»Wo sind die ganzen Leute jetzt, die für uns geklatscht haben?«
Im ersten »zeigen was geht«-Podcast treffen wir Krankenpflegerin Nina Böhmer. Und sprechen mit ihr über Panikmache um Corona, ihr Treffen mit dem Gesundheitsminister und »Grey’s Anatomy«.
16. Oktober 2020
– 45 Minuten
Perspective Daily
»Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken.« Dieser Satz stammt von der Krankenpflegerin Nina Böhmer. Er war ihre Reaktion auf das Klatschen für das Krankenhauspersonal von den Balkonen zu Coronazeiten. Der Satz ging im Internet viral und
Katie Gallus trifft Nina Böhmer für die erste Folge des »zeigen was geht«-Podcasts an der Charité in Berlin. Und spaziert von dort aus mit ihr zum Gesundheitsministerium. Dort war Böhmer erst vor ein paar Monaten eingeladen und traf Jens Spahn. Wie war das Zusammentreffen? Was denkt sie über die Coronademos? Warum arbeitet sie lieber für eine Zeitarbeitsfirma als fest im Krankenhaus? Und wie sieht unsere Zukunft mit Corona aus?
Den Spaziergang mit Nina Böhmer könnt ihr direkt hier hören.
Weil einige von euch lieber lesen als hören, bereiten wir den Podcast hier als ungeschnittenes Transkript auf. Übrigens: Diesen und andere Perspective-Daily-Podcasts kannst du auch in deinem Lieblingswebplayer bei Spotify, iTunes und vielen anderen Kanälen abonnieren.
Katie Gallus:
Hallo Nina! Umarmen ist ja nicht in diesen Zeiten. Aber ich habe uns Desinfektionsmittel mitgebracht. Komm, ich gebe mal eine Runde aus. Den Geruch bist du wahrscheinlich schon gewohnt, oder?
Zukunftsorientiert, verständlich, werbefrei. Dafür stehen wir. Mit Wohlfühl-Nachrichten hat das nichts zu tun. Wir sind davon überzeugt, dass Journalismus etwas bewegen kann, wenn er sowohl Probleme erklärt als auch positive Entwicklungen und Möglichkeiten vorstellt. Wir lösen Probleme besser, wenn wir umfassend informiert und positiv gestimmt sind – und das funktioniert auch in den Medien. Studien haben gezeigt, dass Texte, die verschiedene Lösungen diskutieren, zu mehr Interesse führen, positive Emotionen erzeugen und eine erhöhte Handlungsbereitschaft generieren können. Das ist die Idee unseres Konstruktiven Journalismus.
Nina Böhmer:
Ja. Aber jedes riecht auch unterschiedlich.
Katie Gallus:
Ist das von der Qualität abhängig?
Nina Böhmer:
Das weiß ich nicht.
Katie Gallus:
Danke, dass du uns deine Zeit heute schenkst. Du hast mit deinem Post auf Facebook so einiges losgetreten. Er wurde Ich würde zu Beginn einfach direkt damit anfangen. Du hast geschrieben: Wir sollen weiterarbeiten, wenn wir Kontakt zu einem Covid-19 Patienten hatten. (…) Scheiß egal, es könnten eine Pflegekraft 50 Patienten betreuen. Dann sagt Herr Spahn es geht gar nicht um die Bezahlung in dem Beruf, es ist nur wichtig den Job attraktiver zu machen. Es ist nur wichtig, den Job attraktiver zu machen. (…) Wir sollen jetzt die Helden sein und werden so behandelt? Eigentlich sollen genau jetzt alle Pflegekräfte ihren Job kündigen! Ich bin richtig doll traurig und enttäuscht, ich fühle mich verarscht und ich kann es nicht fassen. Ich bin ernsthaft sprachlos. (…) Und euer Klatschen könnt ihr euch sonst wo hinstecken ehrlich gesagt … Tut mir leid es so zu sagen aber wenn ihr helfen wollt oder zeigen wollt wie viel wir Wert sind dann helft uns für bessere Bedingungen zu kämpfen!Nina Böhmer auf ihrem Facebookprofil
Das Ganze wurde unfassbar oft, über 90.000-mal geliked bzw. über 70.000-mal geteilt. Kannst du uns mal mitnehmen. Das war jetzt im März. Was hat dich damals so wütend gemacht?
Nina Böhmer:
Zu der Zeit habe ich ziemlich viel gearbeitet. Weil sich wahrscheinlich einige auch krankgemeldet haben und ich wurde gefragt, ob ich einspringen möchte. Damals war auch viel Chaos. Denn in den Krankenhäusern wusste man nicht so recht, wie man mit dem Coronavirus umgehen soll. Auch meine Flugreise zu meinem Freund nach England war bedroht wegen des Reiseverbots. Das hat mich ziemlich aufgebracht. Leute sind auch in die Krankenhäuser gegangen, haben Handschuhe geklaut, Desinfektionsmittel und Schutzkittel. Sodass man teilweise vor einem Patientenzimmer stand und sich nicht schützen konnte. Und das hat mich dann ziemlich sauer gemacht. Auch weil ich immer wieder neue Artikel gelesen habe. Zum Beispiel informierte das RKI, dass wir nicht 2 Wochen in Quarantäne müssen, wenn wir mit infizierten Patienten zu tun haben. Und Herr Spahn setzte die Personaluntergrenzen aus. Das hat mich ziemlich wütend gemacht in dem Moment.
Katie Gallus:
Dann hast du also einfach drauflos geschrieben? Oder wie muss ich mir das vorstellen?
Nina Böhmer:
Ja, ich habe gedacht: Jetzt muss ich das einfach rauslassen und habe dann drauflos getippt.
Katie Gallus:
Wir sprechen über viele Punkte noch mal im Laufe unseres Spaziergangs. Wir haben ja einen weiten Weg. Wir stehen jetzt hier an der Charité in Berlin. Hinter diesen Wänden passiert ja einiges. Welchen Bezug hast du zur Charité? Oder hat sie sie für dich in diesem Jahr eine neue Bedeutung bekommen?
Nina Böhmer:
Wenn ich daran denke, denke ich tatsächlich als Erstes an die Fernsehserie. Die ist eigentlich ziemlich gut. (lacht) Und dann hat die Charité natürlich eine große Bedeutung. Es ist ein großes Krankenhaus und da arbeiten viele gute Ärzte und viele gute Pflegekräfte. Und ich selbst habe auch schon mal einen Tag auf der Rettungsstelle der Charité gearbeitet. Eigentlich ein schönes Krankenhaus.
Katie Gallus:
Du hast aber gerade gesagt, dass Schutzkleidung geklaut wurde. Wie muss ich mir das vorstellen? Dass ihr keine Masken habt? Wer klaut denn Schutzkleidung? Wer klaut Masken? Wer klaut denn Handschuhe?
Nina Böhmer:
Das habe ich mich tatsächlich auch gefragt. Ich glaube, wenn man das so sagen darf: Ein bisschen Schuld daran sind auch die Medien. Es wurde ja sehr viel Panik gemacht und klar, es war ein neuartiges Virus. Keiner wusste so recht, was das bedeutet, und alle waren verunsichert. Die Leute haben dann in den Supermärkten massenweise Nudeln gekauft. Es gab kein Toilettenpapier mehr da. Ich habe auch einen Monat lang nach Toilettenpapier gesucht, bis meine Mama mir was gekauft hatte. Die Leute hatten Angst und sind dann auch in die Krankenhäuser gegangen, weil da steht eigentlich alles offen rum. Es würde ja niemand damit rechnen, dass sowas geklaut wird. Doch dann wurden einfach Desinfektionsmittel aus den Ständern rausgenommen, Masken, die vor infektiösen Zimmern lagen, einfach eingesteckt. Teilweise wurden auch Lagerräume ausgeräumt. Auch das Toilettenpapier wurde aus den Krankenhäusern gestohlen. Ganz unfassbar.
Katie Gallus:
Hat man rausgefunden, wer das war? Wurde auch mal jemand bei euch im Krankenhaus erwischt? Oder hat man das schweigend hingenommen?
Nina Böhmer:
Also, ich glaube nicht, dass man irgendjemanden erwischt hat. Ich habe zumindest nichts mitbekommen.
Katie Gallus:
Du schreibst in deinem Buch, ich zitiere dich: »Je mehr sich die Corona-Krise verschärfte, desto größer wurde das Chaos in den Krankenhäusern.« Hast du das Chaos auf diesen Materialschwund bezogen? Oder gab es da noch viel mehr Chaos anderer Natur?
