Ich bin ein weißer Mann. Jetzt versuche ich zu verstehen, was das heißt
Wo immer ich hinkam, meine Privilegien waren schon da. Ist mein Leben so reibungslos verlaufen, weil ich weiß bin?
Es gibt Dinge, für die ich etwas länger brauche, um sie zu verstehen. Und für manche noch ein paar Jahre mehr. In diesem Fall geht es um eine Erkenntnis, die zuerst banal klingt. Mit 17 Jahren habe ich zum ersten Mal verstanden, dass ich
Ich hatte das Glück, ein Austauschjahr in St. Lucia verbringen zu können. Das ist eine kleine Insel in der östlichen Karibik, ganz in der Nähe von Barbados und Martinique. 85% der Bevölkerung sind
Meine Hautfarbe war dort so selten, dass sie das naheliegendste Beschreibungsmerkmal neben meinem Namen war. Immer wieder riefen mich Menschen »White Boy«. Das war verwirrend und fühlte sich seltsam an. Warum sagten sie das? Ich musste also 9 Stunden im Flugzeug sitzen, um erstmals wirklich zu verstehen, dass ich weiß war. Und obwohl ich Teil einer Minderheit war und hier und da Sprüche abbekam, habe ich deshalb keine breite Diskriminierung erfahren.
Im Gegenteil. Die Polizei hat mich in Ruhe gelassen, meine Mitschüler:innen brachten mir meist Interesse und Wohlwollen entgegen. In der autoritär geführten Schule war ich der Einzige, der dem Schuldirektor frech gegenübertrat – ohne Folgen, abgesehen von ungläubigen Blicken der Mitschüler:innen. Ich war einer von 3 weißen Jugendlichen in einer Schule mit 800 Schüler:innen.
Machen wir einen Zeitsprung ins Jahr 2020. Die Schwarze Journalistin
Sie sagt dort: »Weiße Menschen sind eine Gruppe, die anders als alle anderen [Gruppen] nicht wissen, dass sie eine Gruppe sind, weil sie immer als Norm gelten.«
Dieses Zitat hat mehr als 20 Jahre nach meinem Austauschjahr einen Kreis für mich geschlossen. Denn was in St. Lucia offensichtlich war, war für mich in Deutschland nicht so greifbar: dass ich in Deutschland in einer weißen Welt lebe, die es mir schwer macht, festzustellen, dass ich weiß bin und zur normgebenden Gruppe gehöre. Mehr noch: Es war nie nötig, darüber nachzudenken. Farbige Haut hatten immer die anderen. Ich hatte doch, genau wie der Stift schon im Kindergarten genannt wird – die Hautfarbe.
Anders gesagt: Meine Lebensgeschichte als Benjamin aus der Wuppertaler Reihenhaus-Neubausiedlung ist wie das Märchen vom Hasen und vom Igel – wo immer ich ankam, die Privilegien waren schon da, selbst dort, wo ich offensichtlich der Minderheit angehörte. Ich würde gern sagen, dass ich mir alles selbst erarbeitet habe. Aber in Wahrheit lag vieles zu meiner Geburt auf dem Gabentisch.
Der Rassismus der anderen
Der Schwarze Journalist Malcolm Ohanwe hat kürzlich auf Twitter den Hashtag
Das hat bei mir viele Gedanken und Gefühle ausgelöst. Ich habe als weißer Journalist in Diskussionen wie jetzt um die »Black Lives Matter«-Bewegung den Reflex, eben diejenigen sprechen zu lassen, die von Rassismus betroffen sind und selbst lieber zu schweigen. Die Folge: Schwarze und People of Color graben in ihren traumatischen Erinnerungen und müssen sie im Versuch, anderen die Dimension des Problems verständlich zu machen, immer wieder neu erleben. Malcolm Ohanwe und auch andere Kommentator:innen haben vielleicht recht. Weiße wie ich müssen offen und öffentlich darüber nachdenken, wo sie selbst vielleicht das Problem oder auch Profiteur:innen von Rassismus sind und wie sie Teil der Lösung werden können. Das rechtfertigt vielleicht auch, dass ich jetzt einmal das Wort ergreife, obwohl es sich komisch anfühlt.
