6 Dinge, auf die es im Umgang mit der Pandemie jetzt ankommt
Damit wir ohne Lockdown durch den Winter kommen, sind alle gefragt. Wir klären noch einmal einige eurer Fragen zu Corona und den Maßnahmen.
Die Infektionszahlen in Deutschland steigen gerade wieder an, Bundeskanzlerin Angela Merkel warnte gar, dass es zu Weihnachten mehr als 19.000 Neuinfektionen pro Tag geben könne, wenn es so weitergeht wie bisher. In ihrer
Alle Regelungen, Verordnungen, Maßnahmen nützen wenig bis nichts, wenn sie nicht von den Menschen angenommen und eingehalten werden. Deshalb müssen wir reden: Im Familienkreis, im Freundeskreis, mit Kolleginnen und Kollegen […], wir müssen reden, erklären, wir müssen vermitteln.
Das, was Angela Merkel fordert, versuchen wir auch in unseren Artikeln umzusetzen: Wir wollen aufklären, Missverständnisse aus der Welt schaffen und darüber informieren, wie es weitergehen kann.
Einige Fragen waren bei Mitgliedern nach dem Artikel noch offen – und unsere Gedanken dazu so ausführlich, dass wir sie in einem zweiten Artikel zusammengefasst haben. Wir haben Nachfragen, Kritik und inhaltliche Ergänzungen reflektiert und daraus folgende Schlüsse gezogen:
Lehre 1: Kosten und Nutzen einer Maßnahme gegeneinander aufzurechnen ist schwer. Wahrscheinlich gilt aber: Lieber früh und entschlossen handeln als zu spät
Wer den ersten Text gelesen hat, weiß: Die Politik hat zu Beginn der Pandemie weitreichende Maßnahmen getroffen, um die ungebremste Ausbreitung des Virus – und die Folgen, die diese hätte – zu verhindern. Aber sind Kosten und Nutzen der Coronaregelungen wirklich verhältnismäßig gewesen? Unsere Leser:innen sind hier geteilter Meinung. Einige finden: Welche Maßnahmen tatsächlich einen wesentlichen positiven Effekt hatten, sei schwer festzustellen. Die Nachteile der Beschränkungen würden jedoch schwer wiegen – sowohl wirtschaftlich als auch auf individueller Ebene.
Es stimmt natürlich, die Maßnahmen haben vielen Menschen das Leben erschwert; sie konnten Angehörige im Krankenhaus nicht besuchen, manche haben ihren Job verloren, sowohl Kinder als auch Erwachsene konnten ihre Freund:innen nicht treffen. Die vergangenen Monate waren hart – für einige deutlich härter als für andere. Und auch die Wirtschaft hat gelitten.
Gleichzeitig ist auch klar: Das, was gemacht wurde, konnte die
Hätte die Pandemie glimpflicher verlaufen können?
Wäre die Pandemie glimpflicher verlaufen, wenn wir früher gehandelt hätten? Auch das lässt sich im Nachhinein nur schwer sagen. Allerdings gibt es mittlerweile Erkenntnisse darüber, wie sich die wirtschaftliche Lage in verschiedenen Ländern verändert hat. 2 Länder, die besonders früh gehandelt haben, sind
Das ist zwar kein eindeutiger Beweis dafür, dass diese Entwicklung eine Konsequenz der früh getroffenen Coronamaßnahmen ist, denn für das wirtschaftliche Wachstum eines Landes spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Wichtig ist etwa auch, wie die wirtschaftliche Lage im Land vor der Krise war und wie stark die Wirtschaft von der Situation anderer Länder abhängt. Trotzdem deuten die Zahlen darauf hin, dass frühes Handeln den beiden Ländern eher geholfen als geschadet hat. Besonders schwer getroffen wurden dagegen Länder, in denen sich das Virus unkontrolliert ausbreiten konnte – beispielsweise Spanien.
Was heißt »früher gehandelt«?
Aber was heißt das genau – »früher gehandelt«? Einige Epidemiolog:innen und Forscher:innen, die sich mit
Krankheitsausbrüche sind unvermeidlich, aber eine angemessene vorbeugende Reaktion kann das Risiko für den gesamten Globus mindern. Dafür müssen Politiker:innen und Entscheidungsträger:innen jedoch schnell handeln und den Trugschluss vermeiden, dass ein angemessener Respekt vor der Unsicherheit angesichts einer möglichen irreversiblen Katastrophe einer »Paranoia« gleichkommt, umgekehrt gilt das auch für den Glauben, dass nichts getan werden kann.
