Terror ohne Anführer: So funktioniert moderne Radikalisierung von rechts
Wie wird aus einem »Normalo« ein Attentäter? Was haben Anschläge mit Stochastik zu tun? Lerne mit diesem Text eine neue Form des Terrors kennen und verstehe, was wir dagegen tun können.
Hildesheim in Niedersachsen, Deutschland, 2020: Als die Polizei in die Wohnung eines 21-jährigen Mannes eindringt, findet sie Waffen, mit denen er seine Drohungen im Internet wahr machen wollte. Sein Ziel war es, viele Muslime zu ermorden und damit internationale Aufmerksamkeit zu erregen.
Einbeck in Niedersachsen, Deutschland, 2020: Es ist tief in der Nacht, als ein Sprengsatz frühzeitig hochgeht und einen stadtbekannten Neonazi an der Hand verletzt. Ziel seines geplanten Anschlags war eine »linke Aktivistin«, die wohl Glück hat, mit dem Leben davongekommen zu sein.
Die Täter sind nur ein paar der vielen, die in den vergangenen Jahren rechtextreme Terroranschläge geplant oder ausgeführt haben: Christchurch, Hanau, NSU, Halle – die Liste ist erschreckend lang und immer wieder ist die Gesellschaft entsetzt und überrascht. Die Täter:innen haben auf den ersten Blick keine Verbindung zueinander –
Doch rechter Terror passiert nicht »einfach nur so«. Hinter den Taten stecken eine gemeinsame Gedankenwelt und dahinter ein System der Radikalisierung, das mittlerweile international aufgestellt ist und tief in den Mainstream vordringt.
Um den Terror von rechts zu beenden, müssen wir dringend anfangen, ihn zu verstehen. Dieser Text ist ein Versuch dazu.
Was Stochastik mit Terrorismus zu tun hat
Was hinter den Tätern von Hildesheim, Einbeck oder Halle steht, ist eine recht neue Form des Terrorismus, die etwas mit einem erst mal langweilig klingenden Begriff zu tun hat: Stochastik.
Beim »stochastischen Terrorismus« gibt es keine klassischen Terrorzellen mehr, keine geheimen Untergrundgruppen mit Ausbildungscamps, die sich auf gemeinsame Anschläge vorbereiten.
Dabei hat stochastischer Terrorismus für Terroristen klare Vorteile:
- Die klassische Terrorabwehr hat es schwer, diese Gewalt zu verhindern oder vorherzusagen, da es keine klaren Netzwerke verbundener Personen mehr gibt.
- Die Demagog:innen im Hintergrund, die ihre politischen Ansichten durch Terrorakte durchsetzen wollen, sind rechtlich kaum zu belangen, da sie keine direkten Anweisungen geben und alles abstreiten können.
- Dabei verstärkt sich die Maschinerie selbst: Jeder neue Anschlag erhöht die Wahrscheinlichkeit für weiteren Terror, denn Gewaltbereite nehmen sich vorhergegangene Taten zum Vorbild und glorifizieren diese. So bewunderte der 21-Jährige aus Hildesheim etwa den norwegischen Massenmörder Anders Behring Breivik.
- Und stochastischer Terrorismus wirkt doppelt: Durch Hasskampagnen als Teil der Radikalisierung und die immer wieder medial berichtete Gewalt verändert sich langsam das gesellschaftliche Klima. Wer gegen Rechtsextremismus vorgeht, soll Angst haben, das Ziel von Anschlägen zu werden, wie die Aktivistin aus Einbeck. Menschen durch Angst gefügig zu machen ist immer das Ziel von Terror.
Die Mechanismen dahinter werden erst langsam immer klarer und erhalten erst seit diesem Jahr mediale Aufmerksamkeit. Die Journalistin und Extremismusexpertin Karolin Schwarz recherchierte
Auch die Bundesregierung beschäftigt sich seit den Anschlägen in Halle und Hanau verstärkt mit dem Phänomen und bestätigt, es gebe
Doch ein Phänomen zu benennen reicht noch nicht, um es zu verstehen. Wie wird ein Normalo radikalisiert? Wer sind die Demagog:innen dahinter? Wo beginnt das alles?
Wir müssen tiefer graben.
Humor als Einstiegspunkt – die Facetten der Radikalisierung im Netz
Die Idee von stochastischem Terrorismus ist provokant. Denn sie zieht eine direkte Verbindung zwischen extremen Punkten der Radikalisierung im Internet, die auf den ersten Blick gar nicht zusammenpassen wollen: vom Humor zum Terror.
