Warum wir (k)ein Wachstum brauchen
Wachstum ist zerstörerisch, und doch kommen wir im Moment nicht ohne aus. Gibt es Hoffnung auf eine friedliche Trennung?
Die Sache mit dem Wirtschaftswachstum lässt mich immer wieder an Goethes Ballade »Der Zauberlehrling« denken:
Der Schüler ist allein und beginnt, Zaubersprüche auszuprobieren, die er bei seinem Meister aufgeschnappt hat. Dabei verwandelt er einen Besen in seinen Knecht, den er an den Fluss schickt, um Wasser zu holen. Alsbald bemerkt er, dass ihm der Spruch, der dem Spuk wieder ein Ende setzt, entfallen ist. So holt der Besenknecht immer mehr Wasser, das Becken im Haus füllt sich bedrohlich. In seiner Not zerschlägt der Lehrling den Besen in der Mitte – doch statt zu stoppen, teilt dieser sich, und nun schleppen gleich 2 von ihnen das Wasser herbei. Der Lehrling hat die Kontrolle verloren.
»Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los.«
Ganz ähnlich scheint es den Industriestaaten heutzutage mit dem Wirtschaftswachstum zu gehen. Im verzweifelten Streben nach immer mehr und mehr kommen sie an ihre Grenzen. Produktion und Konsum fressen Ressourcen und setzen Unmengen an Treibhausgasen frei, stürzen Menschen in physisches und psychisches Elend. Und doch scheint der einzige Ausweg die Flucht nach vorn zu sein: Die Regierungen versuchen, den Wirtschaftsmotor immer weiter zu befeuern. Sie zerschlagen den Besenknecht wieder und wieder, obwohl sie längst im Wasser ertrinken. Es ist, als gäbe es nur die Wahl zwischen Überflutung und Dürre.
Warum also werden wir die Geister des Wirtschaftswachstums nicht mehr los? Müssen wir tatsächlich immer weiterwachsen, um den geschaffenen Wohlstand zu erhalten – oder ist das bloß ein Märchen, das erzählt wird, damit alles so bleibt, wie es ist?
Wie Wirtschaftswachstum wichtig wurde
Alle 3 Monate schauen Nachrichtenmedien zum Statistischen Bundesamt, das jedes Quartal die
Der Knecht soll weiter zum Fluss laufen und Wasser holen. Wachstum wird allgemein mit mehr Arbeitsplätzen, höherem Wohlstand und stärkerem Fortschritt übersetzt – also soll aus der Sicht vieler Politiker:innen und Ökonom:innen
Als der Mensch mit dem Ackerbau begann, hat es immer Phasen des Wachstums, aber auch des Zerfalls gegeben, beschreiben der Wirtschaftshistoriker Matthias Schmelzer und die Kulturanthropologin Andrea Vetter die Entwicklung in ihrem
Sporadische technische Neuerungen – wie die Windmühle oder Bewässerungstechniken – bringen laut Wirtschaftshistoriker Gregory Clark Bevölkerungswachstum mit sich,
Wirtschaftswachstum und Expansion sind historisch untrennbar mit der kapitalistischen Wirtschaftsweise verknüpft.
Technologische Entwicklungen wie die Dampfmaschine ermöglichen den Beginn eines neuen Zeitalters. Zuvor sei so etwas wie Fortschritt innerhalb einer Generation gar nicht sichtbar gewesen, die Welt ist damals bei der Geburt eines Menschen im Wesentlichen die gleiche wie bei dessen Tod. Das Leben ändert sich nun aber innerhalb von Generationen spürbar – und der Gedanke des Fortschritts kommt auf. In den 1820er-Jahren beginnt
Bis ins frühe 20. Jahrhundert vervielfachen sich die Einkommen der Menschen in Europa. Das Wachstum schafft
Wachstum der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion ist der Rammbock, mit dem wir das kapitalistische System zerschlagen werden.
