Thomas Galli hat 15 Jahre lang im Strafvollzug gearbeitet und selbst Gefängnisse geleitet. Heute will er sie abschaffen – und macht Vorschläge für ein gerechteres Justizsystem.
Strafe muss sein, klar. Ohne Regeln funktioniert das Zusammenleben nicht. Wenn Gesetze gebrochen werden, muss das Konsequenzen haben. Doch schon an dieser Stelle wird es kompliziert. Welche Strafe ist angemessen? Und was soll sie erreichen?
Als Gesellschaft haben wir diese Fragen weitgehend ausgelagert, an das Justizsystem und den Strafvollzug. Die ultimative Antwort des Staates auf Grenzüberschreitungen lautet: Gefängnis.
Eine Kriminalstrafe bedeutet, mit absichtlicher Übelzufügung durch staatliche Organe auf kriminelle Taten zu reagieren.
Thomas Galli kennt sich mit Gefängnissen aus. Er hat 15 Jahre seines Lebens im Strafvollzug gearbeitet, davon mehrere Jahre als Leiter der Justizvollzugsanstalt (JVA) Zeithain in Sachsen. Als ihn eine Reporterin vor seiner Anstalt einmal fragte, was er mit den knapp 400 Gefangenen machen würde, wenn es nach ihm ginge, antwortete er: »Ich würde alle freilassen«. Kurze Zeit später kündigte er. In erzählt Galli, wie ihn der Gefängnisalltag zu der Erkenntnis brachte, dass wir künftig andere Formen des Strafens brauchen.
Früher waren Sie Strafvollzugsbeamter, jetzt sind Sie Aktivist gegen das Gefängnissystem. Sie hätten auch einfach Ihren Job wechseln können. Warum finden Sie es so wichtig, dass wir über den Strafvollzug nachdenken?
Thomas Galli:
Das ist auch für mich eine interessante Entwicklung, die so nicht geplant war. Nach 15 Jahren im Strafvollzug bin ich aber zu der Überzeugung gekommen, dass in diesem System vieles falsch läuft: dass es viele Ungerechtigkeiten und Probleme gibt, die öffentlich besprochen werden müssen. Es gibt viele falsche Vorstellungen über den Strafvollzug und Gefängnisse und noch viel Aufklärungsbedarf. Ich habe das Gefühl, dass ich hier etwas bewirken und mich so für weniger Gewalt in unserer Gesellschaft einsetzen kann.
Warum funktioniert das System Gefängnis aus Ihrer Sicht nicht?
Thomas Galli:
Es ist ein extremer Machtkontext. Es findet keine Begegnung auf Augenhöhe statt, sondern eine große menschliche Abwertung der Inhaftierten. Das geht damit los, dass sie oft Gefangenenkleidung tragen müssen. Und dann gibt es 1.000 kleine Mechanismen: Inhaftierte müssen alles beantragen, von außen wird bestimmt, mit wem sie Kontakt haben dürfen, wer sie besuchen darf …
Wenn man versucht, sich in die Machtlosen hineinzudenken, dann wird einem klar, dass das nichts Positives bewirken kann, sondern Frustrationen und Aggressionen fördert, und sich der Bestrafte noch mehr von der Gesellschaft abwendet.
Was macht das mit Menschen wie Ihnen, die im Strafvollzug arbeiten?
Thomas Galli:
Freiheitsstrafe ist die Zufügung eines Übels. Daran wirken die Angestellten im Strafvollzug jeden Tag bewusst oder unbewusst mit. Die allermeisten Menschen, die ich im Strafvollzug kennengelernt habe, sind engagierte und soziale Menschen, die keine Freude daran haben, andere Leute zu quälen. Trotzdem müssen sie die Inhaftierten sehr repressiv behandeln, weil sonst die Anstalt überhaupt nicht funktionieren würde.
Warum nicht?
Thomas Galli:
In den Anstalten sind ein paar Hundert Menschen, Das würde nicht funktionieren, wenn sich jeder seinen Haftraum aussuchen könnte, wann er aufsteht, was er tagsüber macht. Sie müssen mit einem relativ kleinen Stab von Beamten eine relativ große Menge von Inhaftierten verwalten. Das geht nur mit einer Tagesordnung, bei der alles minütlich vorgegeben ist: wer wo arbeitet, wer wann an welcher Maßnahme teilnehmen muss, wann Hofgang ist. Es gibt für die Inhaftierten auch in zeitlicher Hinsicht sehr wenig Freiräume.