Wer nur diese beiden Punkte direkt nebeneinanderstellt, wird wenig Gemeinsamkeiten finden. Doch Radikalisierung, das weiß die Forschung mittlerweile, ist ein längerer Prozess –
Die Pyramide zeigt Zusammenhänge auf: So liegt unter der handfesten Gewalt etwa die sprachliche Gewalt. Anders gesagt: Es fällt leichter, jemanden zu verletzen, wenn dieser vorher beleidigt wurde.
Und gewisse Vorannahmen haben wir alle. Wir sind aufgewachsen und sozialisiert in einer sexistischen und rassistischen Gesellschaft. Wir alle stehen also auf der untersten Stufe der Pyramide.
Deshalb kann Humor auch tatsächlich als ein Werkzeug im Sinne der Radikalisierung missbraucht werden: Er kann Vorurteile verharmlosen und Menschen dazu bringen, diese offen auszusprechen und mit gewaltsamer Sprache und den darin transportierten Denkmustern und Emotionen zu spielen.
Und genau hier kommt das Internet ins Spiel, denn dort hat der heutige Rechtsextremismus optimale Bedingungen, missbräuchlichen Humor zu verbreiten – und zwar über Memes. Diese vermeintlich witzigen oder ironischen Bilder (teilweise mit Beschriftungen) werden im Netz 1000-fach geteilt. Rechtsextreme arbeiten deshalb aktiv daran, sie zu prägen oder bestehende Memes zu kapern.
Rechtsextreme Witze und Memes erscheinen vielen Menschen (die nicht von ihnen betroffen sind) als harmlos. Doch es geht hier weder um Ironie noch um das Provozieren von »Überempfindlichen« oder die Verteidigung der Meinungsfreiheit. Es geht – ganz im Sinn des stochastischen Terrorismus – um eine Vorbereitung der nächsten Stufen der Pyramide. Indem
Das alles ist auch kein Geheimnis. Rechtsextreme Demagog:innen wie Donald Trumps Ex-Berater Steve Bannon schreiben offen in ihren Büchern darüber,
Wir sollten ihnen einfach glauben, was sie schreiben.
Wie geht es weiter von Memes zu Gewalt? Die rote und die schwarze Pille
In den Büchern der Demagog:innen finden sich auch die Versatzstücke, Vokabeln und Narrative der weiteren Stufen der Pyramide auf dem Weg zu Terror und Gewalt: etwa die »Opferrolle des weißen Mannes«.
Dessen Identität werde von einer »Multikulti-Gesellschaft« angegriffen, die den Status quo bedroht, indem sie Frauen und Minderheiten immer mehr in den Mittelpunkt rückt.
Im Internet entstehen aus und mit diesen Versatzstücken ganze Subkulturen, die die Radikalisierung weitertreiben: In verborgenen Chatgruppen, Foren oder gar offen unter Hashtags in den sozialen Medien gruppieren sich
Disclaimer: An dieser Stelle sollen nicht rechtsextremistische Verschwörungstheorien verbreitet werden. Ein kurzer Einblick in diese bizarre Subkultur im Internet ist dennoch hilfreich, um die Mechanismen zu verstehen, die aus Vorurteilen Hass werden lassen und diesen Hass in Handlungsimpulse umsetzen.
Incel steht dabei für »involuntary celibate« (auf Deutsch: »unfreiwilliges Zölibat«). Dahinter verbirgt sich die Idee, dass manche Männer ungewollt Single sind, ohne dafür selbst etwas zu können – etwa weil ihre physischen Merkmale wie Knochenbau oder Gesichtsform unattraktiv für Frauen seien. Das Frauenbild der Incels ähnelt dabei dem der sogenannten
»Rechtsextreme Versatzstücke in der Incel-Kultur: Der angeblich arme weiße Mann als Opfer widriger Umstände.«
Die Incel-Ideologie zieht vor allem unsichere und einsame Jungs und Männer an, die online nach Unterstützung suchen. Sie finden sie in Onlineforen unter Gleichgesinnten –
Dazu vermittelt die Incel-Kultur vor allem auch Hoffnungslosigkeit. Da die angebliche Ursache für die Enthaltsamkeit (und damit Einsamkeit) genetisch ist, lautet die Botschaft: Nichts wird sich für dich jemals ändern. Diese radikalere Stufe der Ideologie nennt sich »Black Pilling« und ihre Botschaft ist fatal: Wenn es keine Hoffnung gibt, bleibt nur, sich selbst das Leben zu nehmen – oder anderen.