Klar – direkt zu Beginn der Pandemie Flüge und Urlaube zu streichen, hätte Milliarden gekostet. Zu dem Zeitpunkt hätte dieser Eingriff auf viele sicher übertrieben gewirkt, denn über das Virus war noch viel weniger bekannt als heute. Doch die Folgekosten der Ausbreitung liegen mittlerweile im Bereich der
Lehre 2: Wir können uns jetzt dazu entscheiden, einige oder sogar alle Maßnahmen fallen zu lassen, weil wir mittlerweile mehr über das Virus wissen – aber uns sollte bewusst sein, welches Risiko wir damit eingehen
Die Maßnahmen in Deutschland sollten die Ausbreitung des Virus bremsen und nachvollziehbar machen. Das Ziel dabei war es vor allem, Risikogruppen zu schützen und schweren Verläufen der Krankheit vorzubeugen – auch um die Überlastung von Krankenhäusern zu verhindern. Zeitgleich wurden die Kapazitäten der Intensivstationen erhöht.
Im Verlauf der Pandemie zeigt sich nun: Trotz steigender Infektionszahlen haben die Krankenhäuser in Deutschland noch viele freie Plätze. Statt allein auf die Zahl der Erkrankungen zu schauen, fordern deshalb manche, zu beobachten, wie stark das Gesundheitssystem ausgelastet ist – und dementsprechend zu handeln.
Zwischen leeren Intensivstationen und einem überlasteten Gesundheitssystem herrscht ein sehr schmaler Grat
Das Problem: Zwischen einem Gesundheitssystem, das überrannt wird und an seine Belastungsgrenze stößt, und der niedrigen Auslastung, die aktuell herrscht, liegt ein sehr schmaler Grat. Im Moment ist es noch möglich, viele Infizierte zu behandeln und eine mögliche Weiterverbreitung schnell zu erkennen. Die Nachverfolgung von Infizierten und ihren Kontaktpersonen funktioniert relativ
Würden die Zahlen nun stark ansteigen, ändert sich die Lage: Die Gesundheitsämter würden, wie zu Beginn der Pandemie, an ihre Belastungsgrenze stoßen – und niemand könnte mehr genau einschätzen, wie sich das Virus in der Bevölkerung ausbreitet. In diese Situation sind einige Nachbarländer Deutschlands bereits
Jetzt gilt es herauszufinden, worauf der langsamere Anstieg zurückzuführen ist: Darauf, dass zunächst eher jüngere Menschen erkrankt sind, die seltener im Krankenhaus landen? Oder doch darauf, dass sich viele Menschen mittlerweile von allein an die
Auch in den Intensivstationen ist es derzeit noch relativ ruhig, in Deutschland sind aktuell knapp
Ob diese nationalen Trends wieder Kipppunkte erreichen werden oder ob sie weiterhin im grünen Bereich bleiben, ist momentan unklar. Daher sollten uns 3 Faktoren bewusst sein, wenn wir über Lockerungen diskutieren:
- Wir wissen nicht, ob unser Gesundheitssystem einer erneuten unkontrollierten Verbreitung standhalten würden. Es wäre möglich, dass diesmal weniger Menschen schwer erkranken. Jedoch könnte es ebenso dazu kommen, dass Krankenhäuser überrannt werden und an ihre Belastungsgrenzen geraten. Zahlen aus Frankreich, Spanien und den Niederlanden deuten darauf hin, dass dies nicht unwahrscheinlich wäre. Die Zahl der schweren Fälle steigt zwar langsamer als im März, jedoch sind sie nur knapp von den Zahlen entfernt, die Anlass für den damaligen Lockdown gegeben haben.
- Steigen die Infektionszahlen, sind Risikogruppen noch mehr in Gefahr. Diejenigen, die sich schützen wollen, da von dem Virus eine größere Gefahr für sie ausgeht, müssten sich noch weiter aus der Gesellschaft zurückziehen. Wäre das gerecht?