Nina Böhmer:
Jeden Tag gefühlt kamen neue Anordnungen. In dem einen Krankenhaus hieß es dann, Besucher dürfen nicht mehr kommen. In einem anderen Krankenhaus dann doch. Oder es gab Besuchssperren, aber trotzdem hat man gesagt: »Okay, sie können noch mal schnell reinkommen.« Es waren keine richtigen festen Anordnungen da und deswegen war jeder auch so ein bisschen unsicher. Dann war in Krankenhäusern nicht klar: Tragen wir jetzt eine Maske den ganzen Tag, oder tragen wir keine Maske, auf Station oder nur in den Patientenzimmern?
Katie Gallus:
Ich kann mir vorstellen, dass es einen total irre macht, wenn man nicht weiß, was jetzt richtig und was falsch ist. Wie bist du damit umgegangen beziehungsweise wie hast du deinen Weg gefunden, ruhig zu bleiben? Und auch wenn du durch deinen Post mal Dampf abgelassen hast, trotzdem bei dir zu bleiben?
Nina Böhmer:
Ich habe mich einfach der Situation angepasst. Und bin ruhig geblieben. Nach meinem Post hatte ich alles rausgelassen. Und dann kam ja auch schon die Anfrage mit dem Buch. Darin konnte ich mir alles von der Seele schreiben. Danach ging es mir auch tatsächlich ein bisschen besser.
Kathie Gallus:
Du hast aber gerade auch über die Medien gesprochen. Kannst du uns sagen, wie du aus deiner Innenansicht, aus deiner Perspektive die Medienberichterstattung bewerten würdest? War sie neutral genug? War sie panisch?
Nina Böhmer:
Mir war sie zu panisch. Ich hätte mir gewünscht, dass in so einer Situation, in so einer Pandemie Ruhe vermittelt wird. Man weiß ja auch, wie es zum Beispiel bei Massenveranstaltungen läuft. Wenn da Panik ausbricht, weiß man, dass man ruhig bleiben muss. Und so hätte ich mir das auch in so einer Situation von den Medien gewünscht. Und das wünsche ich mir manchmal immer noch. Es wird ja von hohen Infektionszahlen geredet, aber im Endeffekt nicht von dem richtigen Infektionsgeschehen. Man redet von 2.000 infizierten Menschen, aber nicht wer wirklich Symptome hat und wer wirklich schwersterkrankt ist. Ich finde, darin muss man unterscheiden.
Katie Gallus:
Denkst du, dass viele einfach verunsichert sind?
Nina Böhmer:
Ich denke natürlich, dass die Leute verunsichert sind. Gerade wenn man vielleicht auch nicht aus dem medizinischen Bereich und sich damit nicht auskennt, ist man natürlich verunsichert. Das ist ja eigentlich mit jedem Thema so. Wo man sich nicht gut auskennt, ist man unsicher.
Katie Gallus:
Nicht jedes Jahr gibt es eine Pandemie. Da sind viele auch überfordert. Ich will niemanden in Schutz nehmen. Die Frage ist einfach nur: Wie erklärt man es dann richtig?
Nina Böhmer:
Ich weiß es nicht. Es gab ja davor schon Epidemien. Ich meine, die Schweinegrippe. Das Coronavirus gab es ja schon einmal. Ich denke, daraus hätte man schon längst lernen können.
Katie Gallus:
Jetzt ist auch oft von der Triage die Rede. Wer bekommt die Beatmungsgeräte? Kannst du uns eine Definition geben, was du unter der Triage verstehst? Und was du über die Berichterstattung denkst?
Nina Böhmer:
Es wurde vor allem aus Italien darüber berichtet, dass die Ärzte dort entscheiden mussten, wen sie beatmen und wen nicht. Ich finde, es wurde ein bisschen falsch kommuniziert. Denn Ärzte behandeln immer jeden. Die Frage ist nur: wie? Ob ich palliativ zum Beispiel behandele oder mich für eine Beatmung entscheide. Ich glaube nicht, dass es so weit gekommen wäre und hier ist es ja auch gar nicht so weit gekommen. Ich meine, die Intensivbetten waren ja auch nie extrem überfüllt so wie in Italien. Ich glaube, da hätte sich nie jemand Sorgen machen müssen, ob er behandelt wird oder nicht.
Katie Gallus:
Aber haben dir die Bilder aus Italien nicht Angst gemacht?
Nina Böhmer:
Ja, natürlich. Italien war ganz schlimm. In den USA gab es auch ganz viele Infizierte. Ich glaube, diese Bilder würden jedem Angst machen.
Juliane Metzker (Produzentin): Ganz kurz. Warum wir die Frage überhaupt gestellt haben: Eine Bekannte von mir hat einen Medienbericht gesehen, in dem es hieß: So, das ist die Risikogruppe, die sozusagen zuerst hopsgeht. Und sie hat einen halben Herzinfarkt gekriegt im Wohnzimmer, weil sie genau in diese Risikogruppe gefallen ist.
Katie Gallus:
Wenn Patienten so etwas hören – über Triage –, in welche Panik verfällt man dann auch innerhalb von Klinikwänden? Und wie geht man damit um, mit den Ängsten und mit der Panik von den Patient:innen, wenn man selbst im Strudel ist und nicht weiß, wie man sich selber schützen kann?
Nina Böhmer:
Ich finde es sehr interessant. Ich habe das zum Beispiel nicht mitbekommen mit diesem Bericht. Und finde es unmöglich, so etwas überhaupt zu bringen, weil, wie gesagt, wir in dieser Situation überhaupt niemals waren. Und ich glaube auch nicht, dass Ärzte jemals sagen würden, wir behandeln die Leute jetzt nicht mehr. Das würde ja auch gegen den Eid der Ärzte sprechen. Denn man behandelt immer jeden. Und das meinte ich auch mit Panik verbreiten. Das ist nicht in Ordnung. Gerade wir in Deutschland haben eigentlich ein gutes Gesundheitssystem und wir sind gut ausgestattet. Es waren genug Beatmungsgeräte da, man hat noch mal welche bestellt, und das Messegelände wurde umgebaut. Für mich gab es da keinerlei Panik zu machen.
Katie Gallus:
Wir stehen immer noch vor der Charité, und ich möchte dich noch mal gedanklich mitnehmen zu dem Moment, wo du geschrieben hast: »Ich werde diesen Moment nie vergessen. In dieser Sekunde zerbarst die Stille durch einen riesigen Jubelschrei.« Das war der Moment, als du offiziell Krankenpflegerin geworden bist. Freudentränen rollten da die Wange runter. Und du hast da geschrieben: »Ich war da, wo ich hinwollte.« Kannst du uns noch mal kurz sagen, was für dich da in Erfüllung gegangen ist?
Nina Böhmer:
Da ist natürlich ein großer Traum in Erfüllung gegangen, weil ich ziemlich lange gekämpft habe, um überhaupt diesen Beruf zu erlernen. Ich hatte ja kein Abitur und damals wollte man, warum auch immer, bevorzugt Abiturienten für den Beruf. Weil ich so lange gekämpft habe, war das unfassbar, dass ich endlich Krankenschwester bin. Ich war so stolz auf mich. Ich habe mich besonders gefühlt in diesen weißen Klamotten. Meine Lieblingsserie war auch immer »Grey’s Anatomy«. (lacht) Am schönsten ist natürlich die Dankbarkeit von den Menschen zu erfahren, wenn man denen hilft, wenn man sie unterstützt. Das ist eigentlich der Hauptgrund.
Katie Gallus:
Aber trotzdem war dein Weg ja nicht ganz einfach. Die Probezeit, das ist ja auch bekannt, ist der Härtetest. Hattest du auch mal Selbstzweifel auf dem ganzen Weg, dass du es einfach nie schaffst, dass du die Prüfung nicht besteht? Oder hast du immer an dich und deinen Traum geglaubt?
Nina Böhmer:
Es wurde ja von Anfang an schon ein bisschen vermittelt: Das wird eine ganz schwere Ausbildung, und manche schaffen das nicht. Ich hatte von Anfang an Angst, dass ich das nicht schaffe. Auch vor dem Examen, weil man so viel lernen und so viel wissen muss; die ganze Anatomie vom Menschen und teilweise auch Operationstechniken und die Pflege und Rechtliches. Es ist ja nicht nur Pflege an sich oder wie man mit Menschen umgeht, sondern auch alles drumherum. Ja, natürlich hatte ich immer Angst, dass ich es nicht schaffe. Und dann vielleicht noch mal die Prüfung machen muss und es dann auch nicht schaffe. Aber wenn man genug lernt und sich wirklich dafür interessiert, dann schafft man das auch.
