Wie die schwarze Null unsere Zukunft zerstört
Wegen Corona steigen die Staatsschulden – zulasten unserer Kinder und Enkel? Nein, sagt die Modern Monetary Theory, im Gegenteil! Warum das so ist und du (fast) alles vergessen solltest, was du über Geld weißt.
»Die Staatsschulden erreichen
So oder so ähnlich titelten viele Medien Ende September 2020.
Und es stimmt: Mitte des Jahres stiegen die Staatsschulden in Deutschland, vor allem getrieben durch die im Kampf gegen die Pandemie geschnürten Konjunkturpakete, auf das
Unfassbar, so viele Schulden! Den meisten politischen Entscheider:innen und auch vielen Bürger:innen wird es angesichts dieser Zahlen angst und bange; wie sollen wir das bloß jemals alles zurückzahlen?
Denn Schulden müssen irgendwann beglichen und Haushalte ausgeglichen werden, das weiß jede schwäbische Hausfrau. Sonst droht irgendwann der Kollaps des Systems und ein Staatsbankrott. Um das abzuwenden, nehmen wir Deutschen unsere Verantwortung sehr ernst, verteidigen seit Jahren die »schwarze Null« – und erwarten von unseren EU-Partner:innen, dass sie es uns gleichtun.
Hat die schwäbische Hausfrau wirklich Ahnung von Staatsfinanzen?
Da wirkt es geradezu ketzerisch, dass seit einigen Jahren eine Gruppe von Wissenschaftler:innen behauptet: »Staatsschulden? Kein Problem! Im Gegenteil, je mehr wir machen, desto besser geht es uns allen!«
Glauben wir den prominentesten Verfechter:innen der »Modern Monetary Theory« (Moderne Geldtheorie – MMT) wie Alexandria Ocasio-Cortez, der größten Politnachwuchshoffnung der Demokraten in den USA, birgt das Konzept das Potenzial, alles zu verändern.
Die MMT zu verstehen scheint kompliziert – aber dann eigentlich auch wieder ganz einfach. Wir müssen zunächst nur alles vergessen, was uns über Geld beigebracht wurde. Um es dann noch einmal neu zu lernen. Los geht’s!
Wie deine Bank zu Geld kommt
Wohl die meisten von uns kennen die Grundregeln im Umgang mit Geld, sie werden uns früh vermittelt: Sparen ist gut, sich Geld zu pumpen eher schlecht. Damit Geldbeutel und Konto immer gut in Schuss sind, sollten wir sparsam sein wie die sprichwörtliche schwäbische Hausfrau, die mit strengem Blick über die Haushaltskasse wacht. Oder eben so, wie es der schwäbische Ex-Finanzminister von uns fordert: mit der schwarzen Null. Denn ist die Kasse erst mal leer, gibt es auch nichts mehr zu verteilen.
So funktioniert Geld eben – oder?
Nicht zwangsläufig. Was für uns als Privatpersonen sinnvoll ist, gilt für Banken und Staaten nicht. Denn für Letztere gelten völlig andere Bedingungen und Regeln als für uns – und das muss nicht immer schlecht sein. Im Gegenteil: Während der Recherche für diesen Text habe ich gelernt, wie eindimensional mein Bild von Geld war und wie schädlich das Ideal der schwarzen Null für unseren Staat und unsere Politik tatsächlich ist.
Dass Geld auf der Ebene von Staaten und Institutionen völlig anders funktioniert als auf unserem Konto, lässt sich an einem vereinfachten Beispiel verdeutlichen: Stelle dir vor, du willst eine große Investition tätigen und dir ein Haus kaufen. Vorausgesetzt, du bist nicht
Sofern diese dich für kreditwürdig hält und du alle Formalia
Aber woher kommt das Geld dann?
Einfach gesagt »erschafft« die Bank das Geld für deinen Kredit mit wenigen Tastenanschlägen in einer Art supersicherer Excel-Tabelle. Dafür braucht sie keine Geldnotenpresse, das funktioniert heute natürlich rein digital.
Herzlichen Glückwunsch! Du bist soeben um eine halbe Million reicher geworden – Geld, das vor Kurzem schlicht noch gar nicht existiert hat. Die Bank hat Geld »geschöpft«, das vorher nicht da war. Das kann sie, weil sie nicht darauf angewiesen ist, dass zuvor genügend Sparende Geld bei ihr deponiert haben, um es dann
Haben wir diesen Vorgang erst einmal verstanden, haben wir den meisten anderen Menschen schon eine Menge voraus. Leider auch denen, die es eigentlich besser wissen müssten.