Ich bin ziemlich gut darin, die sprichwörtlichen Bretter vor den Köpfen der anderen zu benennen. Das eigene Brett erscheint mir dagegen als nicht so offensichtlich. Oder ich verdränge, dass es da ist. Aber wie erkenne ich meine Privilegien eigentlich?
Josephine Apraku, die das
Das Minus, das Schwarze Menschen erfahren – schlechterer Zugang zu Bildung, zum Arbeitsmarkt –, das ist das Plus für Weiße. Wir sind Teil eines rassistischen Systems. Deswegen ist es wichtig, dass auch Weiße sich fragen: Wo ist es für mich leichter gewesen? Wo habe ich in der Schule vielleicht ein Kind rassistisch beschimpft? Oder stand ich nur daneben und habe nichts gesagt? Und das kann zu der Frage führen: Muss ich mehr Verantwortung übernehmen?
Es ist extrem schwer für mich, überhaupt erst einmal zu verstehen, was mein Privileg ist. Es ist ja kein konkretes Ding, nichts, das sich greifen lässt. Es ist eher die Abwesenheit von etwas, das Wissen, nicht diskriminiert zu werden. Als weißer heterosexueller Mann ist eine weitgehende Diskriminierungsfreiheit seit meiner Geburt der Normalzustand, auch Geschlechterungerechtigkeit betrifft mich nicht aus der Opferperspektive. Diese Welt ist von Männern wie mir konstruiert worden, für Männer wie mich. Es spielt dabei keine Rolle, ob ich das gut finde.
Die Autorin und Anti-Rassismus-Trainerin
Mir ist klar, dass Rassismus falsch ist. Umso mehr schmerzt es, dass meine Momente des Aktivismus zwar ein Zeichen gesetzt haben, aber doch nicht ausreichen, um wirklich etwas zu verändern. Langfristige Veränderung braucht langfristiges Engagement im Alltag – auch in Form von Selbstreflexion.
Tupoka Ogette geht in ihrem Buch sehr behutsam mit Menschen wie mir um. Dennoch führt sie einen Begriff ein, der in mir Unbehagen auslöst. Ein Wort, das ein Teilnehmer ihrer Workshops benutzt hat und eine zentrale Rolle in ihrem Buch spielt: »Happyland«. In diesem Land wohne ich. Happyland ist ein Land, in dem es Rassismus gibt, es aber keiner gewesen sein will. Ich auch nicht. Ich nehme mich nicht als rassistisch wahr und will auch nicht so bezeichnet werden. Rassist:innen sind Nazis mit Glatzen oder Leute in der AfD, ich nicht.
Von klein auf wird uns eingetrichtert, dass Rassismus einerseits verabscheuenswert ist, aber andererseits auch stets eine Intention voraussetzt. Rassismus wird somit nicht als System verstanden, sondern als vorsätzliche Handlung einer einzelnen Person.
Das kommt mir bekannt vor und ich beginne zu verstehen: Bei Rassismus ist nicht maßgeblich, dass ich absichtlich handle oder
Privilegien und Verantwortung
Um dieses System zu erkennen, muss ich herausfinden, an welcher Stelle ich darin stehe. Als weißer Mann kann ich mir aussuchen, ob ich mich überhaupt mit Rassismus auseinandersetzen möchte oder nicht. Auch jetzt in diesem Moment. Das Privileg ist wie eine Superkraft, eine Tarnkappe. Ich kann mich in mein Weißsein zurückziehen wie in ein Schneckenhaus. Denn meine politische Einstellung trage ich innen und ich kann entscheiden, wann ich sie offenbare – und wem.
So habe ich noch nie darüber nachgedacht, ob es für mich sicher ist, mit dem Bummelzug allein durch die deutsche Provinz zu fahren. Das ist eine Frage, die sich für mich nicht stellt. Immer wieder höre ich, dass es Schwarzen Menschen anders geht, sobald sie liberal geprägte Großstädte verlassen möchten. Mir ist es klar, sobald ich daran denke, aber im Alltag denke ich nicht daran. Umso notwendiger ist die aktive Auseinandersetzung.
