Du willst nachhaltig mit deiner Zeit umgehen? Dann verschwende sie!
Dieser Text ist kein weiterer Ratgeber für ein besseres Zeitmanagement. Erst, wenn du aufhörst, das Maximum aus deiner Zeit herauszuholen, beginnst du souverän mit ihr umzugehen. So gelingt das.
Was würdest du tun, wenn du täglich eine Stunde mehr zur Verfügung hättest? Es ist eine hypothetische Frage, die eine Gruppe von Wissenschaftler:innen im Februar 2.000 Personen in einer repräsentativen Befragung gestellt hat. In dem Projekt
Wenn jeder Tag 25 Stunden hätte, dann wollten die meisten Befragten in der zusätzlichen freien Stunde schlafen, Sport treiben, sich ausruhen, lesen oder Zeit mit der Familie verbringen.
Die gewohnten Alltagsstrukturen, die Termine, die Verabredungen, die Eile – alles war auf ein Minimum reduziert.
Für viele der
Das Forschungsteam sah nun die einmalige Gelegenheit, zu überprüfen, was Menschen wirklich taten, wenn man ihnen Zeit schenkte.
Die 10 häufigsten Antworten waren:
- Lesen
- Gartenarbeit
- Hausarbeit
- Aufräumen und putzen
- Zeit mit den Kindern verbringen
- Sport treiben
- Fernsehen und Filme schauen
- Haus renovieren
- Zeit mit der Familie verbringen
- Einem Hobby nachgehen
Die Daten ergaben außerdem, dass die Befragten im Schnitt eine halbe Stunde länger schliefen. Das ist es also, was wir tun, wenn der ganze Stress des Alltags endlich einmal vorbei ist.
Nun könnte man einwenden, dass während der bestehenden Kontaktverbote auch keine Veranstaltungen stattfanden, Museen schließen mussten und Reisen nicht möglich waren. Auch Gerrit von Jorck, Ökonom an der Technischen Universität Berlin und Mitglied der »ReZeitkon«-Forschungsgruppe, weist darauf hin, dass die Umfragen nicht ohne Weiteres miteinander zu vergleichen seien. »Was der Vergleich der beiden Befragungszeiträume jedoch sehr schön zeigt, ist, dass es tatsächlich vielfach die basalen alltäglichen Dinge sind, die in unserem Alltag häufig zu kurz kommen.« Also schliefen die Menschen, sie lasen und räumten auf, als Corona es ihnen ermöglichte.
Es scheint, als sehnten sie sich nach Ordnung in einer ungeordneten Zeit. Sie sehnten sich nach dem eigenen Garten, nach dem Buch auf dem Nachttisch, nach den Liebsten in ihrer Nähe und nach dem liebsten Hobby, was immer es sein mag. Den Wunsch, zu arbeiten, einkaufen zu gehen oder mehr Medien zu konsumieren, äußerte kaum jemand.
Kann es sein, dass wir tatsächlich viel minimalistischer veranlagt sind, als die Konsum- und Mediengesellschaft es uns glauben lassen will? Das vermutet auch Gerrit von Jorck. Es zeige sich, dass sich die Wünsche auf die basalen kleinen Dinge und Freuden des Lebens fokussieren. Mehr freie Zeit pro Tag werde vor allem der Befriedigung grundlegender Bedürfnisse gewidmet.
Doch brauchen wir wirklich eine Pandemie, um uns auf das zu besinnen, was wirklich wichtig ist? Jedenfalls führt sie uns vor Augen, dass viele von uns ganz anders leben wollen, als wir es bisher tun. Was hindert uns?
Zeit ist keine Ressource
Es gibt einen Zeitpunkt im Jahr, an dem besonders deutlich wird, dass viele unserer größten Wünsche aus einem Mangel an Zeit resultieren. Als wiederkehrendes Ritual äußern viele Menschen zum Jahresende ihre persönlichen Vorsätze, so als wohne jedem Neujahrstag die Chance inne, das eigene Leben zu ändern.
Bei der
Bei der DAK-Studie fällt aber noch etwas anderes auf, das auf den ersten Blick gar nichts mit unserem Umgang mit der Zeit zu tun hat. Bei den Vorsätzen für das Jahr 2020 hatte sich erstmals ein zuvor kaum genannter Wunsch ganz oben in der Liste eingereiht. Rund 2/3 der Befragten wollten auf einmal noch etwas ändern. Sie fassten den Vorsatz, sich künftig umwelt- und klimafreundlicher zu verhalten.