Über das »Verwalten von Menschen« schreiben Sie auch in Ihrem Buch. Darin liegt etwas Entmenschlichendes, das dem eigentlichen Ziel der Freiheitsstrafe entgegengesetzt scheint: der Resozialisierung und der Wiedereingliederung in die Gesellschaft.
Wenn klar ist, dass das Gefängnis in dieser Hinsicht niemandem nutzt – warum besteht es dann überhaupt noch in dieser Form?
Thomas Galli:
Es nutzt nicht in dem Sinne, der dem System offiziell gegeben wird. Es schafft keine Gerechtigkeit, die Allgemeinheit ist durch das Gefängnis nicht besser geschützt und es wird auf die Gefangenen auch nicht so eingewirkt, dass die Kriminalitätswahrscheinlichkeit sinkt. Aber natürlich wirft dieses System Profite ab, die einigen Menschen bewusst oder unbewusst nutzen. Einerseits verdienen Menschen Geld mit dem System – wie übrigens auch ich in meiner Rolle als Rechtsanwalt.
Aber einer der Hauptgründe ist, dass viele Menschen einfach falsche Vorstellungen vom Strafvollzug haben. Bei Diskussionen frage ich immer erst mal in die Runde: Was für ein Bild habt ihr vom Gefängnis? Viele denken, dort säßen zu einem Großteil Sexualstraftäter und Mörder, und können es gar nicht glauben, wenn man ihnen sagt, dass ungefähr die Hälfte Vermögenstäter sind und auch viele wegen Schwarzfahren sitzen.
Woher kommt diese Fehleinschätzung?
Thomas Galli:
Die Justiz kommt ihrer kommunikativen Aufgabe zu wenig nach. Das Gefängnis erfüllt eine Art Ablenkungsfunktion. Es wird der Eindruck vermittelt: Der Staat tut etwas gegen Ungerechtigkeit und gegen Leute, die anderen Menschen Schaden zufügen. Bei Lichte betrachtet tut er es aber meist dort, wo es am einfachsten ist und wo es am wenigsten Widerstand gibt.
der im Supermarkt noch eine Flasche Schnaps klaut, vom Detektiv erwischt wird und diesen von sich wegstößt. Das ist dann räuberischer Diebstahl. Der Mann geht in den Knast. Dagegen gibt es Menschen, die der Allgemeinheit viel größeren Schaden zufügen, im politischen oder wirtschaftlichen Bereich. Das sind sicher nicht alles Probleme, die man mit dem Strafrecht lösen kann, es wird aber auch ein bisschen davon abgelenkt, hier genauer hinzuschauen. Die Kleinkriminellen erfüllen ein Stück weit eine Sündenbockfunktion.
»Es gibt ein menschlich tief verankertes Bedürfnis nach Gerechtigkeit«
Nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd gingen Menschen in den USA und weltweit auch deshalb auf die Straße, weil sie eine gerechte Strafe für den Täter fordern. Wenn nicht mit Gefängnissen – wie wird man dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Strafe dann gerecht?
Thomas Galli:
Es gibt ein menschlich tief verankertes Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Das hat die sozialpsychologische Forschung nachgewiesen und es macht auch Sinn, zutiefst wütend und empört zu sein, wenn ein Polizist, der für den Tod eines Menschen verantwortlich ist, einfach so davonkommen würde. Aber ich würde immer dazu ermuntern, dieses Bedürfnis, das in uns allen steckt, zu reflektieren.
Vielleicht geht es bei den Protesten gar nicht so sehr darum, wie der Mann bestraft wird, und die Empörung richtet sich eher darauf, dass seine Tat von offizieller Seite nicht als Unrecht dargestellt wird. Menschen wollen, dass anerkannt wird: Das ist ein Vorgang, an dem wir nicht vorbeigehen können, ohne etwas zu tun. Hier ist ein Unrecht geschehen. Was konkret als Strafe verhängt wird, ist oft viel weniger wichtig, wie auch Opferbefragungen zeigen.
Momentan gibt es allerdings nur eine Sprache des Staates, um Unrecht und Missbilligung auszudrücken – und das ist die Länge einer Freiheitsstrafe. Diese Sprache müssen wir fortentwickeln.
Wie?