Der Wunsch nach mehr Größe ist also nicht nur im Kapitalismus zu finden. Auf der anderen Seite werden in der OECD Wachstumsziele ausgegeben und es bildet sich eine Art Ranglistenbetrachtung heraus: Wer viel wächst, der ist wichtig. Anfang der 70er-Jahre stellen einige Wachstum um seiner selbst willen infrage. Die ökologischen Auswirkungen und die Bevölkerungszunahme lassen Zweifel aufkommen, ob diese Strategie so wünschenswert und vor allem auf ewig möglich sei.
Es bleibt ein kurzes Zwischenspiel: Nach der Öl- und Wirtschaftskrise in der ersten Hälfte der 70er-Jahre geht es schnell zurück zur Steigerungslogik. Gegen Ende desselben Jahrzehnts ist es vor allem der Siegeszug des Neoliberalismus, der die politische Richtschnur weiter festzurrt. Um Nachfrage und Wachstum zu schaffen, werden immer mehr Bereiche der Gesellschaft dem Markt überlassen. Bildung, Gesundheitswesen und öffentliche Infrastrukturen werden nach und nach in vielen Ländern privatisiert und
Bedürfnisse werden erst geweckt und dann gedeckt – oder?
Der Schweizer Ökonom Mathias Binswanger schreibt in seinem Buch »Der Wachstumszwang« vom Übergang von einer
Es gibt so etwas wie ein erstes Umdenken: Neuseeland oder Island rücken vom BIP als zentralem Maßstab für die Bewertung einer Volkswirtschaft ab. Die Wichtigkeit von Wachstum wird dadurch geschwächt, aber
Um zu entscheiden, ob wir Wachstum wollen oder brauchen, müssen wir darüber nachdenken, was Wachstum eigentlich mit sich bringt.
Wachstum ist gut … und schlecht
Heute gibt es viele, die Wachstum als alternativlos und grundsätzlich gut beschreiben, andere betonen die negative Seite. Mathias Binswanger schreibt dagegen von der Ambivalenz des Wachstums. Es sei gut und schlecht zugleich.
Wachstum hat Millionen Menschen Wohlstand ermöglicht und viele aus der Armut geholt. Ohne Wachstum wären viele Arbeitsplätze, die es heute gibt, nicht da. Die
Einfach gesagt: Wenn der Kuchen jedes Jahr größer wird, können auch alle mehr davon haben. So lässt sich der soziale Frieden wahren. Denn diejenigen, die über das Kapital verfügen, können gleichzeitig mehr bekommen. Dass in den vergangenen Jahrzehnten das Wachstum jedoch keine weitere Wohlstandssteigerung für alle, sondern mehr soziale Ungleichheit brachte, liegt an der
Dann könnten wir also getrost weiterwachsen, wenn wir nur die Umverteilungsmaschine wieder anwerfen? An dieser Stelle kommen wir zu den negativen Eigenschaften des Wachstums – und die sind fundamental.
Zunächst erwirtschaften die Industrieländer ihr Wachstum auf Kosten anderer.
Das Wachstum geht außerdem auf Kosten des Planeten. Vor allem
Bei allem, was Wachstum in der Vergangenheit für viele Menschen getan hat, steht also doch fest: Es muss sich etwas ändern. Genug für alle wäre bei entsprechender Umverteilung schon längst da: Die Menschheit könnte
Kann unsere Wirtschaft also nicht einfach nicht wachsen?
Wachstum bedeutet nicht zwingend Wohlstand
Wirtschaftshistoriker Matthias Schmelzer schreibt von einem Wachstumsparadigma, das tief in den Strukturen der kapitalistischen Wirtschaft verankert ist. Auch weil die Ideen von Wachstum und Wohlstand heutzutage fast untrennbar miteinander verwoben seien.
