Krisen vorhersagen und verhindern – eine Gebrauchsanweisung
Warum Schimpansen bessere Krisenprognosen machen als viele Experten, und wie du zuverlässiger in die Zukunft blicken kannst als ein CIA-Analyst.
Der französische Außenminister
Bouazizi erlag am 4. Januar 2011 seinen Verletzungen und sein Selbstmord wird heute allgemein als Beginn des »Arabischen Frühlings« betrachtet, jener länderübergreifenden Kette aus Protesten, Revolutionen, Bürgerkriegen und Staatsstreichen, deren Folgen die Welt heute noch in Atem halten. Alain Juppé war bei Weitem nicht der Einzige, der die dunklen Wolken am Horizont übersah. Sowohl seine Kollegen im Westen als auch die herrschenden Eliten in Nordafrika und im Nahen Osten traf die Entwicklung völlig unvorbereitet.
Die Folgen von bösen Überraschungen
Der Schaden, den dieser Mangel an Voraussicht mit sich gebracht hat, ist kaum ermessbar. Während es Tunesien heute besser geht als unter der Regierung des langjährigen Diktators
Der Arabische Frühling ist kein Einzelfall. Der Tuareg-Aufstand und Militärputsch in Mali 2012 sowie der Zusammenbruch der Zentralafrikanischen Republik 2013 sind weitere Belege dafür, dass Krisen und Konflikte scheinbar oft
Doch dieser Schein trügt. Politische Umstürze, Gewalt und Krieg entsteht nicht aus dem Nichts.
Wie er denn sein ganzes Geld verloren habe, wird der Bankrotteur Mika Campell in Ernest Hemingways Roman »Fiesta« gefragt.
Nicht jede Krise kann aufgehalten werden, auch wenn man sie frühzeitig erkennt. Aber Vorwarnung bedeutet, dass man sich vorbereiten kann. Auch wenn eine Eskalation in manchen Fällen letztlich nicht vermeidbar ist: Wird sie antizipiert, können Hilfsgüter in Stellung gebracht und Friedensmissionen entsandt werden. Vorwarnung gibt allen Beteiligten zumindest die Möglichkeit, die Lage einzuschätzen und das Schlimmste abzuwenden.
Möglichkeiten, um zuverlässige Krisenprognosen zu erstellen, existieren. Manche basieren auf Mathematik und einer quantitativen Sicht auf die Welt. Andere sind Kunst und Wissenschaft zugleich. Ihnen gemeinsam ist, dass sie auch von Laien verstanden und angewandt werden können – manchmal besser als von Experten.
Was Staatsstreiche mit Kindersterblichkeit zu tun haben
Man nehme die Charaktereigenschaften eines Präsidenten, mische sie gut mit der Zeit, die seit der letzten Wahl vergangen ist und siebe sie durch eine Kategorisierung des Regierungstyps. Vermengt mit einigen mathematischen Formeln entsteht so das Risiko eines Putschversuchs innerhalb des nächsten Monats. Demokratische Republik Kongo:
Dieses Vorgehen mag sich nach statistischer Quacksalberei anhören, ist tatsächlich aber ein effektiver Weg, um so genannten »Alpha-Fehlern« auszuweichen: Der Ausbruch einer Krise wird kategorisch ausgeschlossen, tritt aber schlussendlich doch ein.
»Statistische Modelle können menschliche Prognosen hervorragend ergänzen.«
»Statistische Modelle können menschliche Prognosen hervorragend ergänzen«, ist Jay Ulfelder überzeugt.
»Die nötigen Datenquellen zu finden, zu säubern und regelmäßig zu aktualisieren, ist mehr als 80% der Arbeit«, erklärt Ulfelder.
Überhaupt, die Daten: »Wir brauchen Daten, die mehrere Jahrzehnte zurückreichen, die zuverlässig sind, für alle Länder verfügbar und aktuell.« Außerdem müssen die Daten natürlich auch mit dem Phänomen zusammenhängen, das vorhergesagt werden soll.
