Eine neue Initiative kämpft für ein diverses, bürgernahes und progressives Parlament ab Herbst 2021. Ihr Vorbild: der Erfolg von Alexandria Ocasio-Cortez in den USA.
Unsere Demokratie funktioniert über das Prinzip der Repräsentation. Wir entscheiden nicht selbst über einzelne Maßnahmen, zum Beispiel zur Eindämmung einer Pandemie oder den Weg zum Kohleausstieg, sondern überschreiben per Wahl Kandidat:innen unsere Stimme – die später als Abgeordnete im Parlament für uns entscheiden. Aber was ist, wenn gar keine Kandidat:innen zur Wahl stehen, die mich angemessen repräsentieren können?
Die Initiative »Brand New Bundestag« meint: Der Bundestag muss diverser und offener für Quereinsteiger:innen werden. Dafür sucht das Team für die Bundestagswahl 2021 jetzt nach geeigneten Kandidat:innen aus der Mitte der Zivilgesellschaft.
Mit Coinitiatorin Eva-Maria Thurnhofer habe ich über Erfolgsaussichten, Philipp Amthor und Alexandria Ocasio-Cortez gesprochen.
Eva, ihr sucht momentan Kandidat:innen für einen »Brand New Bundestag«. Wie soll dieser aussehen?
Eva-Maria Thurnhofer:
Im aktuellen Bundestag sind gewisse Personengruppen und verschiedene Hintergründe unterrepräsentiert. Frauen, Migrationshintergrund, Hauptschulabschluss – das kann man entlang vieler Diversitätsmerkmale herunterbrechen. Die 709 Abgeordneten Wenn Menschen nicht repräsentiert sind, ist es ganz schwierig, eine ihnen entsprechende Politik zu machen.
Es geht also letztlich vor allem um ein Gefühl von Dass da »Menschen wie ich« im Bundestag sitzen?
Eva-Maria Thurnhofer:
Es geht um Identifikation und ein Vertrauen, das ich automatisch aufbaue, wenn ich mich mit einer Person die in irgendeiner Form Schnittmengen mit mir hat. Es geht auch um Abgeordnete als die Personen vor Ort in den einzelnen Wahlkreisen. Da fehlt es offensichtlich oft an einer Verbindung. Es ist interessant, wie wenige Menschen wissen, wer Direktkandidat:in im eigenen Wahlkreis ist, wenn man sie später als 3 Tage nach der Wahl fragt. Das ist schade. Denn diese Person ist auch Ansprechpartner:in für die kommenden Jahre; die Person, an die man sich wenden sollte und kann.
Ihr gründet bewusst keine eigene Partei, sondern wollt politische entweder als fraktionslose Abgeordnete oder in den Reihen der bestehenden Parteien ins Rennen schicken. Warum?
Eva-Maria Thurnhofer:
Unser Ziel ist es, progressive Kräfte zu bündeln. Konservative Kräfte sind in den Institutionen und besonders im Bundestag stark vertreten, auf den Straßen herrscht aber – zum Beispiel mit Fridays for Future oder Black Lives Matter – ein ganz anderer Zeitgeist. Progressive Kräfte könnten mit einer Zusammenarbeit vieles verändern. Mit einer zusätzlichen Partei hätten wir innerhalb dieses Lagers noch einen Wettbewerb aufgemacht. Wir wollen verbinden, statt noch ein Format für dieselben Inhalte zu finden.
In etablierten Parteien sind Listenplätze in der Regel hart umkämpft. Welches Interesse sollten Parteien haben, unbekannten Gesichtern von außen Vorzug vor lang gedienten Parteimitgliedern zu geben?
Eva-Maria Thurnhofer:
Wir sind bei den Parteien schon mit vielen Leuten in Kontakt getreten, die daran interessiert sind, bestehende Strukturen mit uns zu verändern. Leute, die ebenfalls feststellen, dass gewissen Menschen ganz natürlich Positionen angedient werden, nur weil sie schon lange dabei sind.
Außerdem gibt es Wahlkreise, in denen die Strukturen einzelner Parteien geschwächt sind, weil sie dort über Jahre nicht mehr erfolgreich waren. Diesen Parteien wollen wir eine vielversprechende Kandidatin präsentieren.