Warum viele Politiker:innen und Ökonom:innen nicht durchblicken
»Geld regiert die Welt!« ist ein Spruch, den wir von Kindesbeinen an häufig zu hören bekommen.
Doch dafür, dass wir dem lieben Geld eine so große Macht einräumen, verstehen gerade die, die seine Flüsse verantwortungsvoll steuern sollen, erschreckend wenig davon, wie es funktioniert. Selbst die meisten Politker:innen wissen nicht, dass ein Gutteil unseres Geldes durch geldschöpfende Privatbanken in die Welt kommt.
So ergab eine Befragung unter Abgeordneten des britischen Parlaments aus dem Jahr 2014, dass sich nur eine:r von 10 Parlamentarier:innen
Weil ich selbst zu Anfang dieser Recherche keinen blassen Schimmer hatte, habe ich mich bei der Suche nach Antworten an das
Im Gegenteil: »Ich war von der Lehre an meiner Uni ziemlich enttäuscht, weil ökonomische Aspekte nur eindimensional mit Fokus auf die Neoklassik gelehrt werden, da ist kein Raum für andere Perspektiven. Und das nehme ich als generelles Phänomen in der Ökonomie wahr«, sagt Schiefeling.
Stattdessen würden die Studierenden Prüfungsaufgaben und Hausaufgaben bekommen, bei denen es nur entweder richtig oder falsch als Antwortmöglichkeit gibt. »Da wird nicht groß diskutiert. Besonders erschreckend daran ist, dass dabei überhaupt nicht klargemacht wird, dass es nur eine ganz bestimmte Theorie ist, die wir da lernen, sondern als
Weil sie und andere Studierende aus aller Welt das nicht länger hinnehmen wollten, haben sie sich Ende 2019 mit Unterstützung von einigen einflussreichen Ökonom:innen und Organisationen wie
Weiter heißt es:
Die Wirtschaftsstudierenden von heute werden die politischen Entscheidungsträger:innen, Wirtschaftsbeeinflusser:innen, Politiker:innen, Finanziers und Wirtschaftsführer:innen der Zukunft. Um weltweit stabile und produktive Volkswirtschaften zu schaffen, müssen sie ein realistisches Verständnis von Banken und Geldschöpfung haben.
Besserung ist bisher jedoch nur begrenzt zu erkennen. In Gesprächen mit Dozierenden nach Veröffentlichung des Briefs an ihrer Universität in Maastricht traf Marla Schiefeling auf teils drastische Ablehnung. Ihr Bild von einer Universität als Raum des offenen Austausches sei so nachhaltig erschüttert worden. »Die ganze Debatte wurde meinem Eindruck nach ideologisch geführt. Das ist aber sicher nicht überall so, es gibt gewiss auch Orte, an denen es engagiertere Dozent:innen gibt.«
Was hätten wir also zu gewinnen, wenn das Ökonomiestudium vielfältiger wäre und darüber hinaus mehr Menschen das kleine Einmaleins in Sachen Geld beherrschen würden?
Um diese Frage zu beantworten, habe ich mir einen dieser engagierten Dozenten gesucht, von denen Marla Schiefeling gesprochen hat.
Kein Geld mehr da? Kann nicht sein, sagt die Modern Monetary Theory
»Die Idee, dass die künftigen Generationen unsere Staatsschulden zurückzahlen müssen, macht einfach keinen Sinn und ist daher völlig daneben. Solange die Zentralbank die Rechnung des Staates bezahlen kann, kann er mit Schulden leben, in welcher Höhe auch immer.«
Mit Aussagen wie dieser sorgt der
Er teilt das Problembewusstsein von Marla Schiefeling und vieler ihrer Kommiliton:innen über die eindimensionale Lehre: »Die meisten Universitäten nutzen die US-amerikanischen Lehrbücher, und da steht drin, dass sich der Staat aus 3 Quellen finanziert«, erklärt Dirk Ehnts. Und zwar:
- Aus Steuern. Hier schwingt laut Dirk Ehnts immer mit, dass dies zweifellos das Beste sei, weil dies eben keine Schulden seien.
- Aus Staatsanleihen. Diese werden von Anleger:innen gekauft, die dem Staat damit quasi Geld leihen würden. Hier schwinge in den Lehrbüchern mit, dass dies eine schlechte Sache sei, da die so gemachten Schulden von künftigen Generationen samt Zinsen zurückgezahlt werden müssten.
