»Ist das eine Anpassung an den Bildungsbürger oder an den Punk?«
Über das Gelingen oder Misslingen von »Integration« streitet Deutschland immer wieder gerne. Aber haben wir überhaupt begriffen, worüber wir da sprechen? Und wer alles daran beteiligt ist?
Ein Jahr, ein Diskurs: Seit letztem Sommer sind über 1 Million Geflüchtete nach Deutschland gekommen. 365 Tage voller politischer und gesellschaftlicher Diskussionen über die Frage, ob Deutschland das wirklich schafft, nähern sich ihrem Ende. Einige antworten »Nein«, andere beherzt »Ja«, die Unparteiischen suchen noch nach dem Satzende für das »Ja, aber …«. Integrationsgipfel und Fernsehdebatten zu dem Thema boomen. Doch wo viele nur Schattenseiten sehen, gibt es aus wissenschaftlicher Sicht auch einige Fortschritte.
»Wir schaffen das!« – Angela Merkel
beobachtet: »So eine intensive und lange Debatte über Migration haben wir noch nie geführt und das ist wichtig.« Laut der Migrationsforschung ist Deutschland ein Einwanderungsland, und das In einem Einwanderungsland werden Migranten als ein gewichtiger Teil der Sozialstruktur verstanden und ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben muss als gleichwertig gelten. Es besagt auch, dass die Zahl der Einwanderer stark wächst. Als Vorstufe davon gilt das »Zuwanderungsland«. Dort können die Migranten nicht so sehr auf die Gesellschaftsstruktur wirken, denn es ist ungewiss, ob sie sich in dem Land niederlassen werden.
Deutschland, ein Einwanderungsland?
»Wie schaffen wir es?« – Leitfrage des WDR IntegrationsgipfelsDabei blieb eine Auseinandersetzung mit den Inhalten und Teilnehmern von Integration in Deutschland größtenteils auf der Strecke. Kaum eine öffentliche Debatte ist heute frei von Mythen und veralteten Perspektiven auf Integration und Gesellschaft. Das ist keine gute Ausgangslage, wenn man angesichts der jüngsten Entwicklungen – 2015 wanderten erstmals doppelt so viele Menschen nach Deutschland zu wie auswanderten – Pläne für die Zukunft schmieden möchte. Selbst wenn nicht alle von diesen bleiben werden.
Professor Oltmer, lassen Sie uns zu Anfang einmal klarstellen, wie wir über Integration sprechen wollen. Es gibt immer wieder die Kritik daran, dass Begriffe wie Integration und eine zu starke Anpassung von Zuwanderern einfordern würden.
Jochen Oltmer: Später etablierte sich der Begriff der Integration. Seit vielen Jahren sehen wir nun die Kritik an Integration und Assimilation, die auf Prozesse einer uneingeschränkten Anpassung zu verweisen scheinen. Wir sehen in der Regel aber auch, dass es keine intensive Auseinandersetzung gibt, was diese Begriffe eigentlich meinen könnten.
Gelungene Integration steht selten auf Seite 1
Es sind aber nicht nur die Begriffe, die sich ändern.
Jochen Oltmer:
Das, was Integration umfassen soll, wird permanent neu gesellschaftlich ausgehandelt. Eine recht neue Perspektive ist es zu sagen, Integration betreffe nicht nur diejenigen, die irgendwann oder in jüngerer Zeit zugewandert sind, vielmehr betreffe sie alle Mitglieder einer Gesellschaft. Oder zu sagen, Integration sei ein zweiseitiger Prozess. Heißt, die, die kommen, aber auch diejenigen, die in einer Zielgesellschaft leben,
Man muss sich also davon lösen, Integration nur als einen Prozess der Anpassung an eine Gesellschaft zu verstehen?
Jochen Oltmer:
Ohne die Vorstellung einer homogenen Gesellschaft können Integrationsbegriffe nicht funktionieren. Das Dumme ist: Wir wissen ja, die Gesellschaften, über die wir reden, sind alles andere als einheitlich. Das hat nicht unbedingt mit der Herkunft zu tun, sondern beschreibt eine Vielfalt an Lebensstilen und Entwürfen, von Weltbildern, Konzepten über sich selbst und die Gesellschaft. Es gibt eine enorme Heterogenität, was soziale Verhältnisse angeht. Wir sehen, dass nicht jeder Teil der Gesellschaft mit anderen Teilen vernetzt ist. Heißt: Es kann keine Anpassung von Zuwanderern passieren. Woran denn? Ist das eine Anpassung an den Bildungsbürger oder an den Punk?
Ich bin ja dafür, dass im Grundrechte-Katalog ein Artikel eingeführt wird, der den Begriff »Wir« verbietet. Oder zumindest verlangt, dass wenn jemand von »Wir« spricht, auch immer gleich sagt, wen er damit meint. Wir wissen, dass wir mit dem Begriff andere ausschließen.Jochen Oltmer
Was heißt es dann, sich zu integrieren?
Jochen Oltmer:
Wir sind in der Wissenschaft ein gutes Stück ab von der Perspektive zu sagen, es gibt die Integration in die Gesellschaft, weil wir damit nichts erklären können. Denn die Gesellschaft ist sehr komplex. Wir müssen viel kleinschrittiger vorgehen: Zunächst einmal ist Integration die Vernetzung mit Menschen, die zum Teil schon länger an einem spezifischen Ort leben als diejenigen, die neu dazukommen. Das soziale Phänomen Integration bedeutet schlicht: Kommunikation und Kontakte zu knüpfen.