In Ulfelders Modellen zur Vorhersage von Staatsstreichen taucht etwa die Säuglings-Sterblichkeitsrate eines Landes auf. Sie dient als Stellvertreter für den Entwicklungsstand des Landes. Grob gesagt: Je mehr Säuglinge das erste Lebensjahr nicht überleben, desto wahrscheinlicher ist, dass im kommenden Jahr das Militär einen Putschversuch unternimmt.
Natürlich sind auch andere Faktoren wichtig, etwa ob die Regierung eines Landes frei gewählt wurde oder selbst
Welche dieser Indikatoren eine Rolle spielen und wie sie gewichtet werden, das ist der Kern eines statistischen Modells. Ob es tatsächlich zuverlässige Prognosen erstellen kann, testen Forscher wie Jay Ulfelder mit einem Trick: Sie füttern die Formeln mit älteren Daten und ermitteln, ob ihre Modelle vergangene Krisenausbrüche vorhergesagt hätten.
Bestehen die Modelle diesen Test, kann man sie zum Einsatz bringen. Natürlich ist nicht jede Erkenntnis dabei eine Überraschung. Dass der Kongo aktuell ein hohes Putschrisiko hat, darin sind sich praktisch alle Beobachter auch ohne mathematische Hilfe einig.
Und besonders bei der Vorhersage von Krisenereignissen gibt es ein weiteres Problem: Zwar verlaufen Staatsstreiche, Massenmorde und Bürgerkriege für die beteiligte Gesellschaft katastrophal,
»Statistische Modelle werden darum immer eine recht lange Liste an Risikoländern produzieren. Es erleben deutlich weniger Länder solche Ereignisse, als auf dieser Liste stehen«, gibt Jay Ulfelder zu bedenken.
Ulfelder will diese Herangehensweise an die Krisenvorhersage darum vor allem als Ergänzung für andere Prognosemethoden verstanden wissen. »Es ergibt wenig Sinn«, sagt er, »nur aufgrund eines hohen statistischen Krisenrisikos Friedensmissionen oder Wirtschaftssanktionen in Gang zu setzen. Dazu sind bei den entsprechenden Modellen die Beta-Fehler – also Fälle, in denen ein relativ hohes Risiko vorhergesagt wird, der Ernstfall aber nicht eintritt – viel zu hoch.«
Gute Modelle, so Ulfelder, könnten politische Entscheidungsträger aber vor den viel folgereicheren Alpha-Fehlern bewahren. Ein entsprechendes Modell hätte Alain Juppé vielleicht schon Anfang 2010 gewarnt, dass das Krisenrisiko in einer ganze Reihe nordafrikanischer Länder »zuerst allmählich« immer weiter anstieg. In Zusammenarbeit mit den Regierungen dieser Länder und ihren Zivilgesellschaften hätte man zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch die größten Krisen abwenden können, bevor »dann plötzlich alles« eskalierte.
Jay Ulfelder verweist in diesem Zusammenhang auf seine Putschvorhersage von 2015. Von den
Ein wichtiger Einwand bleibt: Keine Organisation und keine Regierung der Welt kann sich in 30 Ländern gleichzeitig in dem Maße engagieren, dass ernsthafte Krisen zuverlässig abgewendet werden. Wohin Aufmerksamkeit und Ressourcen gelenkt werden, das müssen laut Jay Ulfelder immer noch Menschen entscheiden. Gute Prognosemodelle können nur dabei helfen, keine im Nachhinein offensichtlichen Fehler zu begehen.
Die Sache mit dem Schimpansen
Vielleicht hast du folgende Aussage mal im Internet gelesen: Der durchschnittliche Experte liegt mit seinen Prognosen in etwa so oft richtig, wie ein Schimpanse, der mit einem Dartpfeil auf mögliche Antworten wirft.