Und genau hier kommen – ganz im Sinne der Radikalisierung hin zur rechtsextremen Gewalt – neue fixe Ideen ins Spiel: Etwa dass Einwanderer ihnen die »Frauen wegnehmen« würden, bei denen sie überhaupt noch Chancen gehabt hätten. Oder dass die Juden (durch den US-Investor George Soros)
Hier verschieben sich Selbsthass und Frauenhass zu Fremdenhass auf einen neuen Schuldigen. Und die Handlungsanweisung scheint klar und drängend – ohne dass jemand einen Befehl zur Gewalttat gibt.
Radikalisierung durchbrechen: So machen wir Taten weniger wahrscheinlich
An dieser Stelle sollten wir festhalten, dass all dies keine:n Täter:in entschuldigt. Der Prozess der Radikalisierung mag durch Subkulturen und Demagog:innen in Bahnen gelenkt werden. Doch es ist immer noch die Entscheidung jeder einzelnen Person, die nächsten Stufen der Pyramide zu erklimmen. Täter:innen sind keine armen Opfer einer automatischen Radikalisierungsmaschine im Internet – sie sind schuldig. Stochastischen Terrorismus zu verstehen macht ihre Gewalt und ihre Radikalisierung nur greifbarer und gibt Ansätze, präventiv zu wirken.
Denn diese neue Form des Terrorismus führt staatliche Terrorabwehr an ihre Grenzen. Es braucht daher neue Mittel, dem zu begegnen. Das könnten Elemente einer modernen Terrorabwehr sein:
- Extremist:innen die Megafone abstellen: Moderne Radikalisierung passiert vor allem im Internet. Doch Foren und sozialen Medien mit dem Ruf nach »mehr Kontrolle im Netz« oder »Klarnamen für alle« die Schuld zuzuschieben, greift zu kurz. Es sind schließlich genau diese Kommunikationskanäle, die in autokratischen Staaten demokratischen Widerstand ermöglichen. Doch Unternehmen wie Twitter, Facebook und Co. haben keine Pflicht, Extremist:innen und Demagog:innen eine Plattform zu Tausenden Menschen zu bieten – sie hätten eher eine gesellschaftliche Verantwortung, das nicht zu tun. Auch Massenmedien sollten dringend reflektieren, wo sie in jeder noch so menschenfeindlichen Frage »alle Seiten hören« müssen oder wann sie auf Provokationen hereinfallen.
- Aufklärungsarbeit leisten: Der Verfassungsschutz ist nicht die Instanz, die die Radikalisierung Einzelner unterbrechen kann. Die ganze Gesellschaft ist gefragt. Hier kann Aufklärungsarbeit und Sensibilisierung gegenüber radikaler Sprache und Memes dabei helfen, radikale Tendenzen früher zu erkennen und Unterwanderungen in zentralen Institutionen unserer Gesellschaft aufzudecken. Das ist besonders wichtig für die Armee, Behörden, Polizei oder Lehrer:innen.
- Betroffenen mehr Raum geben: Nichts schadet Radikalisierung mehr, als Opfern zuzuhören. Das können Opfer sein, die Gewalt durch Terror erfahren haben – und damit die Auswirkungen dessen zeigen, worauf stochastischer Terrorismus hinarbeitet; oder aber die Opfer struktureller Benachteiligung. Zu zeigen, wie ungerecht die Gesellschaft noch immer gegenüber Gruppen wie Homosexuellen, Muslimen oder Frauen ist, kratzt direkt am Opfermythos des angeblich »bedrohten weißen Mannes«, der so zentral für diese Radikalisierung ist. Auch Menschen am Anfang der rechten Radikalisierung, die Stimmen von Minderheiten nie direkt hören und nur als Karikatur kennen, werden so besser mit der Realität konfrontiert.
- Gesellschaftliche Selbstwirksamkeit stärken: Anfällig für radikalisierende Erzählungen, Subkulturen und Ideologien – das weiß die Forschung mittlerweile – sind vor allem junge Männer in einer schwierigen Lebenssituation. Sie empfinden einen tiefen Kontrollverlust. Ein wirksames Mittel kann es deshalb sein, Menschen mehr Selbstwirksamkeit erfahren zu lassen – zum Beispiel an Schulen mit mehr Schüler:innenbeteiligung, ausgelosten Bürgerräten oder übergreifenden Demokratieprojekten. Dazu müssen natürlich auch diejenigen, die bisher die Macht haben (etwa Lehrer:innen oder Politiker:innen), ein wenig davon abgeben.
Mit Illustrationen von Doğu Kaya für Perspective Daily