Katie Gallus:
Wie gehst du selbst mit Selbstzweifeln um?
Nina Böhmer:
Ich zweifle schon manchmal an mir. Aber ich halte auch an Sachen fest. Wenn ich etwas unbedingt will, dann kämpfe ich auch dafür. Man muss sich auch selbst immer ein bisschen Mut machen und immer ein bisschen Selbstvertrauen haben.
Katie Gallus:
Gibt es Charaktere und gute Seelen, die dich bei deiner Arbeit auch inspiriert haben?
Nina Böhmer:
Meine Mama hat mich eigentlich immer unterstützt und inspiriert. Sie ist ein ganz netter, herzlicher Mensch und hilft auch sehr gerne anderen Menschen. Dadurch, dass ich auf verschiedenen Stationen war, Praktika und Ausbildung gemacht habe, habe ich sehr viel Erfahrung gesammelt. Am Anfang war ich ein ganz schüchterner Mensch, war ganz, ganz ruhig, hab immer nur geguckt und kaum geredet. Mit der Zeit ist mein Selbstvertrauen viel größer geworden, weil ich mit mehr und mehr fremden Menschen in Kontakt kam. So bin ich daran gewachsen.
Katie Gallus:
Was würdest du der 20-jährigen Nina raten?
Nina Böhmer:
Eigentlich alles genau so machen wie jetzt.
Katie Gallus:
Wie toll. Wir sind immer noch an der Charité. Jetzt sind ja Krankenhauswände auch Wände, wo Tod und Leben zwischen Tür und Angel hängen oder zumindest nebeneinander wohnen können. Wenn wir jetzt so bewertend werden. Was sind denn gute Kliniken deiner Meinung nach? Wo es auch schön ist zum Arbeiten, wo es schön ist zum Leben und wo es auch schön ist zum Sterben?
Nina Böhmer:
Am meisten kommt es eigentlich auf das Team an, finde ich. Das schafft die ganze Atmosphäre. Wenn es im Team irgendwie nicht läuft, dann überträgt sich das auch nach außen. Und dann merken das auch die Patienten. Ich finde aber auch, ein Krankenhaus muss einen besonderen Standard haben. Wenn ich zum Beispiel – das hatte ich glaube ich auch im Buch geschrieben – ein Bronchoskop, mit dem man in die Lunge guckt, das was weiß ich wie alt ist, benutzen muss; das finde ich nicht so schön. Das ist zwar so, weil wahrscheinlich so viele Krankenhäuser nicht so gut finanziert werden. Aber schön ist natürlich auch, wenn man im modernen Umfeld arbeitet.
Katie Gallus:
Du schreibst auch manchmal: Krankenhaus oder Irrenhaus? Da stellst du die Frage: »Wo bin ich denn?« Du weißt es manchmal selber nicht. Was war denn das Schockierendste, was du dort jemals erlebt hast?
Nina Böhmer:
Das war zum Beispiel die Situation, wo ich noch Schülerin war und mit der Kollegin einen Patienten waschen gegangen bin und sie so schnell drauf losgelegt hat. Also diesen Patienten zu waschen. Creme mit ins Waschwasser gemacht hat, weil sie der Meinung war, dass man sich dann das Eincremen spart. Das hat mich so schockiert. Das fand ich so extrem, auch dieses Schnelle. Man nimmt sich ja eigentlich Zeit, auch wenn man nicht so viel Zeit hat. Und sie hat einfach diesen Patienten innerhalb von 5 Minuten gewaschen. Das fand ich nicht in Ordnung.
Katie Gallus:
Wie lange brauchst du oder wie lange nimmst du dir Zeit zum Waschen? Gibt es da auch so Zeitdruck, dass man sich einen Wecker stellt?
Nina Böhmer:
Wenn man jetzt davon ausgeht, was man in der Schule lernt, dann hat man 45 Minuten für einen Patienten Zeit. Natürlich ist das in der Praxis unmöglich. Man stimmt das auf die Patienten individuell ab. Doch, man muss sich schon beeilen und versucht, dass es anders rüberkommt.
Katie Gallus:
Ich höre jetzt viel Zeitdruck raus und Stress und Hektik. Wie hast du gelernt, damit umzugehen, mit diesem Zeitdruck, auch mit dem Umgang mit Stress zwischen Leben und Tod?
Nina Böhmer:
Die Erfahrung mit dem ersten toten Patienten hatte ich, als ich 16 war. Gleich beim ersten Praktikum. Ich wollte dabei sein, als wir ihn in die Pathologie gefahren haben. Die Schwestern fragten mich, ob ich mir wirklich sicher wäre. Ich war irgendwie interessiert, aber danach war es auch ein sehr merkwürdiges Gefühl. Als ob der Tod einen begleitet. Ich hab mir dann gesagt: So ist das Leben. Es ist total traurig für die Angehörigen und alles. Aber so ist leider das Leben, auch wenn es echt hart klingt.
Katie Gallus:
Hast du da ein Ritual, auch wenn der Tod dann kommt? Dass du dir, wenn ein Patient stirbt, kurz Zeit nimmst? Oder machst du das eher am Ende des Tages?
Nina Böhmer:
Das ist ganz unterschiedlich. Manchmal macht man den Patienten dann noch mal zurecht. Und dabei kann man dann so ein bisschen damit abschließen. Zu Hause muss man versuchen, das nicht so nah an sich ranzulassen, sondern sich auch ein bisschen abzulenken.
Katie Gallus:
Hast du denn auch Angst, Fehler zu machen? Ich weiß aus meinem Heimatkreis Göppingen: Da hat eine Krankenpflegerin falsche Medikamente verabreicht und es kam leider zu Todesfällen. Ich glaube, dass du auch in dem Buch von dem Fall geschrieben hast. Und da hat man vielleicht auch Angst, Fehler zu machen. Wie ist das bei dir? Hast du Angst oder kontrollierst du lieber alles 5-mal? Wie geht man damit um, mit dieser Angst im Nacken sozusagen, auch Fehler machen zu können?
Nina Böhmer:
Dadurch, dass ich Zeitarbeitskraft bin und oft einfach an einen Ort komme, wo ich die Patienten gar nicht kenne, begleitet mich dieser Gedanke ganz viel. Dass ich denke, hoffentlich mache ich nichts falsch und deswegen kontrolliere ich tatsächlich alles 3-, 4-mal, bevor ich irgendein Medikament verabreiche, einfach um sicherzugehen. Weil das immer passieren kann. Gerade im Stress. Gerade wenn man Zeitdruck hat. Man will ja auch alles schaffen. Und dann macht man manchmal schnell, schnell. Und manchmal sehen die Medikamente auch völlig gleich aus. Und da muss man schon gut hingucken. Die Angst begleitet mich oft. Das ist mir auch glaube ich schon mal passiert, dass ich ein falsches Medikament verabreicht habe. Man informiert dann den Arzt. Aber es war schon ein Schreckmoment und bleibt einem immer im Gedächtnis. Es hätte auch schiefgehen können.
Katie Gallus:
Zeitarbeitsfirma – wie bist du dazu gekommen? Das ist ja etwas anderes, als fest in einem Krankenhaus zu arbeiten. Wie muss ich mir deinen Arbeitsalltag vorstellen?
Nina Böhmer:
Meine Firma vermittelt mir Arbeit an den Tagen, an denen ich arbeiten möchte und wie ich arbeiten möchte. Ich hatte mich dafür entschieden, weil ich damals mit meinem Freund zusammengekommen bin und der ist Engländer und wohnt in England. Ich brauchte Flexibilität. Und das hatte ich einfach nicht in einem festen Krankenhaus. Man muss seinen Urlaub ein Jahr vorher planen. Und es ist auch oft schwierig, weil die Dienstpläne meistens 3 Monate vorher geschrieben werden. Und dann muss man immer jemanden zum Tauschen finden und findet keinen …
Katie Gallus:
Warum machen das nicht mehr Krankenpfleger:innen?
Nina Böhmer:
Ich glaube schon, dass es ganz schön viele Leute machen. Wenn ich mit Schülern rede, dann frage ich auch: »Und wenn du ausgelernt hast, was willst du dann machen?« Die Antwort: »Ich gehe dann erst einmal 2 Jahre dahin oder dorthin, damit ich ein bisschen Erfahrung sammele. Und danach arbeite ich für eine Zeitarbeitsfirma.«
Katie Gallus:
Wie gehen denn die Kliniken damit um, dass mehr und mehr Krankenpfleger:innen in Zeitarbeitsfirmen arbeiten? Ist das jetzt positiv oder sagen die auch, Mensch, wir würden euch ja schon gerne bei uns haben?