- Aus Geldschöpfung. Es ist dieser Vorgang, der mit »Geld drucken« per »Notenpresse« gemeint ist: Geld wird von der Zentralbank aus dem Nichts erzeugt, was laut Lehrbüchern zwangsläufig zu
»Exakt so und nicht anders wird das an 99% der Universitäten unterrichtet«, kritisiert Ehnts. Die Vertreter:innen der MMT lehnen diese Sichtweise jedoch ab, sie sei schlicht falsch. »Wir sagen, dass die Notenpresse faktisch die einzige Art und Weise ist, Staatsausgaben zu tätigen. Bei den ersten 2 Quellen handelt es sich um grundlegende Missverständnisse.«
Der eigentliche Vorgang ist dem aus unserem anfänglichen Beispiel der Geldschöpfung durch die Privatbanken ähnlich, nur eine Ebene höher: »Wenn die Bundesregierung Geld ausgibt, etwa für Coronahilfsmaßnahmen, dann bucht die Bundesbank auf dem Konto einer beliebigen Privatbank einfach einige Ziffern hinzu, und das Geld ist da«, erklärt Dirk Ehnts.
Anders würde es auch gar nicht funktionieren, da der Staat nicht auf unsere Steuerzahlungen warten und diese in bar einziehen könne, nur um dann die Papierscheine wieder per Wagenladungen für die eigenen Investitionen zu verteilen. Der Staat hat das Monopol auf die Währung und muss sie erst an die Bevölkerung ausgeben,
Eine einfache Beobachtung – mit weitreichenden Konsequenzen: »Wir sagen dem ökonomischen Mainstream einfach nur, dass 2 ihrer 3 Quellen zur Staatsfinanzierung in der Realität gar nicht möglich sind und nur die dritte Quelle die eigentliche Realität beschreibt«, betont Ehnts.
Daher ist es ihm wichtig zu unterstreichen, dass die MMT keine abstrakte Theorie sei, sondern eine empirische, also beweisbare Betrachtung der Welt mit Fokus auf unser Geldsystem: »Wir schauen, was da eigentlich passiert und wie es funktioniert. Wir haben dieses System als Menschen geschaffen, da müssen wir es schließlich auch erklären können.«
Kein Geld mehr da? Kann nicht sein!
Folgen wir Dirk Ehnts’ Erklärung, entsteht daraus eine erst mal wenig intuitive Feststellung: Geld an sich kann gar nicht aufgebraucht werden. Es ist (auf staatlicher Ebene) keine endliche Ressource wie Stein, Gold oder auch Nahrung, sondern eher so etwas wie ein Schmiermittel.
Verabschieden wir uns von der Denkweise, dass Geld an sich limitiert ist, steigen die politischen Handlungsoptionen plötzlich sprunghaft an – das Totschlagargument »Dafür ist kein Geld da. Basta.« reicht dann nicht mehr aus,
- Haben wir die Ressourcen, um etwas herzustellen?
- Haben wir die Arbeitskraft, um etwas umzusetzen?
- Und wollen wir es angesichts der Endlichkeit von Ressourcen und Klimakrise wirklich umsetzen?
»Es ist an sich unglaublich paradox: Wir haben Wirtschaftskrisen, während genau die gleichen Menschen genau dieselbe Arbeit weitermachen wie zuvor und auch die Welt um sie herum an sich gleich bleibt. Trotzdem fallen Menschen während solcher Krisen in Armut und Arbeitslosigkeit, obwohl es noch jede Menge zu tun und genügend Nahrung für alle gäbe. Daran ist sehr gut erkennbar, was die eigentliche Aufgabe des Geldes sein müsste: Dinge und Prozesse koordinieren und miteinander verbinden – und Geld ist dafür ein wichtiges Instrument.«
Daher sei die strenge Ausgabendisziplin und der Kult um die schwarze Null der Politik, der künftige Generationen vor unseren Schulden schützen soll, auch ein folgenschweres Missverständnis. »Eigentlich ist das genaue Gegenteil der Fall. Es läuft zulasten künftiger Generationen, wenn wir heute nicht investieren. Schaffen wir aber gute Infrastruktur, Bildungs- und Gesundheitssysteme, haben wir etwas Handfestes, was wir künftigen Generationen übergeben können.« Und gerade die Klimakatastrophe macht deutlich, wie absurd das Festhalten an der schwarzen Null im Namen künftiger Generationen ist.