- Wir wissen wenig über die Langzeiteffekte von COVID-19. Es gibt Hinweise darauf, dass bei schweren Verläufen permanente Schäden an Lunge und Herz auftreten können. Folgeschäden des Virus können zudem über Monaten andauern – sogar bei Menschen, die keine Symptome zeigten. Bisher handelt es sich nur um
Wenn wir gemeinsam entscheiden, die Würfel zu werfen, nehmen wir solche möglichen Konsequenzen in Kauf – das sollte uns bewusst sein.
Lehre 3: Das Vorsorgeprinzip sollte nicht nur bei Pandemien zum Einsatz kommen – sondern auch in anderen Bereichen stärker einbezogen werden
Eine Frage, die in unserem Diskussionsbereich auftauchte, lässt sich in etwa wie folgt zusammenfassen: »Wieso wird beim Vorsorgeprinzip mit zweierlei Maß gemessen?« Während in der Pandemie alles getan wird, um die Verbreitung und mögliche Folgen zu bremsen, sieht es in anderen Bereichen anders aus. Besonders die Klimakatastrophe wird nicht annähernd so entschieden angegangen, obwohl auch sie
Das Vorsorgeprinzip auch in anderen Bereichen verstärkt einzusetzen wäre deshalb sicher keine schlechte Idee.
Lehre 4: Kritik am Umgang mit der Pandemie öffentlich zu diskutieren ist wichtig, wenn die Kritik auf Fakten basiert
In E-Mails und Diskussionen wurde uns in den letzten Wochen wiederholt vorgeworfen, wir würden kritische Stimmen nicht zu Wort kommen lassen. Einige kritische Argumente haben wir hier und auch in unserem letzten Text bereits aufgegriffen und erklärt.
Häufig erwähnt wurde beispielsweise das Buch »Corona Fehlalarm?« von Sucharit Bhakdi und Karina Reiss. Die Aufforderungen, sich mit seinen Thesen auseinanderzusetzen, ist uns nicht entgangen und wir haben sie auch nicht ignoriert – viel mehr haben wir darüber diskutiert, wie wir damit umgehen sollen. Denn offensichtlich scheinen Bhakdis und Reiss’ Aussagen für eine zunehmende Zahl von Menschen relevant zu sein – das Buch der beiden ist mittlerweile ein Bestseller.
Nach ausgiebiger Diskussion haben wir uns dagegen entschieden, Bhakdi und Reiss zu befragen – aus folgenden Gründen:
- Die Universität, an der Reiss lehrt, hat sich von den Autor:innen distanziert: Karina Reiss, die gemeinsam mit Sucharit Bhakdi das Buch »Corona Fehlalarm?« verfasst hat, ist Professorin für Dermatologie an der Universität Kiel. Die
- Viele Aussagen sind eindeutig falsch: Verdrehte Fakten der beiden Autor:innen lassen sich auch abseits des Buches immer wieder finden. In
- Es gibt mittlerweile viele ausführliche Auseinandersetzungen mit den Argumenten der beiden Buchautor:innen. Zum Beispiel bei
Lehre 5: Im Zweifel für die Maske: Der Mundschutz ist unangenehm – aber unbedenklich
Fragen, die in den Diskussionen auch immer wieder auftauchen: Ist der Mundschutz gesundheitsschädlich? Atmen wir zu viel CO2 ein, wenn wir die Mund-Nasen-Bedeckung tragen?
Masken sind vielleicht unangenehm, aber unbedenklich: Vor allem in den sozialen Medien wird häufig behauptet, das Tragen von Masken führe zur Rückatmung von CO2. Hinter der Maske würde sich ausgeatmete Luft sammeln, die viel CO2 enthält, und erneut eingeatmet. Mehrere kleine Untersuchungen zeigen mittlerweile, dass diese Theorie falsch ist. Ein Grund dafür: Die ausgeatmete Luft sammelt sich nicht hinter der Maske, sondern
Zu einem leichten CO2-Anstieg im Blut kann es, besonders bei dichten Masken, vermutlich dennoch kommen. Darauf weist ein kleines Experiment hin, dass kürzlich im
Gleichzeitig muss man auch klar sagen: Eine groß angelegte Studie gibt es hierzu noch nicht und gerade für Menschen, die unter hoher Belastung den ganzen Tag eine Maske tragen, kann das anstrengend sein – denn durch das Material entsteht ein zusätzlicher Widerstand beim
Die
Abseits davon gibt es einiges, was das Tragen einer Maske für alle angenehmer machen kann:
- Behandle deine Masken wie Unterwäsche – du solltest sie also nicht teilen und regelmäßig waschen.