Nina Böhmer:
Ich glaube, viele Kliniken finden das nicht so gut. Trotzdem ist man auf uns angewiesen. Wir werden natürlich oft gebucht, weil man sonst das Personal einfach nicht abdecken könnte. Manche Festangestellten finden das nicht so gut, wenn Leasing-Kräfte kommen, weil einige schlechte Erfahrungen damit gemacht haben.
Katie Gallus:
Eine Sache, die ich jetzt in diesen ganzen Krisenzeiten – ich nenne es jetzt Coronakrisenzeit – nicht verstanden habe, ist, dass auch Kliniken Kurzarbeit angemeldet haben.
Nina Böhmer:
Das habe ich leider auch nicht verstanden. Ich wurde Ende März ganz oft gebucht, weil es ja hieß, dass alle Kliniken aufstocken sollen. Auf einmal, ab Anfang April hieß es dann, die Krankenhäuser sind zu leer, der Dienst ist storniert. Am Ende sind für den ganzen April nur noch 4 Dienste übriggeblieben. Das war zu Ostern und es war auch in einigen Kliniken so, dass Leute von ein paar Stationen in Kurzarbeit geschickt wurden. Oder sie sollten ihre Überstunden abfeiern.
Katie Gallus:
Eine finanzielle Sicherheit hört sich auch anders an, wenn man nur 4 Dienste für den April hat.
Nina Böhmer:
Die Firma hat natürlich kommuniziert, dass es Probleme gibt mit den Diensten. Wir wurden trotzdem bezahlt, natürlich. Aber es hat dann nicht lange gedauert und dann hieß es, wir sind auf Kurzarbeit, um auch die Leute zu schützen, damit man nicht Leute entlassen muss. Aber es war auch so geregelt, dass die Kurzarbeit nur solange bezahlt wird, wie keine Dienste reinkommen.
Katie Gallus:
Ich habe noch einmal einen schönen Satz aus dem Buch zum Vorlesen. »Wie es mit Träumen so ist«, hast du geschrieben, »die in Erfüllung gehen. Sie sind dann keine mehr.« Lebst du noch deinen Traum? Oder ist dieser Traum ein bisschen blasser geworden? Rosa statt knallpink?
Nina Böhmer:
Vom Beruf her ist es natürlich immer noch mein Traumberuf. Aber die Bedingungen sind nicht die optimalen. Leider.
Katie Gallus:
Du hast auch geschrieben: »Heute beklatscht und morgen vergessen.« Und diesen bekannten Satz: »Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken.« Applaus ist ja erst mal eine Geste, habe ich gedacht, die eigentlich Zustimmung und Wertschätzung darstellt.
Juliane Metzker: Den bekommst du ja auch oft, Katie.
Katie Gallus:
Ja, ich freue mich da eigentlich immer drüber, weil es dann schon ein Signal ist, dass man gesehen wurde. Und du hast es, glaube ich, anders verstanden. Oder kannst du mir noch mal sagen, wie du diesen Applaus von den Balkonen immer um 19 Uhr verstanden hast?
Nina Böhmer:
Also, ich weiß schon, dass der Applaus nett gemeint war, aber mich hat daran gestört: Jahrelang haben wir kommuniziert, dass in dem Beruf was schiefläuft, und man hätte sozusagen schon Jahre davor für uns klatschen können. Hat man aber nicht. Wir wurden immer ignoriert.
Katie Gallus:
Ignoriert oder nicht gesehen?
Nina Böhmer:
Kommt drauf an, wahrscheinlich von der Gesellschaft weniger gesehen und von der Politik ignoriert, weil es ja schon klar war und in vielen Medienportalen kommuniziert wurde, dass was schiefläuft und dass wir Hilfe benötigen. Wo sind die ganzen Leute, die geklatscht haben, jetzt, wo man uns vielleicht auch unterstützen könnte? Und zum Beispiel für die Pflege demonstrieren könnte? Damit wirklich mal was passiert, weil man ja sieht, dass trotz dieser ganzen Aufmerksamkeit sich gar nichts ändern wird, wahrscheinlich.
Katie Gallus:
Zu dem Klatschen – das finde ich nämlich total spannend. Du hast ja eigentlich gerade gesagt, dass du dir mehr Solidarität wünschst und eigentlich wäre jetzt der Punkt, zusammen auf die Straße zu gehen. Du hast gerade gefragt: »Wo seid ihr jetzt alle?« Wenn wir uns hier umgucken. Was würdest du dem Rollerfahrer, hier dem Fahrradfahrer oder dem Reisenden da sagen? »Hey, ich wünsche mir von dir, dass du das und das machst.« Was wäre das denn konkret?
Nina Böhmer:
Also, wenn man das jetzt zum Beispiel auf Demos beziehen will; es war ja gerade die große Veranstaltungsdemo, die ich ganz wichtig finde. Da waren sicherlich nicht nur Leute aus der Veranstaltungsbranche, sondern sicherlich auch Leute, die einfach die Menschen unterstützen wollten. Und das ist total schön. Und ich finde, das sollte einfach in ganz vielen Bereichen so sein. Man kann ja auch untereinander unterstützen. Das betrifft ja auch jeden. Jeder wird mal krank, jeder wird mal alt, und so kann jeder jeden unterstützen. Und wir sind eigentlich alle nur zusammen stark, wenn wir alle zusammenhalten.
Katie Gallus:
Und wünschst du dir dann manchmal auch, dass man dir im Alltag anders begegnet?
Nina Böhmer:
Ja, natürlich. Dass man für mehr Personal kämpfen würde oder für mehr Material. Aber es hängt auch an dem gesellschaftlichen Denken. In der Autobranche, da gibt es Autogipfel und da wird so viel Geld reingesteckt. Und teilweise verdienen Fachleute in der Autoindustrie mehr als wir, was denen natürlich gegönnt sei, weil sie wahrscheinlich auch einen harten Job machen. Aber bei uns geht es halt auch um Menschenleben. Und ja, weiß ich nicht, warum dann Autos unbedingt so viel wichtiger sind als Menschen hier in Deutschland.
Katie Gallus:
Kannst du mir mal eine Orientierung geben, wie viel man als Krankenpflegerin brutto verdient? Da gibt es bestimmt auch Unterschiede zwischen West und Ost. Aber was sind da Zahlen, die man auch nicht immer hört, aber die man sich auch einfach mal vor Augen führen muss, wenn es darum geht, Menschenleben zu retten?
Nina Böhmer:
Das ist tatsächlich ganz unterschiedlich, gerade von Ost nach West. Auch im Westen verdienen die einen ein bisschen mehr als hier im Osten. Und dann ist es so, dass es Unterschiede gibt von öffentlichen Krankenhäusern und privaten Trägern. Und viele arbeiten tatsächlich auch im Niedriglohnsektor. Oder einige in der Altenpflege. Gerade Pflegehelfer verdienen auch nur Mindestlohn. Und was kann man da sagen? Weiß ich nicht. Ich glaube, das ist so weit gefächert. Ich glaube, wenn man so frisch ausgelernt hat und in Vollzeit arbeitet – vielleicht hat man da so ungefähr 1.800 Euro auf der Hand. Hört sich nicht schlecht an, ist auch nicht schlecht. Aber wenn man jetzt zum Beispiel in Berlin wohnt, die Mieten sehr hoch sind und man sich eigentlich auch ein bisschen was gönnen will von dem, was man da verdient, ist es nicht ganz so viel.
Katie Gallus:
Ich finde es ja auch spannend, das Bild von kranken Pflegerinnen und Pflegern wird ja manchmal auch getrieben, natürlich von Medienbildern, aber oft auch von dem, was vielleicht so in der Soap-Welt passiert. Du hast gerade gesagt, du magst gerne »Grey’s Anatomy«. Ist das ein perfektes Bild, nach dem man auch streben möchte oder zeigt das einfach nicht die Realität, weil vielleicht auch nicht gezeigt wird, wie der Po abgewaschen wird?
Nina Böhmer:
Die ganzen Serien sind natürlich sehr unrealistisch. Teilweise hat zum Beispiel eine Schwester Stefanie unglaublich viel Zeit für die Patienten. Macht in ihrer Privatzeit was für den Patienten, fährt irgendwofür hin und erledigt irgendwas. Das ist natürlich überhaupt gar nicht möglich. Vielleicht wird auch ein falsches Bild vermittelt und Patienten, die ins Krankenhaus kommen, sind dann wahrscheinlich auch geschockt oder verstehen gar nicht, warum man überhaupt gar nicht so viel Zeit hat und warum ich nicht irgendwelche Extrawünsche erfüllen kann. Auch wenn ich das vielleicht gerne möchte. Aber ich kann es einfach nicht. Und da wird auf jeden Fall ein falsches Bild vermittelt.