Die Umweltbewegung Fridays for Future hat also nicht nur eine politische Jugend sichtbar gemacht. Sie hat die Menschen auch dazu motiviert, nachhaltiger zu konsumieren. Alle schienen endlich verstanden zu haben, dass die Ressourcen der Erde begrenzt sind und die Erschöpfung dieser Ressourcen unsere Lebensgrundlage bedroht. Das Ziel einer ökologischen Lebensweise war in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Unser Problem mit der Zeit scheint ähnlich gelagert zu sein: Weniger Stress zu haben und die eigene Zeit sinnvoller zu nutzen, deutet auf den Wunsch hin, auch mit der Ressource Zeit schonender umzugehen. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Etwas ist anders mit der Zeit.
Denn anders als natürliche Ressourcen wie Wasser oder Öl, die sich durch ihren Verbrauch erschöpfen, bleibt die Zeit immer gleich. Man kann ihr nichts entnehmen wie einer Kohlehalde. Sie wächst auch nicht nach wie ein Wald. Zeit fließt einfach dahin, unbeeindruckt davon, wie wir sie nutzen. Egal, was wir machen und wie schnell wir es tun: Es ist nicht möglich, Zeit zu gewinnen, ebenso wenig, wie wir Zeit verlieren können.
Auf der ständigen Suche nach Sinn und Erfüllung erschöpfen wir unsere eigenen Ressourcen.
Wenn wir von einem schonenden Umgang mit der Zeit sprechen, müssen wir also erst einmal damit aufhören, von der Zeit als Ressource zu sprechen. Das, was wir erschöpfen, ist nicht die Zeit. Wir verbrauchen keine Sekunden und Minuten. Das, was wir verbrauchen, sind unsere persönlichen körperlichen und geistigen Ressourcen, mit denen wir immer das Beste aus der Zeit herausholen
Nachhaltig zu leben und zu konsumieren ist zu einem der wichtigsten Vorsätze einer Mehrheit der Bevölkerung geworden. Würden wir aber den Maßstab einer nachhaltigen Lebensweise auch dann anlegen, wenn es um die Frage geht, wie wir mit der Zeit umgehen, dann müssten wir uns wohl eingestehen, dass wir kein besonders zeitökologisches Leben führen.
Warum uns die Zeit fehlt
Dass Zeit knapp ist, ist eine Prämisse, auf der unsere Lebensplanung beruht. Das gilt für beide Bereiche, die im Wesentlichen unseren Alltag prägen: die Arbeit und das Privat- und Familienleben. Wir sind sorgsam darauf bedacht, beides voneinander zu trennen, obwohl sich diese Trennung wegen der Zunahme
Diese Denkweise führt dazu, dass die Arbeitswelt der Arbeit vorbehalten ist, also der Leistung, der Anstrengung und Produktivität, während die Freizeit all den Dingen vorbehalten ist, die wir sonst noch im Leben tun und erreichen wollen. Doch das Problem dabei ist: Es ist nicht nur die Arbeitszeit, in der wir Aufgaben verdichten. Längst denken wir auch in unserer Freizeit in Kategorien wie Nutzen, Produktivität und Effizienz.
Beide Lebensbereiche sind geprägt von Zielen und einer Knappheit an Zeit, die uns zur Erreichung dieser Ziele zur Verfügung steht. Beide Sphären sind voll mit Aufgaben und der Wunsch, sich einmal richtig zu entspannen, ist nur ein weiterer Punkt auf unserer To-do-Liste geworden. Dafür hat sich die seit Jahren wachsende
Der Soziologe Andreas Reckwitz bringt diese Denkweise, dass wir selbst banale Tätigkeiten wie Waldspaziergänge mit größter Bedeutung aufladen und in ein termingebundenes Ereignis verwandeln, auf den Punkt. In seinem aktuellen
Idealerweise sollten sämtliche Segmente des Alltagslebens nicht (nur) Mittel zum Zweck sein, sondern um ihrer selbst willen getan werden und dadurch erfüllend und subjektiv sinnstiftend sein.
Andreas Reckwitz spricht in dem Zusammenhang von einer »Positivkultur der Emotionen«. Wir seien auf der ständigen Suche nach Sinn, Erfüllung, Erlebnis und Entfaltung. Doch dabei seien wir auch stets konfrontiert mit der Kehrseite dieses Anspruchs: Enttäuschung, Überforderung, Angst, Sinnlosigkeit. Sie zeige sich immer dann, wenn die subjektive Erfüllung wieder einmal nicht eingetreten ist. »Für den Umgang mit diesen negativen Emotionen fehlt in der spätmodernen Kultur jedoch der legitime Ort«, schreibt Reckwitz.
