Wohnraum an Menschen ohne Bleibe. Ihm ist bewusst, dass die Hilfe von Housing First nie bedingungslos sein kann. Nach dem Einzug fange die wirkliche Arbeit erst an, sagt er. Arztbesuche, Behördengänge und eventuell Therapien: All das müsse dann organisiert werden. »Mir sind 3 Fälle bekannt, bei denen Wohnungslose ohne Begleitung eine Wohnung bekommen haben. Sie alle sind krachend gescheitert«, erinnert er sich.
Beim Berliner Projekt werden die Teilnehmenden ab Tag 1 wie normale Mieter:innen behandelt. Sie müssen die Kosten für ihre Wohnung selbst tragen, können sich aber vorab um eine Übernahme durch das Sozialamt kümmern.
Etwas anders funktioniert ein zweites Experiment hierzulande: der Housing First Fonds in Nordrhein-Westfalen. Während in Berlin nur Appartements vermittelt werden, kauft der Fonds Wohnraum an und vermietet ihn weiter.
Um die Kosten für den Wohnungskauf begleichen zu können, hat der Fonds in NRW eine im wahrsten Sinne des Wortes kreative Lösung gefunden:
In NRW gestaltet sich die Suche nach passenden Appartements meist schwierig, berichtet Mona Monsieurs, die für die Öffentlichkeitsarbeit des Housing First Fonds zuständig ist. Nicht nur in Bonn und Münster, auch in weniger großstädtischen Regionen wie dem Kreis Mettmann sind kleine Wohnungen heißbegehrt und verschwinden daher schnell vom Markt. Doch die Suche lohnt, hebt Mona Monsieurs hervor: »In vielen Fällen hat sich die Lage der Betroffenen schneller als erwartet stabilisiert.«
In 14 Städten Nordrhein-Westfalens ist der Fonds aktiv, doch die einzelnen Projektträger arbeiten unabhängig voneinander. Auf diese Weise kann die soziale Arbeit individuell geleistet werden. 24 Menschen konnte der Fonds bisher ein Dach über dem Kopf bieten.
Beide Projekte leisten Pionierarbeit, um Housing First in Zukunft in Deutschland flächendeckend umzusetzen. Bei einer zukünftigen Debatte hierzulande können sie ihre Erfahrungen einfließen lassen und Erfolge vorweisen. Und die sind durchweg positiv: Gescheitert im neuen Leben ist bisher noch keiner der Teilnehmenden.
Mit Illustrationen von Mirella Kahnert für Perspective Daily