Menschen mit Behinderung machen unter #AbleismTellsMe auf die verbreitete Diskriminierung aufmerksam, die sie erfahren. Was die Aktion bewirken kann, erklärt Inklusionsaktivist Constantin Grosch im Interview.
8. September 2020
– 5 Minuten
visitBerlin | Andi Weiland
Es klingt nach einem freundlichen Satz, den jemand mal zu Constantin Grosch gesagt hat und den er jetzt bei Twitter geteilt hat.
Oder dieser: den der gehörlose Gebärdensprachendolmetscher Benedikt Sequeira Gerardo veröffentlicht hat.
Menschen mit Behinderungen werden oft bedauert, für schwach und hilfsbedürftig gehalten. In gut gemeinten Fällen, wie in diesen beiden Beispielen, werden Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen für ihre Eigenschaften und vermeintlichen Leistungen gelobt.
Dass das in Wahrheit alles gar nicht so freundlich ist, wie es sich Menschen ohne Behinderung vorstellen, zeigen die vielen Tweets, die gerade in den sozialen Netzwerken, vor allem auf Twitter, unter dem Hashtag #AbleismTellsMe geteilt Es ist von vermeintlichen Komplimenten zu lesen, von Diskriminierung, von geraubten Lebenschancen und alltäglichen Einschränkungen. Betroffene berichten auch von besonders schlimmen Fällen, wenn ihnen und ihren Angehörigen Leid unterstellt wird. Wenn sogar infrage gestellt wird, ob es sich lohnt, so zu leben.
Was verrät es über eine Gesellschaft, wenn Menschen ohne Behinderung den Wert eines Lebens mit Behinderung infrage stellen? Was verrät es, wenn sie Menschen mit Behinderungen auf ihre vermeintlichen Defizite reduzieren – und nicht als Individuen sehen?
Es verrät, dass Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen häufig abgewertet und benachteiligt werden. Dafür gibt es den Begriff »Ableism«, auf Deutsch Ableismus, über den ich mit dem Inklusionsaktivisten Constantin Grosch gesprochen habe.
»Ableismus ist ein geübter Habitus der meisten Menschen«
Was verstehst du unter Ableismus?
Constantin Grosch:
Ableismus ist die defizitorientierte Betrachtung von Behinderung, bei der durch das – teilweise zu unrechte – Aberkennen von Fähigkeiten behinderter Menschen diskriminiert und ausgegrenzt wird.
Unter dem Hashtag #AbleismTellsMe sprechen viele Betroffene über ihre persönlichen Erfahrungen mit dieser Art der Diskriminierung. Welche Verhaltensmuster werden hier deutlich?
Constantin Grosch:
Menschen mit Behinderungen werden nicht nur als Wesen mit Defiziten und Makeln betrachtet. Sondern die Perspektive der Nichtbehinderten ist für die Mehrheitsgesellschaft oft die einzig logische und richtige Betrachtung. Sie wird dabei paternalistisch den Menschen mit Behinderungen aufgezwungen und ihre Perspektive aus der eigenen Betroffenheit heraus abgewertet oder negiert. So ermächtigen sich Nichtbehinderte darüber zu urteilen, was ein behinderter Mensch zu können imstande ist oder welche Partizipation an der Gesellschaft für diesen überhaupt sinnvoll sei. Somit werden Menschen mit Behinderungen nicht nur real benachteiligt und diskriminiert, sondern ihre Haltung zu sich selbst und dem Thema Behinderung unterdrückt.
#AbleismTellsMe konfrontiert die sogenannte Mehrheitsgesellschaft jetzt mit genau diesen Verhaltensweisen. Warum ist diese Konfrontation wichtig?
Constantin Grosch:
Die Konfrontation mit Ableismus ist so relevant, weil Ableismus leider ein geübter Habitus der meisten Menschen ist. Dabei passiert dies auf individueller Ebene nicht einmal bewusst oder gar absichtlich. Aber das präsente Bild von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft hat es sie so gelehrt.
Wie zeigt sich dieser Habitus?
Constantin Grosch:
Konkret äußert sich dies als Bevormundung aus falsch verstandener Vorsicht, Fürsorge, fehlendem Zutrauen oder Aberkennung der Selbsteinschätzung behinderter Menschen. Leider geschieht das im Alltag ständig und überall. Da werden sehbehinderte Menschen ungefragt an die Hand genommen, weil sie sich ja gefährlich nahe an der Bahnsteigkante befänden. Menschen mit Depressionen wird einfach nur ein schlechter Tag attestiert oder erwachsenen Rollstuhlfahrern der Kauf eines teuren Produktes verwehrt, solange der Betreuer nicht anwesend sei. Dieses Verhalten verwehrt Betroffenen im Zweifel konkret den Zugang zu Gütern, Dienstleistungen und der Teilhabe an der Gesellschaft und stellt gleichzeitig die Perspektive der nichtbehinderten über die der behinderten Menschen.