- Maskenpausen einbauen: Viele Menschen sind nur kurzfristig mit dem Tragen ihrer Maske beschäftigt, etwa wenn sie mit der Bahn fahren. Doch in einigen Berufen gehört die Maske mittlerweile zur Arbeitskleidung: etwa in der Gastronomie oder in manchen Schulen. Wer merkt, dass die Maske belastet, sollte darauf achten, regelmäßig Maskenpausen einzulegen – statt einer Raucherpause sozusagen –, am besten im Freien. Wer trotzdem Beschwerden durch das Maskentragen hat, sollte mit einem Arzt darüber sprechen.
- Das richtige Maskenmaterial: Die Maske soll vor allem Tröpfchen abfangen – dazu sind die meisten Materialien in der Lage. Wichtiger, als einen besonders dichten Stoff zu wählen, ist es deshalb, dass es sich gut durch die Maske atmen lässt. Zudem können Maskenträger:innen darauf achten, dass der Stoff der Maske unbehandelt ist, keine Beschichtung enthält und nicht fusselt. So gelangen keine unerwünschten Stoffe in die Atemwege.
Lehre 6: Es ist wichtig, die eigene Verantwortung ernst zu nehmen – auch wenn es manchmal schwer ist
»Warum dürfen manche Fußballspiele mit Publikum stattfinden, aber auf dem Einschulungsfoto gilt dann Maskenpflicht?« – Solche Erfahrungen haben in letzter Zeit wohl einige gemacht – und ihr Unverständnis darüber kundgetan, wie inkonsequent manche Maßnahmen und ihre Umsetzung erscheinen. Hier lässt sich nur festhalten: Ja, das stimmt, manche Maßnahmen werden tatsächlich nicht überall gleich umgesetzt und stiften dadurch ziemlich viel Verwirrung.
Zwar hat das auch Vorteile, wenn beispielsweise konkret auf die Lage vor Ort reagiert werden kann – denn die Infektionszahlen unterscheiden sich auf lokaler Ebene teilweise massiv. Allerdings kann verschiedenes Vorgehen auch für Unverständnis sorgen, wenn nicht für alle die gleichen Regeln gelten.
Die Frage ist, welche Konsequenz wir im Einzelnen daraus ziehen. Wollen wir, dass Ausnahmen wie bei den Fußballspielen zur Regel werden, einfach damit es »fair« ist?
Oder entscheiden wir uns, uns an die Empfehlungen der Bundesregierung zu halten, egal ob es nun einzeln vorgeschrieben ist oder nicht?
Sicher ist: Je mehr jede:r Einzelne tut, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, desto besser kommen wir durch den Winter. Das haben kürzlich auch die Präsident:innen der 4 großen deutschen
Wenn wir es schaffen, die Anzahl an Neuerkrankungen niedrig zu halten, können die Infektionsketten unterbrochen oder mindestens eingedämmt werden. Das Befolgen der angesprochenen Maßnahmen ist ein direkter Beitrag, um Leben und Existenzen zu schützen und unser gesellschaftliches Leben zu normalisieren.
Wichtig ist laut den Forscher:innen Folgendes:
- Die Hygienemaßnahmen wirken – und sollten weiter eingehalten werden.
- Die Nachverfolgung von Infektionsketten funktioniert – aber nur wenn gleichzeitig Hygienemaßnahmen umgesetzt werden.
- Gezieltes Testen ist wichtig, denn Testkapazitäten sind begrenzt.
- Die Vermeidung von Superspreading-Events kann maßgeblich dabei helfen, die Ausbreitung zu
»Wenn jede Person nach ihren Möglichkeiten ihren Beitrag leistet, kann SARS-CoV-2 unter Kontrolle gehalten werden«, schreiben die Wissenschaftler:innen weiter. Das passt auch dazu, was Angela Merkel in den Schlussworten ihrer Rede am Mittwoch auf den Punkt gebracht hat:
Ich bin sicher: Das Leben, wie wir es kennen, wird zurückkehren […] – und was für eine Freude wird das sein. Aber jetzt müssen wir zeigen, dass wir weiter geduldig und vernünftig handeln und so Leben retten können. Jetzt müssen wir verstehen, dass es weiter auf jeden und jede Einzelne ankommt. Darum bitte ich Sie.
Titelbild: United Nations Covid 19 - CC BY-NC-ND 2.0