Katie Gallus:
Da besteht auch irgendwie ein realitätsfernes Bild. Das sieht man aber nur dann, wenn man wirklich drinsteckt. Die Frage ist, ob man daran auch etwas ändern müsste, um dem großen Ziel der Wertschätzung noch näher zu kommen.
Nina Böhmer:
Das ist natürlich schwierig. Würden die Leute so etwas überhaupt gucken, wenn man es jetzt realitätsnah zeigen würde? Wer Fernsehen guckt, will meist irgendwas Spannendes sehen. Wie bei »Grey’s Anatomy«, wo eine Person fast 5-mal stirbt, aber immer wieder zum Leben erweckt wird. Wo man dann denkt: Mensch, so viel Action ist eigentlich gar nicht im Krankenhaus. Ich glaube, Leute mögen so ein bisschen Action. Und wahrscheinlich wäre es ein bisschen langweilig, wenn man so einen ganz normalen Krankenhausalltag zeigt. Im Endeffekt ist es ja eigentlich fast immer dasselbe, nur mit verschiedenen Menschen. Manchmal erlebt man ganz lustige Dinge, manchmal ganz schreckliche.
Katie Gallus:
2020 ist das internationale Jahr der Pflegekräfte und Hebammen. Das hat die Weltgesundheitsorganisation ausgerufen – und zwar schon vor Covid-19! Das hat doch auch einen gewissen Charme, oder? Merkst du was davon, dass das mitunter dein Jahr ist?
Nina Böhmer:
Nein, eigentlich nicht unbedingt. Ich glaube, tatsächlich sind alle ziemlich frustriert. Was auch verständlich ist. Viele sehen das so, dass wir zwar sozusagen als Helden gefeiert wurden, aber gar nicht unbedingt was davon mitbekommen haben. Zum Beispiel, wenn man auf den Coronabonus schaut. Bei sowas fängt es halt auch schon an, dass man sich fragt: War das überhaupt alles ernst gemeint, was gesagt wurde?
Katie Gallus:
Da würde ich gern noch mal reingehen, weil du auch von »versteckten Held:innen« gesprochen hast, die erst sichtbar waren und beklatscht worden sind, aber jetzt wieder vom Sockel gestoßen werden. Aber durch Onlinepetitionen war dann ja doch schon eine Power da. Das heißt, man hat sich mit den Helden aus den Krankenhäusern solidarisiert. Es gab unglaublich viele Unterschriften. Was ist daraus geworden? Hat das was gebracht?
Nina Böhmer:
Natürlich haben das ganz viele unterschrieben. Aber die Zahl, die hätte sein müssen, ist nicht erreicht worden. Und ich glaube, das ist dann einfach so im Sande verlaufen. Leider habe ich dann auch nicht mehr so viel davon mitbekommen.
Katie Gallus:
Du hast auch geschrieben, je lauter der Beifall geworden ist, desto mehr Zuspruch gab es von öffentlicher Seite, aber desto mehr mutete euch auch die Politik zu. Kannst du das noch mal erklären, was damit gemeint ist?
Nina Böhmer:
Da war zum Beispiel diese Sache mit den ausgesetzten Untergrenzen, was ich überhaupt nicht gut fand. Dadurch hätte man uns viel, viel mehr Stress zugemutet.
Katie Gallus:
Kannst du noch einmal kurz erklären, was das konkret bedeutet?
Nina Böhmer:
Das heißt, es gibt eine bestimmte Mindestanzahl von Pflegekräften, die für eine bestimmte Zahl von Patienten zuständig ist. Genau kann ich die Zahlen leider nicht benennen, weil es von Fachrichtung zu Fachrichtung unterschiedlich ist. Jedenfalls wurde diese Untergrenze ausgesetzt, das hätte geheißen, dass es okay gewesen wäre, wenn eine Person für 50 Leute zuständig wäre. Weil es ja diese Regelung nicht mehr gab.
Katie Gallus:
Gilt das immer noch?
Nina Böhmer:
Nein, ich glaube seit August ist das wieder ausgesetzt.
Katie Gallus:
Das sorgte natürlich für viel Tumult, auch innerhalb des Kolleginnen- und Kollegenkreises. Noch einmal in Bezug auf Ansehen und Wertschätzung: Wenn der Beruf akademisiert würde, wie etwa in den USA, glaubst du, dass sich das Ansehen deiner Arbeit dadurch letzten Endes erhöhen würde?
Nina Böhmer:
Ich weiß es nicht genau. In den USA und Großbritannien ist es ja so, dass die Pflegekräfte tatsächlich ein bisschen mehr dürfen als wir. Sie studieren auch länger, die Ausbildung dauert etwas mehr als 3 Jahre. Aber ich glaube, das kann man hier gar nicht machen, weil man dann nicht mehr genug Personal bekommen würde. Das ist ja jetzt schon ein Problem. Wer Interesse hat, der kann sich auch jetzt schon weiterbilden oder noch mal ein Studium absolvieren.
Katie Gallus:
Wird das viel gemacht?
Nina Böhmer:
Ja, viele machen Fachweiterbildungen. Man kann das in allen möglichen Bereichen machen, zum Beispiel Psychiatrie oder Intensivmedizin. Weiterbildungen sind ja oft auch Pflicht im Krankenhaus. Und viele Leute studieren auch heutzutage.
Katie Gallus:
Spannend! Über Fachkräftemangel und den Bonus sprechen wir gleich noch mal, wenn wir hier vom Park weiter Richtung Gesundheitsministerium laufen, dann sind wir auch näher am Geschehen dran. Ich würde hier nun aber noch einmal kurz mit dir in deinen Arbeitsalltag reisen und das Thema sexuelle Belästigung ansprechen. Ich finde, das müssen wir als Frauen einfach sehr deutlich kommunizieren. Du hast, da zitiere ich dich jetzt, von Berufsrisiko gesprochen. Das ist natürlich keine Entschuldigung, wird aber oft als solche genommen. Gibt es denn Konsequenzen bei einer sexuellen Belästigung in deinem Arbeitsalltag, oder wird das totgeschwiegen?
Nina Böhmer:
Ich glaube es wird eher totgeschwiegen. So habe ich es in den ganzen Jahren zumindest erlebt. Es wird zwar untereinander kommuniziert, wenn es beispielsweise einen Patienten gibt, der ein bisschen anzüglich ist. Das wird dann bei der Übergabe gesagt. Aber direkte Konsequenzen gibt es nicht. Dass man jetzt zum Beispiel weiß, dass der Patient dafür das Haus verlassen muss oder so. Das gibt es tatsächlich bei Gewalt, wenn ein Patient sehr aggressiv wird, dann wird ein Hausverbot ausgesprochen. Aber bei sexueller Belästigung ist mir das noch nie so untergekommen.
Katie Gallus:
Wie ausgeliefert fühlst du dich da, weil es in deinem Job natürlich auch viel um Körpernähe geht?
Nina Böhmer:
Sehr ausgeliefert. Man erwartet das auch gar nicht von Menschen und dann ist man im ersten Moment natürlich ziemlich unsicher, wenn sowas passiert, und fragt sich: War das jetzt mit Absicht, oder war das aus Versehen?
Katie Gallus:
Was war denn für dich das Krasseste, was dir im Kontext sexuelle Belästigung widerfahren ist?
Nina Böhmer:
Das waren eigentlich zwei Dinge. Einmal, als mir an meinen Hintern gefasst wurde. Das fand ich sehr, sehr extrem, weil der Patient es auch mehrmals gemacht hat, auch bei anderen. Da war es dann ganz offensichtlich, dass es mit Absicht passiert ist.
Dann gab es noch eine andere Situation, da war ich noch Schülerin und sollte bei einem Patienten die Leiste rasieren, weil er einen Leistenbruch hatte. Das war ein ganz, ganz junger Mann, um die 30. Und wenn man die Leiste rasiert, muss man sich nackig machen. Sein bestes Stück hing dann im Weg und ich habe erwartet, dass er es zur Seite nimmt, weil er ja zwei gesunde Hände hat. Er hat aber nur seine Hände hinter dem Kopf verschränkt und mir genüsslich dabei zugesehen und dabei noch so blöd gegrinst. Das fand ich dann nicht so schön, ich hab mich sehr, sehr, sehr unwohl gefühlt in dem Moment. Das habe ich aber nicht kommuniziert, weil ich nicht direkt wusste, wie ich damit umgehen sollte, ich glaube das war im ersten Lehrjahr.