»Behinderungen werden als etwas Negatives oder gar Unnatürliches wahrgenommen«
Was glaubst du,
Constantin Grosch:
Die Hoffnung besteht darin, dass nichtbehinderten Menschen ihr paternalistisches und diskriminierendes Verhalten bewusst wird. Denn auch wenn noch immer in Deutschland skandalöse strukturelle Diskriminierung in Wirtschaft und Politik vorherrscht, so ist die Teilhabe in theoretisch zugänglichen Bereichen gerade durch das Verhalten des Otto-Normal-Bürgers eingeschränkt.
Dabei wird oft übersehen, welche Auswirkungen jenes Verhalten auch psychisch auf Menschen mit Behinderungen hat und sie in ihrer Selbstwahrnehmung beeinflusst. Wenn jetzt auf Twitter behinderte Menschen davon schreiben, dass sie Aktivitäten unterlassen, weil sie nicht ständig als Last empfunden werden wollen, nicht Bittsteller sein möchten oder ständig Dankbarkeit signalisieren wollen, dann geht es genau darum: eine Normalisierung von Behinderung.
Du hast selbst in einem Tweet beschrieben, wie du wieder und wieder darauf hingewiesen wurdest, dass deine Krankheit bald vermeintlich geheilt werden könne. Was verrät dieser Ableismus über den, der ihn ausübt?
Constantin Grosch:
Zunächst offenbart es die Perspektive auf Behinderung. Behinderungen werden als etwas Negatives oder gar Unnatürliches wahrgenommen, welche man beseitigen, heilen, verstecken oder ausgleichen müsste. Es unterstellt damit, dass das Leben mit einer Behinderung nicht gleichwertig oder nicht im gleichen Maße erfüllend sein kann, und stellt die Hypothese in den Raum, dass auch jeder Mensch mit Behinderung sich gerne ohne seine Behinderung sähe.
Somit wird auf einer zweiten Ebene die Hoffnung der nichtbehinderten Person auf den behinderten Menschen übertragen und ungefragt als gegeben vorausgesetzt. Es wird dabei der Versuch unternommen, die Person von der Behinderung zu entkoppeln und getrennt zu betrachten, obwohl gerade dies der betroffenen Person selbst nicht möglich ist. Es mag sein, dass sich auch die behinderte Person ein Leben ohne Behinderung wünschen oder vorstellen mag, aber dies ist bei Weitem nicht immer der Fall. Gerade bei Menschen, die ihre Behinderung von frühester Kindheit oder Jugend haben, ist diese oft genauso ein Teil der Persönlichkeit und der eigenen Wahrnehmung wie andere Merkmale auch.
»Es ist, als würde man als individueller Mensch nicht existieren«
In deinem Tweet beschreibst du auch, wie Menschen ohne Behinderung die Deutungshoheit über die Behinderungen anderer Menschen übernehmen, oft ohne es zu merken. Der Wunsch, ein Leben ohne Behinderung zu führen, wird dir ungefragt zugeschrieben.
Constantin Grosch:
Gerade in diesem Beispiel wird die Behinderung nur in ihrer medizinischen Dimension begriffen. Dabei hat Behinderung natürlich auch eine So könnten die meisten Menschen mit Behinderungen eine viel größere Teilhabe an der Gesellschaft genießen, wenn diese Gesellschaft inklusiv, barrierefrei und tolerant wäre. Damit ist die Vorstellung von Heilung meist sehr weit entfernt von den tatsächlichen Hoffnungen und Forderungen betroffener Menschen, die in ihrem Lebensalltag die auch ohne ein »medizinisches Wunder« gelöst werden könnten.
Betroffene über vermeintliche Heilungschancen zu informieren erscheint mir auch besonders herablassend.
Constantin Grosch:
Ja. Es ist natürlich anmaßend, wenn ein entfernter Verwandter meint, er müsse einen Menschen mit Behinderung darüber unterrichten, welche medizinischen Fortschritte es gebe. Abgesehen davon, dass dies meist nicht besonders qualifiziert passiert, zeigt es außerdem, dass der behinderte Mensch auch primär als eine Behinderung wahrgenommen wird. Ich erlebe es dann selbst oft, dass mir grundsätzlich andere Fragen gestellt werden als den anderen Gästen der Familienfeier. Statt zu fragen, wie es in meinem Berufs- oder Privatleben aussieht oder man sich über Hobbys austauscht, wird man reduziert auf die medizinische Behinderung. Es ist, als würde man als individueller Mensch nicht existieren und die Bekanntschaft sich nur darüber den Kopf zerbrechen, wie dieser negative Aspekt behoben werden könne, statt sich einfach direkt mit der Person auseinanderzusetzen. Es mag eine subjektive Wahrnehmung sein, aber durch #AbleismTellsMe wird es als kollektive Empfindung offenbart. Auch deshalb ist dieser Hashtag so wichtig.
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Kennst du auch das Gefühl, 1.000 Dinge tun zu wollen – oder zu müssen? Wie nutzt du die Zeit, die du hast? Stefan geht aus soziologischer Perspektive der Frage nach, wie eine neue Zeitkultur aussehen kann – und wie wir Zeit gestalten können, ohne immer nur hinterherzurennen. Dazu gehört auch die Frage, wie die Vereinbarkeit von Arbeit, Familie und Privatleben gelingen kann.