Kann eine Software die Wut im Netz zähmen? 2 Forscher haben es versucht
Diskussionen im Netz geraten schnell aus den Fugen. Was wäre, wenn ein Programm dir online beim guten Diskutieren hilft?
»Also, ich esse ja schon gern Fleisch.«
»Wer Tiere isst, mordet. Außerdem stinkt die Fleischindustrie nach Kapitalismus!«
»Troll dich, Öko-Marxist!«
»Besser Marx als ein Fascho, du Fascho!«
»Und geblockt.«
Das ist nur eine von unzähligen
Dass es im Internet »rau« zugeht und oft an der Sache vorbeigeredet wird, ist bei weitem nichts Neues. Vor allem unter Zeitungsartikeln und auf sozialen Medien fliegen statt Argumenten sarkastische
Am Ende werden immer mehr Kommentarspalten aus der Not heraus einfach geschlossen
Ein Patentrezept gegen diese grassierende Un-Kommunikation im Netz ist bisher nicht gefunden. Sich nur darüber zu beklagen und an die Diskussionskultur der anderen zu appellieren, hilft meist eher wenig.
Nun haben 2 Forscher aus Deutschland einen neuen Ansatz, der das Netz wieder friedlich machen und zu guten, sachlichen Debatten zurückführen soll. Ihre ersten Tests sind vielversprechend.
Diskussionen anders denken
Informatiker Alexander Schneider forscht dazu, warum Menschen online an Diskussionen teilnehmen oder auch nicht. Gemeinsam mit seinem Kollegen Christian Meter beleuchtet er an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf am Lehrstuhl für Rechnernetze das Diskussionsverhalten von Menschen im Netz.
Wir beobachten, dass viele Leute nicht gerne an Diskussionen teilnehmen, sondern sie maximal lesen. Unsere These ist, dass ein Teil dieser Leute wahrscheinlich gerne teilnehmen würde, ihnen aber ein Anreiz fehlt. Oder sie finden die Diskussionen nicht übersichtlich oder produktiv genug.
Bei einem freien Eingabefeld mit einer festgelegten, knappen Zeichenzahl (wie auf Twitter, 280 Zeichen pro Tweet), die in einer sich rasch aktualisierenden
Und so funktioniert es:
Statt freien Beiträgen unter dem gesamten Artikel werden die Kommentare in Meters und Schneiders Software direkt an bestimmte Passagen des Textes geknüpft. Ist bereits eine Textstelle markiert, kann man sich der Diskussion dazu anschließen. Ist noch keine markiert, kann jederzeit eine neue Diskussion an der Stelle eröffnet werden.
So ist überschaubarer, welche Textstelle diskutiert wird, womit der Bezug klarer ist. Der Sinn dahinter: Statt abgehobene Diskussionen zu führen, sollen eher konkrete und dadurch auch sachlichere Anmerkungen begünstigt werden. »Die direkte Interaktion soll es Menschen auch erleichtern, in die Diskussionen einzusteigen, wenn sie etwas sehen, was diskussionswürdig ist.«
Mit einem Klick öffnet sich eine Eingabemaske, in der eine ganz bestimmte Struktur für die Meinungsäußerung vorgegeben ist: Sie wird in Argument (»Ich denke, dass …«) und Begründung (», weil …«) eingeteilt. Auf das Beispiel des fiktiven Veggie-Tages an der Universität gemünzt, könnte da also stehen: »Ich denke, dass Fleischessen jeden Tag erlaubt sein sollte, weil es die individuelle Freiheit jedes Einzelnen ist, was er konsumiert.« Die Hoffnung der beiden Forscher: Das Programm soll helfen, die eigenen Gedanken klarer zu strukturieren.
Doch die Software kann noch mehr. »Im Hintergrund gliedern wir automatisch die Diskussionen in einen großen Argumentationsgraphen«, also eine Art Übersicht, in der ähnliche Argumente zusammengefasst und Bekräftigungen sowie Gegenargumente farblich unterschieden werden. Wer etwas zu einem Argument schreibt, bekommt bisherige Pro- und Kontrapunkte angezeigt und kann sich ihnen anschließen. Das sorgt für mehr Übersicht und reduziert Wiederholungen. So verwandelt »Discuss« viele Einzeldiskussionen in eine große Gesamtdiskussion mit einer Handvoll Argumenten.
»Gerade bei größeren Diskussionen ist das sinnvoll und bietet Struktur«, erklärt Christian Meter den Ansatz. »Person A kann sich dann ganz explizit auf eine Aussage von Person B beziehen. Die Software hilft also dabei, Argumente zu bringen und auf sie zu reagieren.«
Für die Informatiker besonders interessant ist, dass sich ganze Diskussionsbäume so als grafische Übersicht darstellen lassen.
Ein vielversprechender Ansatz, aber …
Für einen Praxistest luden Alexander Schneider und Christian Meter Studierende ein, »Discuss« 4 Wochen lang auszuprobieren. Das Ergebnis bewerteten die Forscher positiv:
- Mehr Beteiligung: Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe mit normalen Kommentarspalten gaben diejenigen, die »Discuss« verwandten, zum Thema Vegetarismus deutlich mehr Kommentare ab.
- Präzisere Argumente: Die normalen Beiträge der Kontrollgruppe waren im Vergleich zu »Discuss« eher ausufernd und enthielten weniger Argumentatives und vor allem viel »heiße Luft«.
- Weniger Emotionen: Die Diskussionen mit »Discuss« fanden fast ausschließlich auf sachlicher Ebene statt. Emotionen oder persönliche Angriffe kamen kaum vor, obwohl Meinungen ausgetauscht wurden.
Von der Universität ins echte Internet ist natürlich ein weiter Schritt. Und auch die beiden Informatiker denken bestimmte Grenzen und Hindernisse der Software mit: Etwa dass diese Art des Diskutierens erst mal befremdlich wirken könnte – oder dass bei »Discuss« auch etwas verlorengeht. Schließlich decken logische Argumentationsketten nur einen Teil dessen ab, warum Menschen im Netz diskutieren. Denn in »echter Kommunikation« im Netz geht es eben nicht nur um sachliche Argumente – wie die Sprachwissenschaft schon lange weiß –, sondern auch um Selbstdarstellung, Suche nach Bestätigung und Ausdruck eines Gemeinschaftsgefühls. Diese Bedürfnisse könnten mit »Discuss« unbefriedigt bleiben. Die Forscher denken daher an einen hybriden Ansatz, bei dem ein System wie dieses eine typische Kommentarspalte ergänzen könnte.
Doch der Ansatz von »Discuss« zeigt vor allem eines: Andere Arten zu diskutieren sind möglich – auch im Internet. Und die Suche nach einer Software, die ein höfliches und sachliches Miteinander unterstützt und von vielen Menschen gut angenommen wird, hat gerade erst begonnen.
Cara Buchborn ist derzeit Studierende der Hochschule Magdeburg-Stendal für den Bachelor in Journalismus. Sie absolviert im Zeitraum Juni–August 2020 ein Praktikum in der Redaktion von Perspective Daily.
Hier findest du die beiden anderen aktuellen Dailys:
Titelbild: Alejandro Escamilla - CC0 1.0