Es gibt viele weitere Privilegien. Sie aufzuzählen befremdet mich,
Ein Abwehrreflex, den ich auch irgendwie spüre, geht so: »Aber ich habe doch auch eine Leistung erbracht, um den Beruf ausüben zu können, in dem ich heute tätig bin. Ich habe gelernt und Prüfungen geschrieben, mich angestrengt.«
Eine kurze Stelle aus »Exit Racism« hat mir über diesen Gedanken hinweggeholfen:
Es kann gut sein und ist sogar hoch wahrscheinlich, dass Du es nicht immer gut gehabt hast. Auch musstest Du bestimmt oft hart kämpfen, um an Dein Ziel zu kommen. Alles, was die Diskussion um weiße Privilegien sagt, ist, dass Weißsein nicht das Hindernis war, aufgrund dessen Du bestimmte Hürden überwinden musstest oder Dir Dinge verwehrt wurden. Dass Weißsein an vielen Stellen Deines Lebens kein Ausschlussfaktor ist und Dir deswegen kein Zugang zu Ressourcen verwehrt werden wird.
Revolution, jetzt!
Der Buch-Workshop von Tupoka Ogette hat mir einiges bewusst gemacht und mir für meine nächsten Schritte Aufgaben und einen kleinen Werkzeugkasten an die Hand gegeben. Ganz vorne steht, in Kontrast zu dem, was ich jetzt hier lang und breit getan habe: Schwarzen und People of Color zuzuhören. Ich will nicht mutmaßen, wie sie sich fühlen, sondern mich immer wieder aktiv vergewissern, wie einzelne Menschen zu Themen stehen und was sie denken. Ich muss viel lesen und lernen: über Rassismusgeschichte, über die
Ich weiß, dass nicht ich beurteilen und entscheiden kann, wer sich wie und wann von Rassismus betroffen fühlt. Es steht mir nicht zu, die Entscheidung zu treffen, wann etwas als rassistisch wahrgenommen werden darf. Die Sprache setzt den Rahmen für den Diskurs. Zum Zuhören gehört für mich auch, das sprachliche Spielfeld nicht zu bestimmen, sondern die Vokabeln anzunehmen, die betroffene Menschen für diese Debatten finden. Ich habe das zu lang nicht getan und so letztlich die notwendige inhaltliche Diskussion immer wieder ausgebremst.
Ich möchte sichere Räume schaffen und, wo ich kann, dabei helfen, Plätze und Positionen für Schwarze und People of Color öffnen. Auch in der Redaktion von Perspective Daily. Wir brauchen die Perspektivenvielfalt, nicht nur in Themen, die Rassismus betreffen und nicht nur dann, wenn die Debatte über Rassismus Konjunktur hat. Wir brauchen die Perspektiven immer und in allen fachlichen Bereichen: Politik, Wirtschaft, Arbeit, Feminismus, Recht, Psychologie. Ich will dabei helfen, dass die Perspektiven anderer Menschen laut werden. Als weißer Mann muss ich es endlich als Selbstverständlichkeit in den Kopf bekommen, dass Rassismus mich im Kern betrifft: nicht als Opfer und auch nicht als Schiedsrichter, sondern eher als mehr oder weniger aktiver Komplize eines Täter:innensystems. Dieses System muss weg.
Um zu zeigen, wie ein kleiner Anfang aussehen kann, schildert Tupoka Ogette am Ende ihres Buches eine Szene aus einem ihrer Workshops. Sie fragte darin die Schwarzen Teilnehmer:innen, wie es wäre, wenn sie weißen Menschen Rückmeldungen zu rassistisch empfundenem Verhalten geben könnten und die sich einfach bedanken, reflektieren und daran arbeiten würden, ihr Verhalten zu ändern.
Es meldete sich ein Schwarzer Mann und sagte: »Es wäre revolutionär.« Liebe*r Leser*in, lass Dir diese Antwort doch einmal auf der Zunge zergehen: »Es wäre revolutionär.« Dass Menschen zuhören, das Gesagte aufnehmen und reflektieren. Diese Situation zeigt auf der einen Seite, wie stark Happyland wirkt, und gleichzeitig, wie einfach es doch sein kann, Verantwortung zu übernehmen.
Ich will dabei sein. Die Revolution beginnt auch in mir.
Mit Illustrationen von Mirella Kahnert für Perspective Daily