4 Gründe, warum die Coronamaßnahmen nicht übertrieben sind
Lockdown, Maskenpflicht, endlose Tests: alles übertrieben? Unsere Leser:innen wollten, dass wir kritisch auf die Vorgänge blicken.
In den vergangenen Wochen erreichten uns immer öfter Kommentare und E-Mails, in denen wir aufgefordert wurden, endlich die »Wahrheit« über
Wir sind für euch in die Zahlen eingetaucht und haben festgestellt: Oft gibt es keine eindeutigen Antworten. Trotzdem
Das Vorsorgeprinzip: Von der Schwierigkeit, bei großer Unsicherheit Entscheidungen zu treffen
»An Corona zu sterben, ist unwahrscheinlicher, als bei einem Autounfall ums Leben zu kommen!« – solche Thesen begegnen uns immer
Intuitiv werden die meisten Menschen auf das Virus tippen – zu Recht! Das zeigt, warum der Vergleich dieser unterschiedlichen Todesursachen und der damit verbundenen Risiken schiefläuft. Ein ansteckendes Virus verbreitet sich exponentiell – Autounfälle und Herzinfarkte jedoch nicht.
Auch das neue Coronavirus hat sich anfangs mit exponentiellem Wachstum verbreitet – und kann tödlich verlaufen. Unsere intuitive Antwort auf die Frage oben hat gezeigt: Wir halten es durchaus für möglich, dass eine Pandemie einen großen Teil der Menschheit das Leben kosten kann.
Nur: Wie tödlich das Virus tatsächlich ist, wusste zu Beginn der Ausbreitung niemand. Und genau diese Unsicherheit ist ein entscheidender Punkt. Wenn niemand weiß, welche Folgen zu erwarten sind, ist es sinnvoll, sich über Worst-Case-Szenarien Gedanken zu machen.
Wenn ein Worst-Case-Szenario also einen Großteil der Weltbevölkerung bedroht,
Das lässt sich natürlich nicht eins zu eins auf die heutige Situation übertragen, veranschaulicht aber, was das Vorsorgeprinzip bestenfalls bewirken kann. Es sieht vor, Schäden an der Gesellschaft vorsorglich zu vermeiden –
Vorsicht ist besser als Nachsicht
Auch in vielen anderen Bereichen wird das Vorsorgeprinzip angewandt, in Deutschland und in der EU zum Beispiel in der Umweltpolitik. Das Umweltbundesamt schreibt dazu:
Die Maßnahmen während der Coronapandemie können als eine Ausprägung dieses Vorsorgeprinzips verstanden werden: Im Vergleich dazu, was die Pandemie im schlimmsten Fall hätte auslösen können (und in einigen Ländern auch ausgelöst hat), erschienen die Maßnahmen und die damit verbundenen Folgen als das kleinere Übel. Ob sich diese Annahme letztendlich bestätigt, müssen weitere Auswertungen zeigen – auch die sieht das Vorsorgeprinzip vor. Ändert sich die Wissensbasis zu einem Thema, werden auch die Maßnahmen angepasst, so wie es sich auch in der aktuellen Pandemie beobachten lässt.
Doch mit dem jetzigen Wissensstand in die Vergangenheit zu blicken und zu urteilen, dass wir
Das Problem mit den Fallzahlen: Wie viele Menschen sind tatsächlich mit Corona infiziert?
»Die Fälle in den USA steigen an, weil wir viel mehr testen als jedes andere Land auf der Welt«, argumentierte US-Präsident Donald Trump
Tatsächlich wurden in den vergangenen Wochen immer mehr Coronatests durchgeführt, und prompt ist auch die Zahl der Neuinfektionen wieder gestiegen. Heißt das, dass die Zahlen in Wahrheit gar nicht steigen, sondern wir einfach nur mehr Fälle »aufdecken«?
Die Antwort liegt irgendwo dazwischen: Die Steigerung der Fallzahlen ist sehr wahrscheinlich teilweise darauf zurückzuführen, dass wir intensiver suchen. Jedoch schwankte die Zahl der Neuinfektionen teils unabhängig von der Anzahl der Tests. Ein Beispiel: In der letzten Woche ist die absolute Anzahl der Neuinfektionen sogar wieder gesunken, obwohl die Zahl der Tests sich kaum geändert hat.
Doch es gibt noch eine weitere Komponente: Wenn wir mehr Tests durchführen, gibt es auch mehr Fälle von Testergebnissen, die fälschlicherweise positiv sind. Diese Zahlen sind zwar relativ gering – doch unter gewissen Umständen können die sogenannten »falsch positiven« Ergebnisse tatsächlich zum Problem werden. Ist das im Moment der Fall? Unserer Recherche nach eher nicht.
- Sensitivität: Wie genau zeigt ein Test, ob jemand infiziert ist?
- Spezifität: Und wie genau zeigt ein Test, ob jemand nicht infiziert ist?
