Hat es noch Sinn, Arbeit in Zeit zu messen?
Ein neues Gesetz könnte uns dazu zwingen, künftig jede Arbeitsminute zu erfassen. Das umzusetzen wird schwierig – und unser Arbeitsleben doch besser machen.
Als der 37-jährige Johann Philipp Möller im Mai 1787, erschöpft von seinen Tätigkeiten im Weimarer Staatsdienst, nach Neapel kommt, muss er feststellen, dass das Leben in der Stadt anders ist, als er es erwartet hatte. Er hatte gehört, dass »dreißig- bis vierzigtausend Müßiggänger
So stieß er zwar auf Menschen, die er »hie und da stillstehen oder ruhen fand«. Doch er erkannte auch, dass dies Leute waren, »deren Beruf es in dem Augenblick mit sich brachte.« Da waren die Lastträger, die an verschiedenen Plätzen standen und nur darauf warteten, bis sie jemand bedienen konnten. Die Schiffer, die an der Mole standen und Pfeife rauchten. Die Kalessaren, also Kutscher, die »auf den großen Plätzen stehen, ihre Pferde besorgen und einem jeden, der sie verlangt, zu Diensten sind.«
Und dann waren da noch die Fischer, »die an der Sonne liegen, weil vielleicht ein ungünstiger Wind weht, der ihnen auf das Meer auszufahren verbietet.« Nein, Müßiggänger konnte der Deutsche hier nicht finden. Es trug »ein jeder ein Zeichen seiner Tätigkeit mit sich«, notierte er.
Wir sind es gewohnt, sorgfältig zwischen Arbeit und Freizeit zu trennen.
Bei dem Mann, dem wir diese Schilderungen verdanken, handelt es sich um den Weimarer Minister und Dichter Johann Wolfgang von Goethe, der im Frühjahr 1787 unter dem Namen Johann Philipp Möller reiste, um unerkannt zu bleiben. Dank seiner »Italienischen Reise« lernen wir Personen wie den Kalessaren, den Lastträger und den Fischer im Hafen kennen. Sie erscheinen uns heute so fremd wie sicher damals schon vielen Nordeuropäer:innen wie Goethe, die längst nicht mehr draußen im Freien arbeiteten, sondern in geschlossenen Fabriken, Handwerksbetrieben und Amtsstuben.
Goethe, der sich zu dieser Zeit eingeengt fühlt durch seine Pflichten am Weimarer Hof, versucht hier zu ergründen, was eigentlich den Charakter von Arbeit auszeichnet. Es ist eine Frage, die heute wieder an Bedeutung gewinnt: Wie können wir die Arbeitszeit von der Freizeit unterscheiden? Ist es in einer mobilen Arbeitswelt, in der Beschäftigte ständig erreichbar sind, überhaupt noch zeitgemäß, diese Grenze zu ziehen?
Vielleicht hilft der Blick in die Vergangenheit, als die Arbeit noch einem natürlichen Rhythmus folgte, um etwas für die Arbeitswelt von heute und morgen zu lernen.
Die industrielle Revolution hat das Nichtstun als Bestandteil der Arbeit verdrängt
Wahrscheinlich haben die Fischer, als sie am Hafen hinaus aufs Meer blickten, nicht darüber nachgedacht, ob sie das, was sie taten, ihrer Arbeitszeit oder ihrer Freizeit zurechnen sollten. Dazu gab es auch keinen Grund, denn niemand überwachte das. Zeit spielte zwar insofern eine Rolle, dass der Fisch rechtzeitig zum Markt transportiert werden musste. Doch damit der Fischer zu guten Ergebnissen kam, gehörte es eben auch zu seiner Arbeit, auf den günstigen Moment zu warten.
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