Das Erstaunliche an dieser Aussage: Sie stimmt. Sie beruht auf den Forschungsergebnissen von Philip Tetlock, der in einer
Tetlock geht es dabei nicht in erster Linie darum,
»Ich kann jede Krise der nächsten 10 Jahre vorhersagen.«
»Ich kann jede Krise der nächsten 10 Jahre vorhersagen«, behauptet Tetlock im Interview. »Es ist sogar recht einfach. Ich muss nur jede erdenkliche Krise prognostizieren und ich liege in 100% der Fälle richtig. Das hilft natürlich keinem weiter, denn meine Fähigkeit, Krisen zuverlässig vorherzusagen, liegt dann ja bei 0%.«
»Wir wissen nicht, wie zuverlässig Prognosen von Geheimdiensten und Außenministerien sind, denn diese Organisationen messen das nicht«, beklagt Tetlock. »Meine Vermutung ist allerdings, dass es damit nicht weit her ist.«
Um diese Vermutung zu überprüfen, entwickelte Tetlock ein Verfahren, die Zuverlässigkeit eines Experten bei der Abgabe von Zukunftsprognosen zu messen. Der Trick dabei ist, mit Wahrscheinlichkeitswerten zu arbeiten. So könnte ich etwa für Mali mit 66%-iger Wahrscheinlichkeit einen Putschversuch im nächsten Jahr vorhersagen. Tritt kein Putschversuch ein, so sinkt mein Zuverlässigkeitswert, aber nicht katastrophal. Schließlich habe ich der Alternative ja eine 33%-ige Wahrscheinlichkeit gegeben. Die maximale Zuverlässigkeit erreiche ich in diesem Szenario,
Unter diesen Bedingungen ließ Tetlock Tausende Amateure gegen professionelle Analysten der amerikanischen Geheimdienste mit Zugang zu geheimen Informationen antreten. Das überraschende Ergebnis: Das beste Fünftel der Amateure, Menschen, die in ihrer Freizeit und mit dem Internet als einzigem Hilfsmittel Prognosen abgaben, waren im Schnitt
Die Leistung dieser »Superforecaster« war kein Zufall. Über 4 Jahre hinweg konnten die meisten dieser Teilnehmer ihre Zuverlässigkeit aufrechterhalten und zum Teil sogar steigern. Und laut Tetlock
Das herausragendste Merkmal eines Superforecasters sei, so Tetlock, dass er seine Annahmen, auf die er seine Prognosen aufbaut, regelmäßig kritisch überprüft. Insofern sind Superforecaster so etwas wie die menschliche Version der statistischen Modelle Jay Ulfelders: Sie verlassen sich in erster Linie auf die zur Verfügung stehenden Daten, nicht auf ihre persönlichen Meinungen.
Entsprechend scheuen Superforecaster auch nicht davor zurück, ihre Prognosen anzupassen, wenn sich die Umstände ändern. Die erfolgreichsten Prognosen entstehen dabei laut Tetlock, wenn laufend kleinere Anpassungen aufgrund neuer Informationen vorgenommen werden.
»Wir wissen heute, dass
»Als einzige Frau im Raum ist eine quantitative, unbefangene Rückmeldung zu der Zuverlässigkeit meiner Prognose sehr wertvoll für mich.«
Für Joseph ist die Herangehensweise von Tetlock revolutionär. »Ich arbeite seit langem professionell mit Prognosen. Auf Veranstaltungen treffe ich viele selbsternannte Experten und Futuristen. Aber ich bin meist die Einzige, deren Prognose-Zuverlässigkeit tatsächlich getestet wurde«, sagt sie. »Es gibt hier auch einen Gender-Aspekt. Ich bin in meinem beruflichen Umfeld oft die einzige Frau im Raum, wenn es um politische Zukunftsprognosen geht. In so einer Situation eine quantitative, unbefangene Rückmeldung zu der Zuverlässigkeit meiner Prognosen auch gegenüber denen meiner männlichen Kollegen zu haben, ist für mich sehr wertvoll.«
Für Tetlock steht der praktische Nutzen zuverlässiger Vorhersagen im Vordergrund. »Ein Außenminister sollte die besten, unvoreingenommensten Prognosen zur Entscheidungsfindung zur Verfügung haben. Das ist durch
Dass sich sein System auch in den Medien durchsetzen wird, daran zweifelt Tetlock. »Bei der US-Wahl hat der Wahlforscher Nate Silver Hillary Clinton eine Gewinnwahrscheinlichkeit von 70% gegeben. Der Sieg von Donald Trump lässt es so aussehen, als ob er falsch lag.«
Gute Ansätze, schlechter Wille
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Forschern wie Ulfelder und Tetlock sind natürlich auch in der Praxis wahrgenommen worden. Einige Institutionen versuchen bereits, sie umzusetzen.
