Legt die Regierung behinderte Menschen in Ketten?
An den Reichstag ketten, in der Spree baden, sich in einen Käfig sperren: Die Aktivisten im Kampf für ein besseres Teilhabegesetz waren kreativ, aber nur mäßig erfolgreich. Was bedeutet das neue Gesetz aus der Sicht von Menschen mit Behinderung?
Stelle dir vor, du wärst gezwungen, deine gesamte Freizeitplanung mit deinen Nachbarn abzustimmen. Ihr müsstet euch am Montag auf einen Kinofilm einigen – obwohl du eigentlich lieber zum Fußballspiel deines Lieblingsvereins gehen wolltest. Am Dienstag würdest du gern deine Freunde treffen, weil dein Nachbar aber nicht allein zu Hause bleiben kann, musst du ihn mitnehmen. Am Mittwoch wolltest du ins Theater, dein Nachbar allerdings in ein Musical und deine Nachbarin wiederum in eine Bar. Und ihr müsst nun ausdiskutieren, wessen Wunsch erfüllt wird und wer sich fügen muss. Unvorstellbar? Aber genau das hat die Bundesregierung für Menschen mit Behinderung geplant. Denn laut dem neuen Bundesteilhabegesetz sollen sie ihre Assistenten teilen und damit ihre gesamte Tagesplanung aufeinander abstimmen.
»Mehr möglich machen, weniger behindern«
Unter dem Motto
Andrea Nahles ist Bundesministerin für Arbeit und Soziales und sozusagen die Gesetzesmutter. Vieles hat sie den Betroffenen versprochen. Vor allem wollte sie die längst überfällige
Niemandem soll es mit dem
Die Verbesserungen, von denen Andrea Nahles redet, beziehen sich vor allem auf die Einkommens- und Vermögensanrechnung. Bisher konnten behinderte Menschen, die auf Assistenzleistungen angewiesen waren:
- nicht mehr als 2600 Euro ansparen
- nicht fürs Alter vorsorgen
- keine Autos oder Immobilien erwerben
- nicht erben oder vererben
Mit dem geplanten Teilhabegesetz soll sich das ändern: Die Ehepartner sollen komplett aus der Pflicht genommen, Riester-Rente und selbstgenutztes Wohneigentum nicht mehr angerechnet werden. Und es darf ein Betrag von bis zu 50.000 Euro angespart werden. Des Weiteren soll das Gesetz die Selbstbestimmung bezüglich der gesamten Lebenssituation stärken. Andrea Nahles erklärte:
Nicht mein Gesetz
Die Worte der Sozialministerin hatten für die Betroffenen vielversprechend geklungen. Dass dann aber Zehntausende behinderte Menschen und Unterstützer unter dem Motto »Nicht mein Gesetz«
Auf dem Weg zum Gesetzentwurf hatten sich Menschen mit Behinderung und Behindertenverbände bei der Entwicklung der Gesetzestexte beratend eingebracht und auf Fehleinschätzungen hingewiesen. Umso größer war die Enttäuschung, als die Betroffenen im Entwurf
- »Ambulant vor stationär« entfällt:
»Jeder hat die Möglichkeit, dort zu leben, wo er will«, versprach Andrea Nahles. Dieses Recht war bislang mit dem Grundsatz
Im neuen Gesetzentwurf fehlt dieser Grundsatz jedoch komplett – vielen Menschen mit Behinderung könnte also gegen ihren Willen - »Pooling« statt individueller Assistenz:
Bisher suchten sich behinderte Menschen mit Assistenzbedarf ihre Assistenten aus – und das hat einen guten Grund: gegenseitiges Vertrauen. Schließlich kommt man sich gerade bei Hilfe im Hygienebereich recht nahe. Assistenten richten sich in ihrem Arbeitsplan nach den Bedürfnissen der Assistenznehmer, die auf diese Weise ein selbstbestimmtes Leben führen können.
Mit dem geplanten Bundesteilhabegesetz könnte sich das jetzt ändern: Assistenznehmer können dazu verpflichtet werden, sich ihre Assistenten mit ihnen unbekannten anderen Menschen teilen zu müssen – schlicht, weil es weniger kostet. Sobald das »Pooling« angewandt wird, müssen Menschen mit Behinderung also ein Stück ihrer Selbstbestimmung für die anderen Menschen opfern, mit denen sie sich den Assistenten gerade teilen. - Wer ist »behindert genug« für Leistungen?