Katie Gallus:
Sprichst du da mit jüngeren Kolleginnen auch noch einmal anders drüber, weil du mitgeben möchtest, dass man darüber sprechen muss?
Nina Böhmer:
Tatsächlich wird das irgendwie gar nicht so oft angesprochen. Wenn so etwas passiert, dann redet man da in dem Moment drüber und sagt dem Patienten auch klar, dass es so nicht geht. Ich finde es wichtig, dass die Stationsleiter dann auch hinter einem stehen und dass man weiß, dass man in so einem Moment auch mit der Leitung kommunizieren kann. Und dass man nicht alleine dasteht, wenn der Patient behauptet, das stimme ja alles gar nicht.
Katie Gallus:
Es gibt eine Studie der Charité, in der steht, dass Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialwesen am häufigsten Opfer von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz sind. Das ist eine wissenschaftliche Analyse der Charité. Mich verwundert dabei, dass das Pflegepersonal nicht einbezogen wurde. Macht dich sowas wütend, dass man euch da ausschließt?
Nina Böhmer:
Ich frage mich natürlich, warum man uns da nicht miteingeschlossen hat, weil wir besonders viel Körperkontakt mit den Patienten haben und deshalb sehr viel passiert.
Katie Gallus:
Wenn die Charité diese Studie durchführt, dann müsste man euch ja auch hier wertschätzen. Das kommt ja nicht nur aus der Gesellschaft zu euch, sondern ist auch innerhalb der Pflege und der Gesundheitsstrukturen ein Thema. Wie ist die Wertschätzung aus dem System selbst?
Nina Böhmer:
Nicht so groß. Die Ärzte sind natürlich viel stärker, die haben ja ihre Ärztekammer und sind viel mehr organisiert. Das sind wir nicht, wir stehen irgendwie immer alleine da und sind allen anderen untergeordnet. Wahrscheinlich müssen wir auch ein bisschen mehr kämpfen.
Katie Gallus:
Bist du eine Nurse-Influencerin eigentlich?
Nina Böhmer:
Nee, bin ich nicht. Also so viele Follower habe ich nicht, dass ich eine Influencerin bin.
Katie Gallus:
Nervt dich das, dass man jetzt mehr und mehr Selfies aus den Klinikwänden sieht?
Nina Böhmer:
Ich finde, wenn man Influencer ist, dann hat man die Verantwortung, auch wenn man über so ein Thema viel berichtet, nicht nur zu schreiben, sondern auch ein bisschen was zu machen. Ich selber will gar keine Nurse-Influencerin sein, weil ich keine Lust habe, ständig Selfies oder so von mir zu machen und dann darüber zu berichten. Aber manchmal wünsche ich mir schon, dass ich viele Follower hätte, einfach weil ich die ganze Zeit schon überlege, wie ich irgendwas organisieren könnte, dass ich eine Demo organisiere oder einen Streik oder so. Aber ich merke halt, dass ich zu wenig Aufmerksamkeit habe. Ich erreiche zu wenig Menschen, um wirklich was Großes zu organisieren. Was auch Sinn machen würde.
Katie Gallus:
Ich habe noch mal eine Verständnisfrage, bevor wir gleich Richtung Bundesgesundheitsministerium laufen: Krankenpflege ist natürlich etwas anderes als Altenpflege. Aber trotzdem treibt uns das Thema Altwerden ja häufig um. Wie schaust du denn da rein? Es kann ja unfassbar teuer sein, einen Pflegeplatz zu bekommen. Wobei die Pflegekräfte, wenn man genau hinguckt, monetär einfach nicht genug bekommen. Kannst du mir das erklären, warum Pflegeplätze teilweise so teuer sind, aber das Personal nicht genug Geld bekommt, sondern teilweise nur den Mindestlohn?
Nina Böhmer:
Das habe ich auch mal jemanden gefragt, wie es sein kann, dass die Pflegeheime jetzt noch mehr kosten. Ich habe gefragt, wieso die Altenheim-Plätze wieder um 200, 300 Euro teurer werden. Und dann wurde mir gesagt: »Ja, wissen Sie, warum die steigen? Weil die Löhne steigen.« Aber wo steigen denn die Löhne? Unter den Altenpflegern und den Pflegehelfern, mit denen ich rede, sind so viele, die so wenig Geld verdienen. Oft ist das gerade mal der Mindestlohn, besonders unter den Pflegehelfern. Da ist bei mir totales Unverständnis. Das ist auch einfach nicht schön für die alten Leute. Die haben jahrelang gearbeitet und dann kommen sie in ein Pflegeheim und möchten ihre letzten Jahre schön verleben, bezahlen total viel Geld dafür und bekommen dann quasi kaum etwas wieder. Das Personal will unbedingt, aber es kann einfach nicht. Wie soll ich 30 Bewohner alleine als Fachkraft mit einem Pflegehelfer versorgen? Wie soll ich das schaffen? Wie soll ich da jedem gerecht werden?
Das habe ich selbst schon so oft erlebt. Da war zum Beispiel mal eine 93-jährige Frau, die sich selbst schon gewaschen hat, als ich zu ihr ins Zimmer gekommen bin. Sie meinte dann, dass die Pflegeperson eigentlich schon immer morgens um 7 kommt und sie sich deshalb schon selbst fertig gemacht habe. Das tut mir dann leid, aber ich musste erst mal alle Medikamente verteilen und habe dafür natürlich viel länger gebraucht als jemand, der da eingearbeitet ist. Und dann hat sich die 93-jährige Frau fertiggemacht, also selbst gewaschen, und meinte, das gehe schon. Es tut mir aber auch leid.
Katie Gallus:
Aber mit diesem Einblick: Hast du da Angst vor dem Altwerden?
Nina Böhmer:
Ja, auf jeden Fall. Ich glaube, man muss sich gut absichern. Entweder spart man so viel Geld, dass man dann in ein betreutes Wohnen gehen kann. Ich habe zum Beispiel mal in einer Senioren-WG gearbeitet, wo nur 12 Bewohner waren, wo man wirklich Zeit hat. Das waren 2-Stunden-Dienste und man hat wirklich viel mit den Bewohnern gemacht und hatte fast gar keinen Zeitdruck. Entweder hat man so viel Geld, um sowas zu bezahlen, oder man muss so viele Kinder haben, dass man hofft, dass einer von denen dich dann pflegt. (lacht)
Katie Gallus:
Ängste sind so ein psychologischer Trigger. Du hast geschrieben: »Ich hatte keine Angst vor dem Coronavirus.« Hast du das immer noch nicht?
Nina Böhmer:
In dem Sinne eigentlich nicht wirklich, weil ich mich nicht als Risikopatient sehe und weil ich so viel mit Viren und Bakterien zu tun hab, tagtäglich in meinem Job, dass ich wahrscheinlich ein bisschen abgehärteter bin. Ich vertraue eigentlich auf mein Immunsystem. Natürlich kann es einen immer erwischen. Aber man hält sich auch an Hygieneregeln, die eigentlich sowieso ganz normal im Alltag sein sollten.
Katie Gallus:
Aber eine Gefahr besteht schon. Du hast mir gesagt, du musst Mundschutz und Kittel mehrfach benutzen und sollst auch dann pflegen, wenn du infiziert bist. Haben sich Kolleginnen und Teammitglieder von dir auch infiziert mit Corona? Und wie geht man damit um?
Nina Böhmer:
Es waren natürlich einige ein bisschen besorgt, dass man sich anstecken könnte. Das war jeder. Ich weiß auch noch eine Situation ganz am Anfang, da kam eine Kollegin gerade aus Österreich wieder, als dort ein Risikogebiet war, und war krank. Sie hatte Husten und Schnupfen und hat sich nicht gut gefühlt. Sie hat genau neben mir gesessen, und da denkt man schon nach. Aber sie hatte kein Corona und im Endeffekt kann es mir mit allen passieren. Wie oft passiert es, dass man einen Patienten bekommt, der zum Beispiel MRSA, diesen Krankenhauskeim hat? Und der viel zu spät abgestrichen wurde und schon auf Station ist, in einem Patientenzimmer mit einem anderen Patienten, und man ging da ungeschützt rein? Auch mit Tuberkulose ist das schon passiert. Da musste man dann auf einmal zum Gesundheitsamt, weil man mit jemandem Kontakt hatte, der Tuberkulose hat und sich überhaupt nicht geschützt hat. Das passiert oft und es kann jedem passieren, das ist einfach das Berufsrisiko.