Die gängige Wachstumstheorie geht davon aus, dass Ersparnisse zu Investitionen in Unternehmen führen. Das geschieht über Aktienkäufe, direkte Investitionen oder auch Rentenversicherungen, die Geld im Namen der Sparer:innen anlegen. Unternehmen bekommen so die Möglichkeit, zum Beispiel in bessere Maschinen oder eine neue Fertigungshalle zu investieren. So können sie dann mehr Arbeitsplätze schaffen oder bessere Produkte herstellen, die wiederum zu mehr Verkäufen und am Ende zu höherem Gewinn führen.
Der technische Fortschritt ermöglicht eine immer größere Produktion, die sich aber nur lohnt, wenn tatsächlich mehr produziert und verkauft wird. Konkurrenz unter den Unternehmen, der Kampf um Marktanteile und die Angst, vom Markt verdrängt zu werden, wirken außerdem wachstumsverstärkend. Das angeblich im Menschen verankerte Streben nach mehr wird oft auch als Wachstumstreiber genannt.
Der Schweizer Ökonom Matthias Binswanger argumentiert in seinem Buch
Laut Binswanger sind diese Kredite eine notwendige Bedingung dafür, dass Wachstum dauerhaft stattfinden kann. Dieses muss dann aber stets weitergehen, damit das System nicht in eine Abwärtsspirale gerät. Ein Aussteigen führe am Ende in die Krise mit mehr Arbeitslosigkeit und Konkursen. Ein dauerhaftes Verharren auf einem bestimmten Niveau könne es deshalb nicht geben. Wachstum sei im kapitalistischen System ein Muss, sagt Binswanger im Perspective-Daily-Interview. Japan beispielsweise werde zwar häufig als Land aufgeführt, das kein Wachstum mehr habe, aber auch dort gebe es bei
Das einzige Beispiel ist Griechenland, das seit 2008 6 Jahre hintereinander nicht gewachsen ist. Mit den Folgen, dass die Arbeitslosigkeit auf fast 30% angestiegen ist und etwa 1/3 aller Unternehmen verschwunden sind.
In Anlehnung an Goethes »Zauberlehrling« bedeutet das also: Wir können es vielleicht irgendwie hinkriegen, dass die Wassermenge langsamer wächst. Aber den Spuk selbst stoppen können wir nicht. Und einen Lehrmeister in Form eines neuen wachstumsunabhängigen Wirtschaftssystems, der uns zur Hilfe kommen könnte, bietet Binswanger nicht an.
Geht es nach ihm, müssen wir also entweder im Wachstumszwang verharren und Wachstum »besser machen« – oder ein ganz neues System entwickeln.
Es darf etwas weniger sein! Aber wie?
Aber wie können wir das Ansteigen des Wassers verlangsamen? Weniger wachsen, sagt Mathias Binswanger, und dafür auch weniger Risiken eingehen. Er plädiert etwa dafür, Aktiengesellschaften zu reformieren. Das System der Aktiengesellschaften sei ein starker Treiber von Wachstum, weil die Anleger:innen eine Wertsteigerung ihrer Anteile erwarten und gleichzeitig jährliche Gewinnausschüttungen. Aktien sollten nach Möglichkeit zeitlich begrenzt ausgegeben und nach beispielsweise 20 Jahren zum ursprünglichen Kaufpreis zurückgegeben werden. So soll der Anreiz für immer weitere Steigerung kurzfristiger Gewinne sinken. Zu einer Mäßigung des Wachstums trage auch bei, andere Unternehmensformen zu fördern, wie Genossenschaften oder Stiftungen.
Unabhängig von seinen Vorschlägen kann auch eine grünere, stärker kreislauforientierte Wirtschaft die negativen Auswirkungen des Wachstums mildern.
Binswangers Theorie, die bisher nicht im Mainstream der Wirtschaftswissenschaft angekommen ist, bleibt zweischneidig. Einerseits erklärt sie das Dilemma, in dem wir stecken, durchaus plausibel. Andererseits bietet sie aber auch eine Art Entschuldigung, im Status quo zu verharren – Wachstum ist hier eine Art Naturgesetz des Kapitalismus.
Die logische Alternative dazu wäre ganz mit dem System zu brechen, es neu zu denken und aufzubauen.