Grundsätzlich ist es wichtig, exakte Definitionen zu schaffen, um Willkür zu verhindern. Deshalb gibt es im Gesetzentwurf die neue
Das können Menschen mit einer Hör- oder Sehbehinderung, Lernbehinderungen oder psychischen Behinderungen sein. Sie sind häufig nur in 1 oder 2 Lebensbereichen eingeschränkt und haben damit in Zukunft keinerlei Anspruch mehr auf Leistungen.
Was bedeutet das für das tägliche Leben dieser Menschen? Zum Beispiel würden hörgeschädigte Menschen vermehrt klagen müssen, um ihr - Für wen verbessert sich die Vermögenssituation tatsächlich?
Einer der Kernpunkte des Gesetzentwurfs: Finanzielle Eigenständigkeit. Menschen mit Behinderung warten schon lange darauf, selbst Geld sparen und das verdiente Geld auch wirklich behalten zu dürfen. Andrea Nahles hatte hier klare Verbesserungen versprochen – die aber nicht für alle behinderten Menschen umgesetzt werden: Nur Menschen mit Assistenzbedarf, die einen Arbeitsplatz haben, sollen bis zu 50.000 Euro ansparen dürfen. Und ausschließlich deren Lebenspartner werden nicht finanziell belastet.
Sobald ein behinderter Mensch, der Assistenzleistungen erhält, seinen Arbeitsplatz verliert oder arbeitsunfähig wird, sind die neuen Zugeständnisse hinfällig. Denn die Assistenzleistungen werden dann nicht mehr als sogenannte Eingliederungshilfe bezahlt, sondern als »Hilfe zur Pflege«. Und hier gilt, was schon jetzt der Fall ist: Wer nicht arbeitet, darf nur bis zu 2600 Euro ansparen, nicht erben und nicht vererben und auch ihre Lebenspartner
Aus der Niederlage lernen
Diese 4 wichtigsten Kritikpunkte haben tausende Menschen mit und ohne Behinderung auf die Straßen gebracht. Trotz aller Anstrengungen der Aktivisten tritt das Bundesteilhabegesetz voraussichtlich im Dezember in Kraft. Die Kritik bleibt: »Natürlich gibt es einige Verbesserungen im Gesetz. Den allseits gepriesenen Paradigmenwechsel kann ich derzeit nicht erkennen«,
Vor allem der weite Ermessensspielraum der Behörden macht es für Betroffene wie Grosch schwieriger, ihre Rechte einzufordern. Sie können bestimmen, was für einen Menschen mit Behinderung »zumutbar« ist und welche Assistenzleistungen er erhält. Klare Formulierungen dafür finden sich unter anderem in der »5 von 9«-Regelung nicht.
In den letzten Zügen erreichte die Aktivisten eine Nachricht aus Bayern. Das Land überlege sich, ein Veto gegen den Gesetzentwurf einzulegen. Constantin Grosch wägt ab: »Realistisch gesehen würde ein Veto des Freistaates Bayern die Beteiligten wohl noch einmal an einen gemeinsamen Tisch bewegen.« Dass ein neuer Entwurf dann aber noch vor der Bundestagswahl im nächsten Jahr entstehe, scheint ihm aber eher unwahrscheinlich.
Auch wenn der Kampf um das Bundesteilhabegesetz in mehreren Punkten nicht erfolgreich war, gab es eine große Menge konstruktiver Erkenntnisse darüber, wie Aktionen erfolgreich auf gesellschaftliche Probleme aufmerksam machen können. Für Grosch steht fest: »Noch nie war die Behindertenbewegung so stark wie heute, besonders in sozialen Medien. Es ist ein neues Phänomen, dass Menschen mit Behinderung selbstbewusst in den Kampf um die eigenen Rechte ziehen – und gegenüber Wohlfahrtsverbänden, Heimbetreibern und Organisationen von Leistungserbringern zunehmend an Deutungshoheit gewinnen. Dieses neue Selbstbewusstsein wird nicht so schnell verschwinden – und das ist auch gut so!«
Heute tagt die Arbeitsgemeinschaft der Großen Koalition zum letzten Mal und diskutiert über mögliche Änderungen im Gesetzentwurf. In seiner endgültigen Form wird das Gesetz im Dezember im Deutschen Bundesrat beschlossen.
Titelbild: Andi Weiland / Gesellschaftsbilder - copyright