Arbeitslose gelten als Fehler im System – und sind zugleich von zentraler Bedeutung. Das sagt Anna Mayr, die in ihrem Buch »Die Elenden« ein erstaunlich naheliegendes Mittel gegen Armut beschreibt.
30. November 2020
– 19 Minuten
Anna Tiessen
Wer arbeitslos ist, wird schon etwas dazu beigetragen haben. Und wer fleißig ist, aus dem wird auch was. Plattitüden wie diese sind seit Jahrzehnten, egal wie abgedroschen sie sein mögen, fester Bestandteil unserer Arbeitsgesellschaft. Und sie wirken.
Die Journalistin und Buchautorin Anna Mayr kennt Aussagen dieser Art, denn sie schlugen ihr von Kindesbeinen an entgegen, mal offen, mal versteckt. Mayr wuchs als Tochter langzeitarbeitsloser Eltern auf. Groß werden mit Hartz IV in Deutschland – das verheißt eigentlich wenig Gutes für die eigene Zukunft.
Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) dauert es durchschnittlich Anna Mayr verbucht ihren Werdegang deswegen auch nicht als das alleinige Ergebnis harter Arbeit, sondern auch als Produkt des Zufalls.
Sie hat ein Buch darüber geschrieben, warum es in Deutschland so schwer ist, der Armut zu entkommen. Im Interview spricht sie davon, wie das Sozialsystem schon Kinder als kleine Arbeitslose behandelt und dass sie überhaupt kein Fan des bedingungslosen Grundeinkommens ist. Ihre Hoffnung ruht auf einer anderen Lösung.
»Arbeitslose sind ein Schreckgespenst«
Benjamin Fuchs: heißt es, dass du eigentlich keine Milieubeschreibung abliefern, sondern auf der Basis eigener Erfahrung darüber schreiben wolltest, wie wir als Gesellschaft Arme und Arbeitslose behandeln. Viele Interviewer:innen sind aber sehr stark an dieser persönlichen Ebene interessiert. Warum meinst du, ist das so?
Anna Mayr:
Einerseits ist das, glaube ich, Faulheit der Interviewer, weil es viel leichter ist, über persönliche Sachen zu sprechen. Es ist schwieriger, tatsächlich das Buch zu lesen und sich dann über die darin beschriebenen Themen zu unterhalten, als nur den Klappentext und das erste Kapitel zu lesen.
Ich merke, dass mir Interviews mehr Spaß machen, wenn es inhaltlich kaum noch um meine Familie geht. Und es gibt dieses klassische gesellschaftsjournalistische Denken. Manche hätten mich gerne in diesem »junge Frau schreibt biografisches Buch«-Schema. Wahrscheinlich bekommen sie auch den Auftrag aus der Redaktion, es so zu machen.
Und es gibt noch etwas Drittes. Manche sehen sich als Anwälte ihres Publikums – und das finde ich immer ganz lustig. Denn natürlich möchte das Publikum viel mehr über mich persönlich erfahren, weil das Buch absichtlich einiges offenlässt. Deshalb fragen sie das alles, aber ich erzähle dann nie mehr als das, was im Buch steht.
Wir als Gesellschaft neigen dazu, systemische Probleme fast nur als Summe von Einzelfällen sehen. In der Rassismusdebatte, wo immer Einzelfallschilderungen von Betroffenen eingefordert werden, ist es ähnlich, obwohl das strukturelle Problem auf der Hand liegt. Können wir das große Ganze nicht sehen oder wollen wir es vielleicht nicht?
Anna Mayr:
Wahrscheinlich ein Hybrid. Ganz viel, was systemische Fragen angeht, sitzt schon so tief in den Menschen drin, dass sie es gar nicht mehr als ein äußeres Konstrukt begreifen können. Ich hatte neulich ein Interview, in dem die Interviewerin einen Konflikt aufgemacht hat zwischen ihrer Mutter, die sich in Deutschland als Geflüchtete hochgearbeitet hat, und meiner Mutter, die ja deutsch aufgewachsen ist, deshalb alles hatte und es trotzdem verkackt hat.