Thomas Galli:
Ich plädiere in meinem Buch dafür, dass auch weiterhin Staatsanwälte ermitteln und Gerichte ein Urteil fällen. Aber dieses Urteil soll nur noch darin bestehen, dass die Gerichte feststellen, wie schwer das Unrecht wiegt. Danach öffnet sich ein breiter Rahmen möglicher Rechtsfolgen. Es könnte ein Gremium eingesetzt werden, das keine juristische Entscheidung mit dem Automatismus einer Freiheitsstrafe trifft, sondern und auch darauf, wie man sinnvoll mit dem Täter umgeht und darauf hinwirkt, dass er weniger häufig kriminell wird.
So könnten gerechtere Entscheidungen im Einzelfall ermöglicht werden. Ein Gericht kann im Fall von George Floyd also feststellen: Das war Mord oder Totschlag. Aber welche Rechtsfolge den Polizisten trifft, ist eine andere Frage und sollte auch davon abhängig gemacht werden, was sich die Hinterbliebenen wünschen.
Sie meinen, wir müssen uns als Gesellschaft eher auf Verantwortung als auf Schuld fokussieren.
Thomas Galli:
Gerade arbeiten wir nach dem Prinzip Schuld und Vergeltung. Das Gericht schaut, wie hoch die Schuld ist, die jemand auf sich geladen hat, und rechnet sie in eine Freiheitsstrafe um. Das ist eine gesetzlich geregelte Form der Rache, die wir reflektieren müssen. Wir müssen uns fragen: Was erreichen wir damit? Und was erreichen wir nicht?
Die Täter müssen für den Schaden, den sie ihren Opfern, aber auch der Gesellschaft insgesamt zugefügt haben, bestmöglich in die Verantwortung genommen werden. Das kann nie zu 100% funktionieren. Wenn Sie jemanden umgebracht haben, können Sie denjenigen nicht wieder zum Leben erwecken. Aber ich würde schon sagen, dass in allen Fällen zumindest ein Teil des Schadens wiedergutzumachen ist und damit auch heilende Wirkung bei den Opfern und ihren Angehörigen erzielt werden kann.
Was steht dem im Weg?
Thomas Galli:
Von unserem jetzigen System wird die Übernahme von Verantwortung kaum gefördert und manchmal richtiggehend torpediert, Das war jemand, der damals Waffen besorgt hat. Vor Gericht zeigte er sich aufrichtig reuig. Viele haben ihm das abgenommen, auch die Tochter eines Ermordeten, die ausdrücklich darum gebeten hat, Doch er wurde zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Das ist nur ein Beispiel, das aber eben auch zeigt: Das System, wie wir es jetzt kennen, hilft den Opfern oft nicht, obwohl es damit begründet wird.
»Wir haben eine Verantwortung, uns mit den sozialen Ursachen von Straftaten zu beschäftigen«
Das aktuelle System hat etwas sehr Mechanistisches. Eine Tat wird umgerechnet in eine bestimmte Strafe. Dieser Mechanismus ermöglicht auch, dass wir uns als Gesellschaft nicht weiter damit auseinandersetzen müssen. Entziehen wir uns damit der Verantwortung für die Umstände, die überhaupt erst zu manchen Taten führen?
Thomas Galli:
Absolut. Das Prinzip der Verantwortung gilt beidseitig, für die Gesellschaft und für jeden von uns individuell. Ich bin nicht dafür, alles auf eine schwere Kindheit zu schieben. Aber jede Straftat hat gesellschaftliche und soziale Ursachen. Die verdrängen wir und werden unserer Verantwortung nicht gerecht, uns entsprechend damit zu beschäftigen.
Ich war 15 Jahre in verschiedenen Anstalten im Strafvollzug und habe bestimmt mit ein paar Tausend Inhaftierten intensiveren Kontakt gehabt, ihre Akten gekannt und sie auch ein bisschen als Mensch kennengelernt. Darunter war kein Einziger, bei dem die Taten aus dem Nichts kamen. Alle hatten einen hochproblematischen persönlichen Hintergrund.
Das darf nicht dazu führen, dass man sie aus der Verantwortung entlässt, wenn sie anderen Menschen Schaden zufügen. Aber es müsste doch dazu führen, dass wir jede Straftat auch als Symptom eines sozialen Problems betrachten. Als Hilferuf oder als Hinweis, näher hinzuschauen. Das findet viel zu wenig statt – und das liegt auch an unserem Schuldbegriff, der davon ausgeht, dass es sich um Damit machen wir es uns viel zu leicht.