Katie Gallus:
So gerne ich mit dir hier in der Sonne sitze und den Vögeln zuhöre, würde ich gerne weiterlaufen Richtung Gesundheitsministerium. Wie gehen wir denn als Gesellschaft mit Corona um? Vor allem wenn man an die Coronademos denkt. Was waren deine Gedanken, als du diese Zehntausenden Menschen gesehen hast, die Corona anders sehen, nicht als Bedrohung oder als Krise. Die es auch nicht nachvollziehen können, wieso wir diese Einschränkungen hatten.
Nina Böhmer:
Ich glaube, man muss unterscheiden, wer da mitgemacht hat. Da waren sicherlich, wie es auch gesagt wurde, viele Rassisten und viele Verschwörungstheoretiker, was natürlich nicht so schön ist, wo man sich fragt: Haben die das jetzt einfach genutzt, um auch irgendwas anderes zu vermitteln? Aber ich glaube schon, dass da wahrscheinlich auch einige waren, die wirklich die Coronamaßnahmen nicht verstehen und wahrscheinlich in ihren Existenzen bedroht sind und sich Sorgen machen und deswegen auf die Straße gehen. Ich denke, diese Menschen muss man schon ernst nehmen und ihnen wahrscheinlich auch zuhören. Deswegen finde ich, dass man das immer auch ein bisschen teilen muss. Ich mag es nicht, wenn man das so in Schubladen steckt und sagt, da waren wirklich nur Verschwörungstheoretiker und Rassisten. Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.
Katie Gallus:
Und was würdest du so eine:r Coronaleugner:in jetzt sagen?
Nina Böhmer:
Erst mal, dass das natürlich Quatsch ist, dass das nur erfunden ist. Das sieht man ja daran, dass es in Italien so viele Infizierte gab. Und auch hier gibt es ja Infizierte. Ich weiß es nicht, was sagt man so einem Menschen?
Katie Gallus:
Das ist auch eine schwierige Frage, weil man natürlich immer auch auf verschiedene Lebensrealitäten trifft. Ich habe im »Spiegel« einen interessanten Artikel gelesen, da ging es um die soziale Stigmatisierung im Zusammenhang mit Covid-19. Siehst du das in deinem Bekanntenkreis, dass man ausgeschlossen wird, wenn man Covid-19 hatte oder einfach sehr offen darüber spricht?
Nina Böhmer:
Nein, gar nicht, weil ich auch wirklich niemanden kenne, der Covid-19 hatte. Deshalb kann ich da eher weniger zu sagen. Ganz am Anfang, als es ausgebrochen ist, da hatte ich einen Patienten, der war eigentlich gar nicht auf meiner Seite der Station. Und dieser Patient war in einem 3-Bett-Zimmer völlig alleine und wurde isoliert. Und keiner hat sich getraut, darein zu gehen, wirklich niemand. Nicht die Frau, die das Essen verteilt, sie hat das Essen nur draußen hingestellt. Leider nicht die Schwester. Auch nicht die Reinigungskräfte und der Patient hat dann geklingelt und ich bin dann reingegangen und dann hat er mir erst einmal einen Brief überreicht, mit allen seinen Wünschen, die er hatte. Er meinte dann: »Können Sie den Brief bitte der Schwester geben, weil hier einfach keiner reinkommt. « Er wollte zum Beispiel was wegen seiner Medikamente wissen. Das hat mir so leidgetan, dass ich erst mal 15 Minuten bei ihm verbracht habe und wirklich versucht habe, all seine Anliegen abzuarbeiten.
Katie Gallus:
Hat dich das wütend gemacht, dass du mutig sein musst, um sozusagen die Lücke von anderen zu schließen? Oder kannst du es verstehen?
Nina Böhmer:
Ein bisschen kann ich es auch verstehen, weil man vielleicht unsicher war oder Angst hatte vor dem Virus. Aber andererseits sage ich mir: Das ist unser Job. Wir wissen, worum es geht und was wir ausgesetzt sind. Und da waren Masken und Schutzkittel und Handschuhe. Also man hätte sich eigentlich keine Sorgen machen müssen, da reinzugehen.
Katie Gallus:
Viele reden in meinem Bekanntenkreis natürlich auch darüber, ob wir jetzt eine zweite Welle kriegen. Müssen wir aufpassen, weil der Herbst kommt und der Winter kommt? Wie vorbereitet ist man eigentlich hier in Deutschland? Wann kommt der Impfstoff? Das sind alles Fragen, die immer auf diese zweite Welle hinarbeiten. Welle ist ein etwas schwieriges Wort, das ist so etwas Gigantisches. Aber wie siehst du das? Siehst du eine zweite Welle kommen?
Nina Böhmer:
Ich finde auch, dass Welle ein schwieriges Wort ist. Es war in dem Sinne eigentlich auch keine richtige erste Welle, sondern einfach höhere Infektionszahlen. So wie es jetzt auch in den Medien berichtet wird, dass es höhere Infektionszahlen gibt. Ich finde, wie gesagt, man müsste wirklich unterscheiden, wie viele infiziert sind und wie viele wirklich schwer krank sind und auch Symptome haben. Ich finde erst am Ende des Jahres können wir alles beurteilen.
Katie Gallus:
Das gilt auch für die Politiker:innen. Von denen sind wir jetzt nur noch etwa 150 Meter weg. Jens Spahn, der Gesundheitsminister, wurde oft als Krisenmanager gesehen und war ja kurze Zeit sogar in der Kanzlerfrage präsent. Wie ist deine Einschätzung? Ist er ein Krisenmanager?
Nina Böhmer:
Ich finde, er wurde ja ziemlich hochgelobt. Die ganze Regierung wurde ja eigentlich ziemlich hochgelobt und ich kann das nicht so ganz nachvollziehen. Wenn man jetzt zum Beispiel mal die Masken sieht, wurde nicht schnell genug reagiert. Und auch jetzt noch: Viele Masken wurden überhaupt noch nicht bezahlt, da sind viel zu viele Masken. Dann werden Masken verschenkt, weil die kurz vorm Ablaufdatum stehen. Ich weiß nicht, ist es ein gutes Krisenmanagement, wenn man da so unüberlegt drauflosprescht? Ich glaube, man hätte einiges besser machen können, weil man etwas aus anderen Epidemien hätte lernen können. Es gab ja auch vorher schon einen Pandemieplan, da hätte man sich besser dran halten können. Auch die Kommunikation finde ich wichtig, man hätte besser kommunizieren müssen.
Katie Gallus:
Du hast auch geschrieben, da zitiere ich aus deinem Buch: Politkern fehle es an Mut, Entschlossenheit, Mitteln und Wissen. Mitte August, nach der Veröffentlichung von deinem Buch, hast du ja mit dem Minister gesprochen. Auch darüber, dass es eben an Mut, Entschlossenheit, Mitteln und Wissen fehlt?
Nina Böhmer:
Nein, wir haben gar nicht so sehr über die Krise an sich gesprochen, sondern eher über die Situation der Pfleger.
Katie Gallus:
Du hast auch geschrieben: »Nun weiß ich, dass es noch ewig dauern wird, bis sich wirklich etwas ändert.« War es deiner Meinung nach etwas, wo der Minister einen ehrlichen Austausch gewollt hat oder war das eher ein PR-Talk?
Nina Böhmer:
Das ist eine gute Frage und ich frage mich das immer noch ein bisschen. So ganz kann ich es nicht einschätzen. Er wirkte interessiert von seinen Fragen her. Er hat gefragt, wie ich arbeite und was ich ändern würde. Aber am Ende frage ich mich natürlich, warum man mich überhaupt eingeladen hat, weil das Gespräch einfach gar keine Konsequenzen hatte.
Katie Gallus:
Daher noch mal die Frage: War es ein ehrlicher Austausch oder mehr PR?
Nina Böhmer:
Schwierig zu sagen, vielleicht so 50:50.
Katie Gallus:
Jetzt haben wir vorhin das Thema Geld schon einmal angesprochen, da will ich auch noch mal reingehen. Natürlich gab es den Coronabonus, für die Helden sozusagen. Das hat auch der Bundesgesundheitsminister versprochen. Hast du denn was davon bekommen, und wenn ja wie viel?