Zu den Vorreitern gehören dabei die Europäische Union und die Afrikanische Union. Die Nachbarkontinente sind wie kaum eine andere Weltregion von den Krisen und Konflikten des letzten Jahrzehnts betroffen.
In einem Prozess, der stark an die Praktiken der Superforecaster von Philip Tetlock erinnert, werden die Konfliktwahrscheinlichkeiten nun mithilfe weiterer Informationen angepasst. »Wir greifen dabei zuerst auf Informationen von außen zurück, etwa Berichte
»Das Wichtigste ist, nicht von einer Krise überrascht zu werden, mit der man nicht gerechnet hat.«
Ähnlich geht die Afrikanische Union vor. »Das Wichtigste ist, nicht von einer Krise überrascht zu werden, mit der man nicht gerechnet hat«, so Taye Abdulkadir, der das
»Für uns sind die Erkenntnisse aus der Konfliktprognose eine Gelegenheit, mit vielen Akteuren innerhalb der EU und den Mitgliedstaaten ins Gespräch zu kommen«, hebt der EU-Mitarbeiter hervor. »Das EUCEWS gibt uns die Möglichkeit, alle Teile der EU, die mit anderen Ländern zusammenarbeiten, für das Risiko einer Konflikteskalation zu sensibilisieren.«
Auch Abdulkadir sagt, dass die wichtigste Aufgabe des CEWS ist, politische Entscheidungen innerhalb der Afrikanischen Union und ihrer Mitgliedsländer zu verbessern und so Krisen zu verhindern. In einer Reihe von Fällen habe das auch
Was zwischen den Zeilen klar wird: Eine zuverlässige Krisenprognose ist nur der erste Schritt. Damit eine Warnung auch zu einer Lösung der drohenden Krise führen kann, müssen die beteiligten politischen Akteure zum Handeln bewegt werden.
»Es gibt Fälle, in denen die EU schlicht und ergreifend nicht über genug Einfluss verfügt, um eine Krise zu entschärfen«, so der EU-Mitarbeiter. Aber auch die EU selbst könne die Aktivitäten ihrer verschiedenen Institutionen noch stärker
Natürlich gibt es auch Fälle, in denen die maßgeblichen Akteure an einer Konfliktlösung gar nicht interessiert sind, weil sie sich von einer Eskalation einen Vorteil versprechen. Und fließt erst einmal Blut, so überwiegt in vielen Fällen das Bedürfnis, die eigene Existenz zu sichern, anstatt sich auf unsichere Kompromisse einzulassen. Umso wichtiger ist es, drohende Krisen so früh wie möglich zu erkennen.
Wollen wir überhaupt alles wissen?
Gute Prognosen zu erstellen und zu erhalten, wird immer einfacher. Immer mehr Staaten und Organisationen arbeiten an
Immer mehr Krisen könnten so vorhergesagt und verhindert werden. Aber wie die kapitalismuskritische Autorin Naomi Klein
»Dass es Akteure gibt, die diese Möglichkeiten für ihre eigenen, nicht notwendigerweise positiven Zwecke nutzen möchten, das ist etwas, über das wir mehr nachdenken sollten«, sagt der Statistiker Jay Ulfelder. Aktuell, da sind sich alle Gesprächspartner einig, überwiegen aber die Vorteile einer besseren Voraussicht: Nur wer in die Zukunft blickt und die Wolken am Horizont richtig zu deuten weiß, kann versuchen, die negativen Auswirkungen von Krisen zu verhindern. Ein Schimpanse mit einem Dartpfeil hilft keinem weiter.
Mit Illustrationen von Luzie Bayreuther für Perspective Daily