Eine Passage in Ihrem Buch hat mich überrascht. Sie schreiben: »Der Mensch ist nicht grundsätzlich schlecht, er ist vielmehr grundsätzlich gut«. Sie bestreiten aber auch nicht, dass es sadistische Gewalttäter:innen und Mörder:innen gibt. Wie kommen Sie trotzdem zu dieser Aussage?
Thomas Galli:
Im Gefängnis trifft man nicht unbedingt die schlechteren Menschen als außerhalb der Gefängnismauern. Man trifft Menschen, die Regeln nicht einhalten konnten, die für andere vielleicht leichter einzuhalten sind. Natürlich trifft man Menschen, die anderen etwas Schlechtes angetan haben. Es waren aber nur einige wenige, bei denen ich gesagt hätte: Denen ist überhaupt nicht zu trauen. Alle anderen sind menschlich ansprechbar und erreichbar und haben ganz normale menschliche Gefühle und Bedürfnisse. Ich kann mich wirklich nicht daran erinnern, dass ich von einem Inhaftierten mal persönlich enttäuscht worden wäre. Ich habe im Knast kein negatives Menschenbild bekommen.
Die kriminologische Forschung bestätigt: Jeder Mensch ist liebesfähig, hat Empathie und möchte mit anderen Menschen zurechtkommen. Die Strukturen müssen darauf gerichtet sein, das Gute im Menschen zu fördern, am besten von der Kindheit an.
Sie plädieren für individuelle Lösungen und Maßnahmen, bei denen die Interessen aller Beteiligten – Opfer, Täter:innen, Gesellschaft – bestmöglich berücksichtigt werden. Wie soll das praktisch umgesetzt werden?
Thomas Galli:
Unser Strafrecht beinhaltet derzeit eine ganze Reihe von Bagatelldelikten wie Diebstahl, die davon nicht unbedingt erfasst werden müssten. Diese sollten nicht legalisiert werden, man könnte sie aber als Ordnungswidrigkeit behandeln. Dann stünden mehr personelle Ressourcen zur Verfügung. Befragungen ergeben eindeutig, dass die Bevölkerung an der Inhaftierung von zum Beispiel Schwarzfahrern kein Interesse hat, sondern gemeinnützige Arbeit zur Schadenswiedergutmachung bevorzugen würde. Die Mehrheit der Bevölkerung ist schon viel weiter als das Justizsystem.
Ich schlage vor, Gremien einzusetzen, die nach dem gerichtlichen Verfahren Konflikte aufarbeiten. Diese Gremien könnten mit Personal besetzt werden, das jetzt ohnehin schon im Strafvollzug tätig ist. Es müssten keine zusätzlichen Kosten entstehen. Es würde sogar Kosten sparen, wenn man sich nur auf schwerere Fälle konzentrieren würde.
Sie wollen, dass in Gremien zur Konfliktaufarbeitung nicht nur juristische Expert:innen, sondern auch »ganz normale« Bürger:innen mitwirken. Warum?
Thomas Galli:
Nur, wenn die Menschen wirklich mit Tätern und Opfern konfrontiert sind, können sie auch ein Gespür für die sozialen Ursachen von Straftaten bekommen. Wenn wir es schaffen, dass in diesen Gremien 2 Bürger aus dem Umfeld des Opfers sitzen und 2 Bürger aus dem Umfeld des Täters, könnte sich ein neuer Blick eröffnen. Vielleicht stellt sich heraus, dass in einer bestimmten Wohngegend immer wieder dieselben Straftaten vorkommen. Und vielleicht auch, dass in diesem Gebiet viele alleinerziehende Mütter oder viele Arbeitslose leben. Dann fängt man vielleicht an, sich Gedanken darüber zu machen, was man dort für die Jugendlichen tun könnte.
Was Sie beschreiben, ist auch unter dem Namen bekannt. Gibt es dafür schon Präzedenzfälle?
Thomas Galli:
Es gibt Elemente von »Restorative Justice« in unserem Recht: Aber er ist kein Schwerpunkt der Verfahren. Bei Jugendlichen wird das oft angewendet und beim Strafmaß zum Beispiel berücksichtigt, ob kleinere Geldbeträge zur Wiedergutmachung an das Opfer gezahlt werden. Bei Erwachsenen kommt das kaum zum Einsatz und hat gerade bei schwereren Delikten so gut wie keinen Einfluss.
In Brasilien gibt es das Eine christliche Organisation hat angefangen, Ein wesentlicher Teil dieses Systems ist die Auseinandersetzung der Gefangenen mit den unmittelbaren Opfern, wenn diese das wollen. Aber auch in Brasilien hat der Gedanke der »Restorative Justice« die Strafjustiz nicht komplett verändert oder ersetzt. Auch aus anderen Ländern ist mir das nicht bekannt.