Treten im Ablauf keine Fehler auf, sind falsch positive Ergebnisse auf SARS-CoV-2 extrem unwahrscheinlich. Das liegt vor allem an der Methode, mit der die Probe untersucht wird:
»Ist die Virusmenge sehr gering, werden weitere Tests mit der Probe gemacht, um einen Fehler auszuschließen«, erklärt uns Hendrik Borucki vom Labordiagnostik-Unternehmen Bioscentia, das täglich mehr als 10.000 Coronatests durchführt. Bei den PCR-Tests werden meist Virusgruppen gesucht, die spezifisch für SARS-CoV-2 sind. »In unseren Laboren wird zudem nicht nur eine Gengruppe gesucht, sondern meistens 2 bis 3«, ergänzt Borucki. Werden in der Probe verschiedene Gene gefunden, die mit dem neuen Coronavirus übereinstimmen, ist ein Fehler so gut wie ausgeschlossen. Die Sicherheit der Tests liege dann bei etwa 99,99%.
Klar ist aber:
Szenario 1: Wenige Gesunde in der Gruppe der Getesteten
Angenommen, wir testen eine Gruppe von 1.000 Personen und wissen, dass 800 Personen mit dem Coronavirus infiziert sind. Die restlichen 200 sind völlig
Läuft der Test 97,8–100% sauber ab, je nach getestetem Gen (Spezifität), wie es Ergebnisse aus Ringversuchen
Zum Vergleich betrachten wir nun eine Gruppe, in der sehr wenige Menschen tatsächlich Corona haben: 10 Personen sind infiziert, 990 sind coronafrei.
Szenario 2: Wenige Kranke in der Gruppe der Getesteten
Das heißt auch: Je größer der Anteil der Personen ist, die in Wirklichkeit nicht infiziert sind, desto größer ist auch der Anteil falsch positiver Ergebnisse innerhalb der Gruppe der als infiziert eingestuften Personen. In unserem zweiten fiktiven Szenario wären etwa 1/3 aller positiven Ergebnisse falsch positiv – also 5 der insgesamt 15 positiven Testergebnisse, die unter den 1.000 Getesteten gefunden wurden.
Was heißt das für die Testergebnisse in der Praxis?
Damit die Ergebnisse so genau wie möglich sind, ist es sinnvoll, vor allem Personen zu testen, bei denen ein begründeter Verdacht auf eine Infektion besteht – beispielsweise weil sie Symptome aufweisen oder mit einer erkrankten Person in Kontakt waren. Diese Herangehensweise wird nun auch in Deutschland vermehrt umgesetzt.
Eine genaue Zahl zu falsch positiven und falsch negativen Ergebnissen anzugeben, bleibt weiterhin schwierig, denn
Ohnehin ist die Rate der falsch negativen Ergebnisse ein größerer Grund zur Sorge – denn
Das Problem mit der Übersterblichkeit: Dass in Deutschland nicht übermäßig viele Menschen sterben, heißt nicht, dass es keine Pandemie gibt
Um das Ausmaß einer Katastrophe einzuschätzen – etwa bei Kriegen, Naturkatastrophen oder eben Krankheitsausbrüchen –, wenden Forscher:innen sich üblicherweise einer bestimmten Messgröße zu: der Übersterblichkeit. Sie vergleichen also die Zahl der Todesfälle, die sie normalerweise für einen bestimmten Zeitraum erwarten würden, mit der Zahl der Toten, die es in diesem Zeitraum tatsächlich gab. Für viele Wissenschaftler:innen ist diese Zahl auch aktuell eine robuste Methode, um die Auswirkungen der Pandemie zu messen. Sie kann beispielsweise auch Epidemiolog:innen helfen, Vergleiche zwischen Ländern zu ziehen und Covid-19-Hotspots auszumachen.
Für Deutschland beobachtet das Statistische Bundesamt derzeit in einer Sonderauswertung, ob das Coronavirus zu einer Übersterblichkeit geführt hat. Bisher sind in dieser Statistik noch keine gravierenden Ausreißer im Vergleich zu den letzten Jahren zu sehen. Lediglich im April lagen die Zahlen leicht über dem Durchschnitt der Vorjahre.
Dass es keine extremen Ausreißer gab, bedeutet allerdings nicht, dass das Virus ungefährlich ist. Betrachten wir Sterbefälle in ganz Europa, sieht es schon wieder anders aus. Hier gab es im Vergleich zu den Vorjahren einen eindeutigen Ausschlag nach oben:
Auch weltweit betrachtet sind mehr Menschen gestorben als in den vergangenen Jahren. Derzeit liegen dazu Zahlen aus über 30 Ländern vor. Demnach
- Zahlen von Übersterblichkeit und Covid-19-Toten passen nicht zusammen: Weltweit wurden knapp 413.000 der bisher 600.000 übermäßigen Todesfälle offiziell Covid-19 zugeschrieben. Diese Differenz kann verschiedene Gründe haben: So können Infektionen beispielsweise aufgrund fehlender Tests unerkannt bleiben. Außerdem zählen verschiedene Länder die Todesfälle auf unterschiedliche Weise, auch in Europa. Manche Länder schlossen etwa Todesfälle aus, die in Pflegeheimen auftraten.