Die MMT ist die Achillesferse des Neoliberalismus. Dort heißt es immer: »Alles muss über Märkte passieren!« Dass der Staat das Gemeinwohl durch staatliche Ausgaben und Investitionen fördern kann und uns so noch mehr ökonomische Rechte verschafft, wollen die natürlich nicht hören. Und dass der Staat nicht pleitegehen kann, das wollen die auch nicht hören.
Also: Geldpressen auf volle Kraft?
MMT: Die Lizenz zum Gelddrucken
Eine derart revolutionäre Denkweise wie die der MMT ruft natürlich Kritiker:innen auf den Plan. Sie werfen den Verfechter:innen der Theorie insbesondere vor, die Gefahr einer zu lockeren Geldpolitik und der aus ihrer Sicht zwangsläufig folgenden steigenden Inflationsrate zu verharmlosen. Im schlimmsten Fall könne daraus eine Negativspirale aus Preissteigerungen und steigendender Arbeitslosigkeit folgen, die schwere Wirtschaftskrisen zur Folge hätte.
Dirk Ehnts hält die möglichen Folgen, die bei der Anwendung der MMT ins Haus stehen könnten, jedoch für ein grundlegendes Missverständnis: »Die MMT ist kein Instrument, das man anwendet. Wir arbeiten empirisch und beschreiben die Realität.« Dass wir theoretisch unendlich viel Geld drucken könnten, heiße noch lange nicht, dass das auch sinnvoll wäre. »Wir betonen immer, dass die Theorie kein wirtschaftliches Empfehlungsprogramm ist.«
Die Realität zeigt etwa, dass sehr ausgabefreudige Länder nicht automatisch eine hohe Inflationsrate haben. So hat Japan mit einer Staatsverschuldung von 230% des BIP das mit Abstand höchste Defizit der Welt bei gleichzeitig sehr niedriger Inflation. Griechenland (176%), Italien (135%), Portugal (118%) und die USA (109%) haben auch sehr hohe Schulden und sicher ebenfalls wirtschaftliche Probleme,
Es geht also bei der MMT darum, besser zu begreifen, was ohnehin schon ist, um auf dieser Basis bessere Entscheidungen treffen zu können. Dirk Ehnts macht das an einem Beispiel klar: »Unser Geldsystem ist vergleichbar mit einem Motor, der unsere Wirtschaft antreibt und am Laufen hält. Wir haben diesen Motor selbst gebaut, daher können wir sicher sagen, wie er funktioniert. Wir wissen zum Beispiel, dass Luft zusammen mit Treibstoff verbrannt wird und hinten dann die Abgase rauskommen – und es nicht andersherum ist und die Abgase hinten eingesaugt und dann aufgetrennt werden.«
Das sei aber auch gar nicht das Ziel der MMT: »Nur weil wir das Geldsystem verstanden haben, wissen wir noch nicht, wie wir die Wirtschaft am effektivsten lenken«, sagt Ehnts. Oder um beim Bild des Motors zu bleiben: Nur weil die Funktionsweise bekannt ist, ist nicht automatisch klar, wie ein Rennauto am schnellsten vom Start ins Ziel kommt. »Da gehört dann natürlich noch mehr dazu. Aber der Motor ist zweifelsohne von zentraler Bedeutung, so wie das Geldsystem das Herz unserer Wirtschaft ist.«
Zu diesem Zweck organisieren sich Ehnts und eine wachsende Zahl von Mitstreiter:innen seit 2014 in der Samuel-Pufendorf-Gesellschaft, mit dem ausgemachten Ziel, ein besseres Bild der Geldsystemrealität zu vermitteln. Im Februar 2019 richtete die Gesellschaft die erste
Die Arbeit der Initiative zeigt erste Erfolge: »Langsam werden wir MMT’ler auch in Europa lauter. Viele Studierende hören nicht zuletzt auch wegen der Coronakrise mit immer spitzeren Ohren zu, da Schuldenfragen jetzt mehr und mehr in den Vordergrund rücken«, berichtet Ehnts. Er ist sich sicher: »Solange wir aber glauben, dass der Motor unserer Wirtschaft auf magische Art und Weise angetrieben wird, können wir nicht erwarten, dass er rund läuft.«
Im Folgeartikel will ich der Frage nachgehen, ob wir mit der MMT einen Green New Deal finanzieren können. Bis dahin kannst du mit diesem Text das Thema Geldsystem weiter vertiefen:
Mit Illustrationen von Mirella Kahnert für Perspective Daily