Sie wollen Gefängnisse abschaffen. Verstehen Sie, dass dieser Gedanke manchen Menschen Angst macht?
Thomas Galli:
Diese Angst hat in den letzten Jahren spürbar abgenommen, zumindest insofern sie an mich kommuniziert worden ist. Möglicherweise, weil das Thema inzwischen auch medial tiefer und differenzierter aufgegriffen wird. Noch vor einigen Jahren bekam ich nach jedem Medienauftritt Zuschriften von Opfern, beispielsweise von Vergewaltigungen, die meine Thesen als Schlag ins Gesicht empfanden.
In diesen Fällen habe ich mich persönlich mit den Opfern auseinandergesetzt und mir angehört, was sie empfinden und was sie sich wünschen. Die Opfer wollen lebenslang vor den Tätern geschützt sein, das finde ich sehr nachvollziehbar. Opfer von Sexualdelikten wollen die Täter nie wiedersehen müssen und sie wollen, dass sie auch anderen nichts antun.
Nun ist es aber auch heute so, dass Täter nach einer gewissen Zeit entlassen werden und wieder Straftaten begehen. Die Opfer haben meist nicht das Bedürfnis, dem Täter übermäßig zu schaden, sondern sind daran interessiert, die Rückfallgefahr zu reduzieren.
Gerade kennen wir als Antwort auf eine Straftat nur eine einzige Antwort – und die lautet Gefängnis. Solange das so ist, verstehe ich, dass meine Forderung, Gefängnisse abzuschaffen, Opfer von Straftaten kränkt und verletzt. Aus meiner Erfahrung ist das aber nicht mehr der Fall, wenn man anfängt, alternative Wege zu diskutieren.
Sie sagen selbst, dass Straftaten eigentlich nie aus dem Nichts begangen werden. Kann es da nicht auch sinnvoll sein, Täter:innen mithilfe einer Gefängnisstrafe aus ihrem Milieu herauszuholen?
Thomas Galli:
Natürlich kann es sinnvoll sein, Menschen zum Beispiel aus dem Drogenmilieu herauszuholen. Oder auch Menschen, die häusliche Gewalt ausüben – zum Schutz der Opfer. Aber der zweite Teil der Wahrheit, der von der Justiz unter den Tisch gekehrt wird: Wir bringen sie in ein viel kriminogeneres Umfeld, in eine Subkultur mit einem großen Drogenmarkt, in der sie mit anderen Straftätern zusammenkommen. Es bringt nichts, Menschen aus ihrem Milieu herauszuholen und sie in ein anderes, noch destruktiveres, hineinzubringen.
Wir müssen individuell hinschauen. Eine elektronische Aufenthaltsüberwachung kann als Strafmaßnahme sinnvoll sein, mit der Täter in ihrer eigenen Wohnung unter gewissen Auflagen verbleiben und sie nur zum Arbeiten oder auch gar nicht mehr verlassen dürfen. Wenn es nicht sinnvoll erscheint, dass der Täter in der eigenen Wohnung bleibt, wäre eine Wohngruppe eine Alternative, bei der genau hingeschaut wird, wer dort zusammenlebt und welche zusätzlichen Maßnahmen und Auflagen damit verbunden sind oder welche Betreuung und Beaufsichtigung notwendig sind.
Welcher Grundgedanke sollte den gesellschaftlichen Umgang mit Straftäter:innen in Zukunft leiten?
Thomas Galli:
Ein junger Mann entreißt einer älteren Frau ihre Tasche. Unser erster Impuls: Das muss bestraft werden. Die nächste Frage sollte aber sein: Was wollen wir damit erreichen? Der Vergeltungsgedanke und der Trieb nach Gerechtigkeit stecken in uns drin. Wir müssen uns für einen Racheimpuls nicht schämen. Aber wir sollten anfangen, unseren ersten Impuls zu reflektieren – dann werden sich von ganz allein neue und sinnvollere Wege eröffnen.
Als Politikwissenschaftlerin interessiert sich Katharina dafür, was Gesellschaften bewegt. Sie fragt sich: Wer bestimmt die Regeln? Welche Ideen stehen im Wettstreit miteinander? Wie werden aus Konflikten Kompromisse? Einer Sache ist sie sich allerdings sicher: Nichts muss bleiben, wie es ist.