Regionaler Fokus statt Gießkannen-Prinzip
Ihr begrenzt euer Engagement auf etwa 30 Wahlkreise, in denen ihr in einer Vorabanalyse besonders hohe Chancen für progressive Kandidat:innen identifiziert habt. Was zeichnet diese Wahlkreise aus?
Eva-Maria Thurnhofer:
Die Wahlkreise zeichnet aus, dass dort eine konservative Abgeordnete oder ein konservativer Abgeordneter das Direktmandat hält, aber die progressiven Parteien eigentlich – wenn sie kooperieren würden – nach Zweitstimmen eine Mehrheit hätten. Dort liegt offensichtlich ein Mismatch vor.
Für den Wahlkreis von Philipp Amthor geht diese Rechnung nicht auf. Trotzdem habt ihr ihn zuletzt in euer Zielgebiet aufgenommen.
Eva-Maria Thurnhofer:
Was dort passiert ist, geht gegen alles, wofür wir stehen möchten und wie unsere Kandidat:innen im Bundestag auftreten sollen. Es kann nicht sein, dass Menschen den Politikbetrieb nutzen, um persönliche Vorteile zu erzielen. Wir wollen zeigen, dass genau das nicht passieren darf.
Der Großteil der genannten Wahlkreise liegt in Ostdeutschland. Geht es dort vor allem darum, einen Gegenentwurf zur AfD zu repräsentieren?
Eva-Maria Thurnhofer:
Wir sind nicht losgezogen, um gegen die AfD zu wettern. Unser Ansinnen ist eher eine positive Motivation. Vielerorts gibt es schon coole Leute und einen ersten Funken – den müssen wir befeuern. Wir haben geschaut: Wo gibt es schon progressive Kräfte, wo können wir ansetzen? Im Osten ist das oft der Fall.
Vorbild aus den USA
Eure Initiative hat Vorbilder in den USA. »Brand New Congress« und die »Justice Democrats« entstanden Zusammen haben die beiden Initiativen 4 Frauen in den Kongress gehievt, darunter auch Alexandria Ocasio-Cortez.
Eva-Maria Thurnhofer:
Für mich ist das eine Erfolgsgeschichte. AOC hat ein ganz neues Verständnis für Politik und Selbstermächtigung geschaffen, einen Wahnsinnswahlkampf hingelegt, Menschen inspiriert. Am Ende des Tages war ihre Geschichte auch für uns eine Inspiration, das in Deutschland zu versuchen. AOC setzt und hinterfragt im Repräsentantenhaus erfolgreich Themen.
Anders als in den USA herrscht in Deutschland Fraktionsdisziplin, wenn eure Kandidat:innen sich einer Partei anschließen. Fraktionslose dagegen sind Abgeordnete zweiter Klasse. Sie können keine Gesetzesinitiativen starten, haben kein Abstimmungsrecht in Ausschüssen und nur eingeschränktes Rederecht.
Eva-Maria Thurnhofer:
Es stimmt, dass Hürden für Parteilose grundsätzlich höher sind. Vor allem die Rederechte sind ein Problem. Über den Fraktionszwang, der ja eigentlich nicht mal irgendwo niedergeschrieben ist, wird immer wieder viel geredet. Erst mal – und das steht niedergeschrieben – ist jede:r Abgeordnete aber ihren Wähler:innen und dem eigenen Gewissen verpflichtet. Auch parteilose Abgeordnete können auf andere zugehen, Netzwerke aufbauen und darüber Themen vorantreiben. Wenn wir wollen, dass progressive Parteien abseits von ihren Fraktionen wieder mehr thematisch zusammenarbeiten, kann eine Person schon den Unterschied machen.
Zeitreise in den Herbst 2021: Deutschland hat gewählt. Was muss passieren, damit du eure Initiative als Erfolg verbuchst?
Eva-Maria Thurnhofer:
Mein Wunschgedanke für 2021 ist, idealerweise so viele progressive, weitsichtige, glaubwürdige Menschen im Bundestag zu sehen wie möglich, davon idealerweise einige von »Brand New Bundestag«. Und ich wünsche mir einen Koalitionsvertrag, der das auch widerspiegelt.
Hier findest du die beiden anderen aktuellen Dailys: