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Warum wir (k)ein Wachstum brauchen

Wachstum ist zerstörerisch, und doch kommen wir im Moment nicht ohne aus. Gibt es Hoffnung auf eine friedliche Trennung?

2. September 2020  –  14 Minuten

Die Sache mit dem Wirtschaftswachstum lässt mich immer wieder an Goethes Ballade »Der Zauberlehrling« denken:

Der Schüler ist allein und beginnt, Zaubersprüche auszuprobieren, die er bei seinem Meister aufgeschnappt hat. Dabei verwandelt er einen Besen in seinen Knecht, den er an den Fluss schickt, um Wasser zu holen. Alsbald bemerkt er, dass ihm der Spruch, der dem Spuk wieder ein Ende setzt, entfallen ist. So holt der Besenknecht immer mehr Wasser, das Becken im Haus füllt sich bedrohlich. In seiner Not zerschlägt der Lehrling den Besen in der Mitte – doch statt zu stoppen, teilt dieser sich, und nun schleppen gleich 2 von ihnen das Wasser herbei. Der Lehrling hat die Kontrolle verloren.

»Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los.«

Ganz ähnlich scheint es den Industriestaaten heutzutage mit dem Wirtschaftswachstum zu gehen. Im verzweifelten Streben nach immer mehr und mehr kommen sie an ihre Grenzen. Produktion und Konsum fressen Ressourcen und setzen Unmengen an Treibhausgasen frei, stürzen Menschen in physisches und psychisches Elend. Und doch scheint der einzige Ausweg die Flucht nach vorn zu sein: Die Regierungen versuchen, den Wirtschaftsmotor immer weiter zu befeuern. Sie zerschlagen den Besenknecht wieder und wieder, obwohl sie längst im Wasser ertrinken. Es ist, als gäbe es nur die Wahl zwischen Überflutung und Dürre.

Warum also werden wir die Geister des Wirtschaftswachstums nicht mehr los? Müssen wir tatsächlich immer weiterwachsen, um den geschaffenen Wohlstand zu erhalten – oder ist das bloß ein Märchen, das erzählt wird, damit alles so bleibt, wie es ist?

Wie Wirtschaftswachstum wichtig wurde

Alle 3 Monate schauen Nachrichtenmedien zum Statistischen Bundesamt, das jedes Quartal die veröffentlicht. Das BIP fasst den Wert aller in Deutschland produzierten Güter und Dienstleistungen zusammen und soll so aussagen, wie »gut es der Wirtschaft geht«. Und wie an der Metzgertheke heißt auch hier die Antwort auf die Frage »Darf es etwas mehr sein?« sehr zuverlässig: »Ja, bitte!«

Das jährliche Bruttoinlandsprodukt ergibt sich aus den zusammengezählten Werten aller hergestellten Waren und Dienstleistungen eines Landes. – Quelle: pdaily_

Der Knecht soll weiter zum Fluss laufen und Wasser holen. Wachstum wird allgemein mit mehr Arbeitsplätzen, höherem Wohlstand und stärkerem Fortschritt übersetzt – also soll aus der Sicht vieler Politiker:innen und Ökonom:innen Das ist erstaunlich, spielte Wirtschaftswachstum doch als politisches Ziel in der gesamten bisherigen Menschheitsgeschichte praktisch keine Rolle.

Als der Mensch mit dem Ackerbau begann, hat es immer Phasen des Wachstums, aber auch des Zerfalls gegeben, beschreiben der Wirtschaftshistoriker Matthias Schmelzer und die Kulturanthropologin Andrea Vetter die Entwicklung in ihrem Ihre Rekonstruktionen gehen bis zum 18. Jahrhundert von einem Wachstum von etwa 0,05% pro Jahr oder 6% pro Jahrhundert aus. Wachstum wird damals von den nutzbaren Ackerflächen und der vorhandenen Arbeitskraft begrenzt.

Sporadische technische Neuerungen – wie die Windmühle oder Bewässerungstechniken – bringen laut Wirtschaftshistoriker Gregory Clark Bevölkerungswachstum mit sich, Eine neue Art des Wirtschaftens leitet jedoch die große Veränderung ein:

Wirtschaftswachstum und Expansion sind historisch untrennbar mit der kapitalistischen Wirtschaftsweise verknüpft.

Technologische Entwicklungen wie die Dampfmaschine ermöglichen den Beginn eines neuen Zeitalters. Zuvor sei so etwas wie Fortschritt innerhalb einer Generation gar nicht sichtbar gewesen, die Welt ist damals bei der Geburt eines Menschen im Wesentlichen die gleiche wie bei dessen Tod. Das Leben ändert sich nun aber innerhalb von Generationen spürbar – und der Gedanke des Fortschritts kommt auf. In den 1820er-Jahren beginnt

Bis ins frühe 20. Jahrhundert vervielfachen sich die Einkommen der Menschen in Europa. Das Wachstum schafft In den 20er-Jahren werden erstmals Staaten auf dieser Basis miteinander verglichen. Doch erst in der Nachkriegszeit wird Wachstum zu einem Ziel der Politik. In den 60er-Jahren liegen die Pro-Kopf-Wachstumsraten der OECD-StaatenDie OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) ist eine internationale Organisation mit 37 Mitgliedstaaten mit demokratischer Verfassungsordnung und hohem Pro-Kopf-Einkommen. bei durchschnittlich rund 5% pro Jahr, Vor allem der Kalte Krieg befeuert eine Art Wettbewerb, der jeweils die Überlegenheit des kapitalistischen oder kommunistischen Systems zeigen sollte.

Wachstum der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion ist der Rammbock, mit dem wir das kapitalistische System zerschlagen werden.Nikita Chruschtschow, ehem. Regierungschef der Sowjetunion

Der Wunsch nach mehr Größe ist also nicht nur im Kapitalismus zu finden. Auf der anderen Seite werden in der OECD Wachstumsziele ausgegeben und es bildet sich eine Art Ranglistenbetrachtung heraus: Wer viel wächst, der ist wichtig. Anfang der 70er-Jahre stellen einige Wachstum um seiner selbst willen infrage. Die ökologischen Auswirkungen und die Bevölkerungszunahme lassen Zweifel aufkommen, ob diese Strategie so wünschenswert und vor allem auf ewig möglich sei.

Es bleibt ein kurzes Zwischenspiel: Nach der Öl- und Wirtschaftskrise in der ersten Hälfte der 70er-Jahre geht es schnell zurück zur Steigerungslogik. Gegen Ende desselben Jahrzehnts ist es vor allem der Siegeszug des Neoliberalismus, der die politische Richtschnur weiter festzurrt. Um Nachfrage und Wachstum zu schaffen, werden immer mehr Bereiche der Gesellschaft dem Markt überlassen. Bildung, Gesundheitswesen und öffentliche Infrastrukturen werden nach und nach in vielen Ländern privatisiert und