Aus diesem Grund kann auch nicht immer unterschieden werden, welche Menschen an der Krankheit sterben oder an anderen Folgen der Pandemie, wie etwa Störungen in der regulären Gesundheitsversorgung, weil das System überlastet ist. - Umgekehrt können sich der Lockdown und Präventionsmaßnahmen auch positiv auswirken und so die Übersterblichkeit abmildern: Beispielsweise wurde auch die Verbreitung anderer Krankheitserreger gebremst, wie die des Influenzavirus. Zudem sinkt das Risiko für Autounfälle automatisch, wenn Menschen seltener unterwegs sind.
- Nicht alle Daten sind zuverlässig: Um die Übersterblichkeit zu ermitteln, müssen die Länder ihre Todesfälle zeitnah und genau melden. Nicht in allen Ländern gelingt das – es geschieht auch, dass Todeszahlen zurückgehalten werden, vor allem seit die Zahl der Todesfälle als Maß dafür gesehen wird, wie gut der Umgang mit der Pandemie in verschiedenen Ländern gelingt.
Um all diese Faktoren einzubeziehen, braucht es Zeit – aktuelle Zahlen sind deshalb nur schwer im Detail zu interpretieren. Sicher ist jedoch: Die Pandemie und ihre Folgen – wie die Überlastungen der Gesundheitssysteme mancher Länder – sind der Grund dafür, dass in diesem Jahr überall auf der Welt mehr Menschen gestorben sind.
Die Zahlen in Deutschland deuten trotz ihrer Schwächen darauf hin, dass das Virus hier nicht so schwere Auswirkungen hatte wie in anderen Ländern.
Es gibt nicht nur weniger Tote, auch die Intensivstationen sind leer – obwohl es wieder mehr Neuinfektionen gibt. Ist das nicht ein Zeichen dafür, dass das Virus ungefährlich ist?
In Deutschland wurden die Kapazitäten der Intensivstationen zu Beginn der Pandemie ausgeweitet. Auch hier wurde im Grunde das Vorsorgeprinzip angewandt. Denn niemand wusste, wie rasch sich die Ausbreitung eindämmen lassen würde und wie gefährlich das Virus für jede:n Einzelne:n ist.
Mittlerweile wissen wir: Das Virus ist für ältere und vorbelastete Menschen die größte Gefahr.
Dass es gerade mehr Infizierte, aber weniger schwere Verläufe gibt, hängt vor allem damit zusammen, wer sich derzeit am häufigsten infiziert und getestet wird:
Dennoch ist es möglich, dass Menschen ohne schwere Symptome andere anstecken und dafür sorgen, dass das Virus auch wieder Menschen erreicht, für die eine Infektion schwerere Folgen hätte. Ob das passiert, wird sich in den nächsten Wochen zeigen. Um eine solche Entwicklung zu vermeiden, sollen sich Rückkehrer:innen aus Risikogebieten derzeit in Quarantäne begeben und bei Infektionsverdacht einen Coronatest machen.
Wenn es in Deutschland so wenige Tote und schwere Verläufe gibt: Müssen Masken dann wirklich noch sein?
Die Antwort auf diese Frage ergibt sich auch aus den vorherigen Punkten: Es ist Teil des Vorsorgeprinzips, die Maske zu tragen. Sie ist nicht dazu da, sich selbst vor einer Infektion zu schützen – sondern andere. Doch nicht alle sind davon überzeugt, dass der Mundschutz sinnvoll ist. Einige fürchten sogar negative Konsequenzen für ihre Gesundheit (für die es bisher allerdings keine Anhaltspunkte gibt).
Was manche zweifeln lässt: Trotz Maskenpflicht steigt die Zahl der Neuinfektionen wieder an. Bringt der Mund-Nasen-Schutz somit überhaupt etwas?
Das funktioniert selbst dann, wenn nicht
Wie effektiv Masken selbst dann sein können, wenn sie nicht optimal gehandhabt werden,
Eine ausreichend dicke, selbst gebastelte Maske
Noch größer wird der Effekt, wenn wir die Dosis von Viruspartikeln in der Luft einbeziehen. Je mehr Viruspartikel in der Luft schweben, desto wahrscheinlicher ist es, krank zu werden. Der Zusammenhang zwischen der Menge an Viruspartikeln in der Luft und der Wahrscheinlichkeit zu erkranken
Je weniger Viruspartikel sich in der Umgebung befinden, desto sicherer ist also jede:r Einzelne. Masken sind dabei einer der einfachsten Wege, dies zu erreichen. Wer die Maske trägt, hilft also solidarisch dabei, alle zu schützen – nicht nur sich selbst.
Fazit: Bevor wir argumentieren, sollten wir uns vergegenwärtigen, wie komplex das Thema ist
Alles in allem ist die Situation in den meisten Fällen deutlich komplexer, als sie auf den ersten Blick scheint. Einfache Aussagen über Zahlen und Maßnahmen zu treffen ist deshalb unverantwortlich. Das sollten wir bedenken, wenn wir in Zukunft darüber diskutieren.
Korrektur: Eine in diesem Text verlinkte Quelle bezog sich auf
Mit Illustrationen von Doğu Kaya für Perspective Daily