Nina Böhmer:
Ich habe überhaupt gar keinen Coronabonus bekommen. Und soweit ich weiß, wird der Bonus auch nur denjenigen ausgezahlt, die in dieser Zeit gearbeitet haben, die die ganze Zeit gearbeitet haben, und ich war in Kurzarbeit, deshalb habe ich nicht so viel gearbeitet und ich weiß nicht, ob mir dann überhaupt was zusteht. Und wenn, dann ist es wahrscheinlich so wenig, dass es sich gar nicht bemerkbar macht.
Katie Gallus:
Aber haben Kollegen oder Kolleginnen das bekommen? Ist überhaupt etwas angekommen von dem versprochenen Geld, von dem Held:innenbonus?
Nina Böhmer:
Ich weiß von einem Altenheim, da haben es einige ausgezahlt bekommen. Aber eine hatte sich da zum Beispiel ein bisschen aufgeregt. Sie war im März etwa 2 Tage krank und ist sonst nie krank. Sie hat dann aber den kompletten Coronabonus deswegen nicht ausgezahlt bekommen. Und das ist natürlich unfassbar.
Katie Gallus:
Solche Beispiele hört man einfach nur, wenn man miteinander spricht, statt übereinander. Das finde ich total spannend. Auch die Frage: Wie schaffen wir das, die Lücke des Fachkräftemangels zu schließen? Hatte Jens Spahn da eine Antwort drauf? Oder hattest du ihm da noch mal einen konkreten Vorschlag gemacht?
Nina Böhmer:
Er hatte mich da sogar selber gefragt, wie ich das jetzt machen würde und meinte auch, sie sind an allem dran. Es ist natürlich auch etwas schwierig, wir sind beide zu dem Schluss gekommen, dass das natürlich ein Kreislauf ist. Aber ich glaube, Herr Spahn versucht den Pflegemangel so zu kompensieren, wie zum Beispiel mit der neuen Ausbildung. Das ist jetzt eine generalisierte Ausbildung und damit erhofft er sich, dass mehr junge Leute dazukommen. Ich glaube, dass man wahrscheinlich ein bisschen mehr Anreize haben müsste, ein bisschen mehr Geld wahrscheinlich. Das wäre schon mal ein Anfang. Und wahrscheinlich mehr Flexibilität. Nicht mehr dieses »Alle müssen 3 Schichten machen«. Ich glaube, dass man es auch anders lösen könnte. Es gibt viele junge Leute, die gerne Spätdienst machen wollen, und dann gibt es Leute, die machen gerne nur Nachtdienst. Oder Leute mit Familie, die gern Frühdienst machen. Und so könnte man das individuell aufeinander abstimmen und ein Team zusammenstellen. Aber das ist momentan gar nicht möglich, weil dieses System so starr ist.
Katie Gallus:
Starr und verkrustet hört es sich an. Ich möchte noch mal ein paar Sachen aufgreifen, die wir jetzt von der Charité bis hierher zum Bundesgesundheitsministerium besprochen haben. Und da ist mir der Begriff der Pflegekammer noch im Kopf geblieben. Da hast du auch etwas zu geschrieben: »Wir haben eine Schwäche. Man weiß, dass wir nicht genug sind, die sich organisieren. Wir haben Möglichkeiten, nehmen sie aber nicht wahr, und zusammen wären wir so stark. Aber wenn wir uns nicht bald zusammentun oder bereit dazu sind, etwas zu organisieren, werden wir es nie schaffen, etwas zu verändern.« Warum wird das nicht geschafft? Immer wieder heißt es »Wir schaffen das«, oder du schaffst es schon, wenn du wieder mal die einzige Fachkraft auf der Station bist. Aber warum schafft man es nicht, sich zusammenzutun? Es gibt ja auch andere laute Stimmen. Jana Lange habe ich noch im Kopf, die einen offenen Brief an die Bundeskanzlerin geschrieben hat. Alexander Jorde wurde bekannt aus der ARD-Wahlkampfarena, wo er auch mit der Kanzlerin ganz kontrovers und konkret diskutiert hat. Die Stimmen sind da, und trotzdem sehe ich aus meiner Perspektive so eine Ohnmacht, dass man sich einfach nicht zusammenraufen kann. Woran liegt das?
Nina Böhmer:
Das ist eine ganz gute Frage, und das frage ich mich auch schon die ganze Zeit. Irgendwie hat man das Gefühl, dass alle meckern, aber bei der Organisation hört es auf. Das finde ich ein bisschen schade. Es gibt viele Möglichkeiten. Es gibt Gewerkschaften, es gibt Pflegeverbunde. Die Pflegekammer wurde ja jetzt gerade aufgelöst. Aber selbst wenn man nicht dazu bereit ist, in so etwas einzutreten, weil man vielleicht keine Lust hat, einen Beitrag zu zahlen, kann man sich natürlich anders organisieren. Aber das passiert einfach nicht und das finde ich ein bisschen schade. Darüber hatten Herr Spahn und ich auch gesprochen, dass wir nicht erwarten können, dass andere sich für uns einsetzen, sondern wir müssen auch ein bisschen was tun. Und das stimmt, aber es ist halt tatsächlich auch manchmal ein bisschen schwierig, gerade mit dem Streiken. Da werden wir dann so ein bisschen emotional erpresst, wenn es dann heißt, wir können die Patienten nicht alleinlassen. Das können wir ja auch nicht. Wir können nicht wie zum Beispiel eine Fluggesellschaft alles stehen und liegen lassen und einfach sagen, wir machen jetzt nichts mehr. Es muss halt immer Personal da sein.
Katie Gallus:
Aber gibt es denn Unterstützung von Politiker:innen aus dem Bundestag?
Nina Böhmer:
Ja, zum Beispiel von der Partei Die Linke. Die sind ja sehr auf Pflege bedacht. Die greifen das Thema auch immer wieder auf.
Katie Gallus:
Dann lass uns langsam mal zum Abschluss kommen. Ich finde es total spannend, über all deine Hindernisse und über die vielen, vielen großen Stolpersteine zu diskutieren. Aber am Ende würde ich gerne mit der Sonne im Gesicht noch mal über das Schöne sprechen. Du hast gesagt: Überleg dir gut, ob du dir das antun willst, solange die Bedingungen sind, wie sie sind. Du liebst deinen Job aber immer noch. Was ist das Schöne daran? So ein Manifest für deine Berufung, wie du sie auch nennst?
Nina Böhmer:
Das Schöne ist einfach die Dankbarkeit. Und wenn man ein schönes Team hat, die Teamarbeit und Zusammengehörigkeit. Wenn es wirklich funktioniert. Und die Dankbarkeit der Patienten ist natürlich das Allerschönste.
Katie Gallus:
Zu deinem Patienten sagst du oft: »Morgen sieht die Welt schon ganz anders aus« oder »Wird schon wieder, nur Geduld«. Würdest du das auch dir sagen und dem Patienten Pflege?
Nina Böhmer:
Schwierig, weil ich tatsächlich sehr wenig Hoffnung habe. Ein Funken Hoffnung ist wahrscheinlich noch da, sonst würde ich das alles nicht machen und mich versuchen, dafür einzusetzen. Aber so viel Hoffnung habe ich nicht. Ich weiß nicht, ob es irgendwann noch einmal wird. Ich hoffe es, aber so ganz sicher bin ich mir nicht.
Katie Gallus:
Ich freue mich auf jeden Fall, wenn wir das nächste Mal darüber diskutieren. Danke, dass du uns gezeigt hast, was geht und was möglich ist.
Nina Böhmer:
Vielen Dank.
Mitarbeit am Transkript: Lara Malberger, Linda Göttner
Katie Gallus ist Geographin und Moderatorin mit Leidenschaft für Zukunftsthemen, den schwäbischen Familienbauernhof und hat stets Fernweh. Neben ihrer Tätigkeit als freie Journalistin unter anderem bei der Deutschen Welle, SWR (ARD) und beim ZDF arbeitete sie für die Vereinten Nationen in New York City, recherchierte im georgischen Kaukasus, Ägypten, Kirgistan und Brasilien, lebte in Zentralkamerun und arbeitete in Sierra Leone mit Filmemachern. Katie ist eine gefragte Moderatorin zu digitalen Ideen und Globalisierung, der Entwicklungszusammenarbeit sowie Mensch-Umwelt-Beziehungen.
von
Juliane Metzker
Juliane schlägt den journalistischen Bogen zu Südwestasien und Nordafrika. Sie studierte Islamwissenschaften und arbeitete als freie Journalistin im Libanon. Durch die Konfrontation mit außereuropäischen Perspektiven ist ihr zurück in Deutschland klar geworden: Zwischen Berlin und Beirut liegen gerade einmal 4.000 Kilometer. Das ist weniger Distanz als gedacht.