Die »Positivkultur der Emotionen«, der Wunsch der Entfaltung in allen Lebensbereichen, hat laut Reckwitz seine Grenzen erreicht. Nicht nur auf gesamtgesellschaftlicher Ebene stoße das Modell des Wachstums an ökologische Grenzen. Auch für das Subjekt könne man Grenzen des Wachstums konstatieren. »In diesem Sinne wäre eine weniger enttäuschungsanfällige Lebensform auch eine ökologischere – ökologisch im Verhältnis zu den endlichen psychischen (und körperlichen) Ressourcen des Subjekts«, schreibt er.
Es ist nicht länger zu übersehen, dass die Ökonomie der Entspannung eine Reaktion auf eine erschöpfte Gesellschaft ist, die sich, wie wir jetzt wissen, vor allem nach Ruhe und Ausgleich zum stressigen Alltag sehnt. Wäre es daher nicht angebracht, die eigenen Ansprüche an unsere Zeitgestaltung zu hinterfragen und dem bisherigen, ökonomischen Zeitverständnis einen zeitökologischen Lebensstil entgegenzusetzen?
Die Insel der Untätigen
Vielleicht ist ein solcher zeitökologischer Lebensstil gar nicht so schwer zu erreichen, wie wir vermuten. Zwar braucht es strukturelle Veränderungen wie flexible Arbeitszeitmodelle und neue, politisch durchgesetzte Systeme wie ein
Doch wenn wir die Reduzierung von Arbeitszeit wiederum dazu nutzen, die frei gewordene Zeit optimal zu nutzen, verlagert sich das Problem nur. Selbst dann, wenn es uns gelungen sein sollte, zum Beispiel ein Grundeinkommen zu etablieren, besteht die Gefahr, dass wir die Leistungsprinzipien des Arbeitslebens künftig weiter auf die gewonnene Freizeit anwenden, sie vielleicht sogar stärker dort anwenden, weil die Freizeit ja eine Aufwertung erfahren soll.
Wir müssen also nicht nur Strukturen verändern, sondern auch die Art und Weise, wie wir über die Zeit denken und wie wir mit ihr umgehen. Damit können wir sofort beginnen. Bei dem Wunsch, die eigene Zeit bloß nicht ungenutzt zu lassen, verkennen wir häufig, dass die größte Qualität der Zeit oft in jenen Tätigkeiten liegt, die nicht mit konkreten Absichten verbunden sind. Wenn wir etwas tun, das wir von innen heraus tun wollen, ohne ein Ziel daran zu knüpfen. Was dann passiert – oder passieren kann – beschreibt der Soziologe Hartmut Rosa mit dem Begriff »Resonanz«.
Dabei arbeite ich nicht etwas ab oder erledige eine Aufgabe, sondern lasse mich auf eine Sache ein, die mir wirklich etwas bedeutet, die mich innerlich berührt und bewegt. Ich bin nicht nur passiv berührt, sondern antworte auf das, was mich da anruft und erfahre mich dabei auch als selbstwirksam.
Wie wir in einem Alltag, der von Aufgaben und Terminen geprägt ist, Zeit finden für solche Momente der Resonanz, habe ich in einem früheren Artikel beschrieben. Darin spreche ich von »Inseln der Zeit«, die uns zugänglich sind. Damit meine ich Auszeiten in unserem Alltag, die wir souverän gestalten können. Etwa, indem wir unser Lebenstempo bewusst senken (»Die Insel der Langsamkeit«), bewusste Pausen einlegen (»Die Insel der Achtsamen«) oder ganz ohne Optimierungsdruck einfach mal
Hier kannst du meinen Artikel über die »Inseln der Zeit« nachlesen:
Die Befragungen zur Zeitgestaltung der Menschen vor und während Corona zeigen, wo eine weitere Insel der Zeit liegen könnte. Es gibt den großen Wunsch, weniger Stress zu haben und mehr Zeit für Ruhe und Erholung sowie für einfache Dinge wie Gartenarbeit, Hobbys und Zeit mit der Familie. Es spielt keine Rolle, welche Tätigkeiten oder Untätigkeiten das genau sind. Es geht um ihren Charakter. Darum, dass wir Dinge aus eigenem Interesse tun. Dass wir sie absichtslos tun und nicht unter dem Kriterium der Nützlichkeit betrachten. Darum, dass diese Dinge offen sind und keinem vorgegebenen Verlauf folgen.
Eine bessere Bezeichnung fällt mir gerade nicht ein, als den Ort, an dem wir so sein und handeln können, die »Insel der Untätigen« zu nennen. Was wir dort am besten tun oder sein lassen, ist uns selbst überlassen. Es wäre vollkommen nutzlos, darüber nachzudenken.
Mit Illustrationen von Mirella Kahnert für Perspective Daily