Wirtschaftswissenschaftler Lars Hochmann forscht zu alternativen Wirtschaftsideen. Er gibt in einem Beitrag für das Wirtschaftsmagazin Capital mehr Anlass zur Hoffnung. Es hänge stark davon ab, wie Gesellschaften Wirtschaft verstehen. Eine völlige Neugestaltung sei möglich – wenn sie wirklich gewollt ist.
Wirtschaft ist also kein unveränderliches Naturgesetz, sondern das, was sich eine Gesellschaft als Wirtschaft vorstellen kann und was sie schließlich als Wirtschaft behandelt. Dieser Horizont des Denkmöglichen wird durch Wissenschaft miterzeugt und mitbegründet.
Ökonom:innen der Postwachstumsdisziplin sehen reichlich Gestaltungsmöglichkeiten. Bei den meisten Ideen geht es darum, dem Wachstumsdilemma zu entkommen, indem andere Werte als materielles Wachstum maßgeblich für die Definition von Wohlstand werden. Einige dieser Ideen haben den Charme, dass ihre Umsetzung sofort – also im wachstumsgetriebenen Kapitalismus – beginnen kann, obwohl sie langfristig zu einem anderen Wirtschaften führen sollen. Das heißt aber auch: Ob sie es wirklich schaffen, Gesellschaften von den Wachstumstreibern und -zwängen zu befreien, ist nicht ausgemacht.
Ein Beispiel ist die britische Ökonomin Kate Raworth. Sie schlägt zum Beispiel die Donut-Ökonomie vor. Diese betrachtet 2 zentrale Fragen: Wie erwirtschaftet die Menschheit für möglichst viele Menschen auf der Welt einen guten Lebensstandard? Und wie bleibt der Mensch dabei innerhalb der planetaren Grenzen? Auch hier steht am Ende der Gedanke, dass mengenorientiertes Wachstum an einem Punkt aufhören muss, damit
Einen anderen Vorschlag macht der Österreicher Christian Felber. Sein Rezept, dem alles bestimmenden Wachstum zu entkommen, ist die Gemeinwohlökonomie, die Unternehmen belohnt, die nachhaltig wirtschaften, und solche bestraft, die die Schattenseiten ihres Geschäfts ignorieren. Auch hier geht es nicht darum, Wachstum abzuschaffen, sondern es für Mensch und Umwelt verträglich zu gestalten. Es gibt bereits Unternehmen und Gemeinden, die mit dem Prinzip arbeiten.
Mehr zu Felbers Idee findest du hier:
Und dann gibt es noch einen Ansatz, der tatsächlich eher wie der große Zaubermeister wirkt, der herbeieilt und den magischen Spruch aufsagt, der den ganzen Spuk beendet: Die Postwachstums- oder Degrowth-Bewegung, die eine geregelte Abkehr vom Wachstum ohne Crash für möglich und wünschenswert hält. Manche Vertreter:innen denken dabei auch an eine Deindustrialisierung und den Rückbau von Infrastruktur.
Mehr dazu erfährst du hier:
Bei all diesen Vorschlägen würde sich eine Gesellschaft in neues Fahrwasser begeben. Vorhersagen über das, was sein wird, sind schwer zu treffen. In jedem Fall müssten sich Menschen in industrialisierten Ländern daran gewöhnen, auf unnötigen Überfluss zu verzichten. Doch wenn das Wasser, wie in der Ballade vom Zauberlehrling, bereits das ganze Haus flutet, ist dieser Verzicht vielleicht gar keiner, sondern eher ein Gewinn.
EDIT: In einer früheren Version des Artikels hieß es, die deutsche Wirtschaft sei seit 1950 um das 70-fache gewachsen. In der Berechnung sind Fehler unterlaufen, die diesen Wert infrage stellen. Deswegen wurde die betreffende Passage gestrichen. Die Kernaussagen des Textes sind davon allerdings nicht betroffen.
Titelbild: Perspective Daily