Das heißt, ich bin nicht vollständig integriert, selbst wenn …
Jochen Oltmer:
… ich wunderbar am Arbeitsmarkt integriert bin, aber nach Feierabend in der Wohnanlage, in der ich lebe, keine Kontakte habe und mich nicht mit Menschen vernetzen kann, die dort länger leben. Oder keine Kultur und Vereinsangebote wahrnehmen kann.
Lernt Deutsch! Passt euch den Sitten und Gebräuchen eures Gastlands an!Egemen Bağış, türkischer Europaminister
Sie gehen als Migrationsforscher objektiv mit dem Thema um. Wie praxistauglich sind diese wissenschaftlichen Erkenntnisse dann, wenn es richtig emotional wird, wie nach der Silvesternacht in Köln? Da fragten selbst renommierte Zeitungen:
Jochen Oltmer:
Integration gelingt häufig. Darüber wird aber nicht gesprochen. Wir reden in der Regel ja über die Probleme und Herausforderungen. Wir erzählen also die Integration über das Scheitern. Wir tun so, als könnten wir den Straßenverkehr über Verkehrsunfälle erklären. Dabei geht es auch anders. Wenn wir versuchen, Integrationsprozesse über einen längeren Zeitraum zu beschreiben, gibt es kaum Material über das, was gelungen ist. Weil die Vernetzung der Betroffenen ganz still und leise vor sich geht. Keiner regt sich auf, keiner schreibt darüber, niemand erstattet Anzeige. Im öffentlichen Diskurs ist dieser Prozess kaum sichtbar.
Integration von unten und von oben
Es gibt mittlerweile einige bekannte syrische Social-Media-Persönlichkeiten wie die versuchen, aufzubrechen. Wie bewerten Sie das wachsende Selbstbewusstsein der syrischen Community?
Jochen Oltmer:
Sie tragen dazu bei, dass ein Mehr an Kontakt und ein Mehr an Kommunikation erfolgt. Es gibt dann nicht nur das Reden übereinander, sondern auch ein Reden miteinander. Also tatsächlich etwas, das man Vernetzung nennen könnte. Darüber hinaus steigt für große Teile des Kollektivs die Handlungsmacht. Weil sie eher wahrgenommen werden. Weil sie bestimmte Forderungen formulieren können. Weil sie in der Lage sind, Menschen zu finden, die hier schon länger leben, die sie unterstützen, und es die Möglichkeit gibt, mit politisch Verantwortlichen ins Gespräch zu kommen. Gleichzeitig sind solche Menschen, die in das Kollektiv hineinwirken, Identitätsmanager. Sie haben in der Regel spezifische Vorstellungen, was Syrer und Syrerinnen in Deutschland sind und sein sollten. Und transportieren ihre Vorstellung in die Community hinein.
Es gibt immer Gruppen von Syrern, die neu in Deutschland sind, und die helfen einander. Die geben Antwort auf Fragen wie: Was soll ich machen, wenn ich diesen Brief von der Behörde bekomme oder eine Wohnung finden möchte?Allaa Faham, Student aus Syrien und Videoblogger
Was hat sich noch in diesem Jahr in Sachen Integration getan?
Jochen Oltmer:
So eine intensive und lange Debatte über Migration, Asyl und Flucht hat Deutschland noch nie erlebt und sie ist wichtig. Natürlich sind diese Diskussionen hochgradig kontrovers. Aber wenn ein intensiveres Diskutieren und Aushandeln über Integration und Chancen nicht möglich ist, können Gesellschaften in diesem Feld auch keine Kompetenzen entwickeln.
Wo ließen sich diese Kompetenzen erwerben?
Jochen Oltmer:
Politik wird meist auf eine Entscheiderfunktion reduziert. Vergessen wird, dass Politik eine Moderatorenfunktion im gesellschaftlichen Diskurs hat. Hier versagt sie häufig. Im Feld von Migration und Integration beobachten wir das seit langem. Auch in den vergangenen Monaten hat sie sich nicht intensiv genug zu erklären bemüht, auf welche Weise mit den Veränderungen des Jahres 2015 umgegangen werden soll und umgegangen werden kann. Politische Entscheidungen müssen intensiver erklärt werden.
Welche anderen Akteure müssten sich auch noch stärker in den Diskurs einbringen?
Jochen Oltmer:
Dass wissenschaftliche Erkenntnisse in öffentliche Debatten getragen werden, scheint mir nicht unwichtig zu sein. Natürlich haben auch Universitäten eine gesellschaftliche Verantwortung und sollten nicht so tun, als könnten sie sich in Elfenbeintürme zurückziehen. Auch andere Akteure müssen sich in dem Diskurs positionieren: Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften und Arbeitgeber. Wenn wir annehmen, dass Integration Vernetzung bedeutet, dann spielen Anerkennung, Offenheit, Beratung, Mentoren und Lotsen eine wichtige Rolle. Rechte und Rechtssicherheit tragen ebenfalls dazu bei, denn auch sie erhöhen die Handlungsmacht der oder des Einzelnen und bieten wichtige Perspektiven der Integration.
Mit Illustrationen von
Michael Szyszka
für Perspective Daily
Juliane schlägt den journalistischen Bogen zu Südwestasien und Nordafrika. Sie studierte Islamwissenschaften und arbeitete als freie Journalistin im Libanon. Durch die Konfrontation mit außereuropäischen Perspektiven ist ihr zurück in Deutschland klar geworden: Zwischen Berlin und Beirut liegen gerade einmal 4.000 Kilometer. Das ist weniger Distanz als gedacht.