Dahinter steckt dieses »Wir haben uns hochgearbeitet«. Das ist so internalisiert, und das ist so sehr ein Teil der Identität geworden, dass man da gar nicht mehr heraustreten kann, um zu sehen, dass dieses Arbeitsethos in Wirklichkeit jemand anderem viel mehr genutzt hat als der Mutter der Interviewerin. Und dass es in Wirklichkeit total falsch ist, in dieser Gesellschaft nur akzeptiert zu werden, weil sie sich irgendwann eine Eigentumswohnung gekauft haben.
Hier ist das Problem, dass diese systemischen Fragen so tun, als seien sie Teil von persönlichen Identitäten. Und da scheitern viele oft im Nachhinein daran, es auf einer Systemebene zu betrachten, weil Menschen das Gefühl bekommen, sich dadurch selbst zu zerlegen und unter die Lupe zu nehmen.
Dieses Arbeitsethos ist ein Punkt, an dem eine deiner zentralen Thesen andockt, dass unsere Gesellschaft Arbeitslose braucht. Wie meinst du das genau?
Anna Mayr:
Arbeitslose sind ein Schreckgespenst. Wir müssen uns von ihnen abgrenzen. Diejenigen, die arbeiten oder sich sogar »hocharbeiten«, brauchen diejenigen, die nichts tun, um sich besser zu fühlen. Und indem wir das Schreckgespenst »Arbeitsloser« aufmachen, müssen wir das System gar nicht mehr anschauen, weil die Fehlerhaften ja eindeutig identifiziert sind. Das funktioniert, weil wir oft in Gegensätzen denken. Gut und Böse, Arbeit und Nicht-Arbeit. Das ist, glaube ich, sehr prägend.
»Vielen Menschen liegt die Idee, dass Armut politisch gewollt sein könnte, sehr fern«
Mir ist eine Szene mit dir und Er wurde ziemlich emotional und sagte sinngemäß: »Nein, wir brauchen doch die Arbeitslosen gar nicht, im Gegenteil. Wir brauchen weniger Arbeitslose.«
Anna Mayr:
… »Bildung, Bildung, Bildung, Bildung« …
Das Wort hat er oft benutzt. Hansch meinte aber eigentlich etwas Ähnliches wie du: Es sollte keine Menschen geben, denen es schlecht geht. Aber in der Konsequenz geht es ganz woanders hin: Sie sollen in seinen Augen bitte eine Gegenleistung erbringen, Willen zeigen.
Anna Mayr:
Vielen Menschen liegt die Idee, dass Armut politisch gewollt sein könnte, sehr fern. Das ist irgendwie lustig, weil es ja auch Zeiten gab, in denen der Staat arbeitslose Menschen nicht so ganz hat verarmen lassen. Das stößt vielen dann wiederum auf, weil sie denken, die Armen bekämen irgendwas umsonst.
Es hat sich eine ganze Ideologie um diese Wertigkeit des Arbeitsplatzes gespannt. Und die wird ja auch immer wichtiger. Je individualisierter die Gesellschaft, desto wichtiger wird die Arbeit und desto bestimmender. Und natürlich: Als es noch keine Sozialsysteme gab, bedeutete Arbeitslosigkeit Armut, und deshalb durfte man nicht arbeitslos sein. Es ist wahnsinnig einfach, Arbeitslosigkeit als Fehler von Einzelnen zu verkaufen, die dann gerettet werden, weil es so vieles am Laufen hält. Aber zu erklären, warum es Arbeitslosigkeit wirklich gibt, ist sehr komplex.
Dazu gehört, dass wir die Arbeitslosen nicht nur gesellschaftlich als Schreckgespenst brauchen, sondern auch als potenziell verfügbare Menge arbeitswilliger Menschen, denn die Kosten der Arbeit für Arbeitgeber bleiben so Arbeitslose sind eigentlich in der Zange. Es ist hilfreich, dass es sie gibt.
Anna Mayr:
Es braucht dieses Rädchen im Gefüge. Aber das Gefüge sagt die ganze Zeit zu diesem Rädchen: »Du musst dich eigentlich andersherum drehen«, und das ist natürlich unbefriedigend. Es ist jedoch auch schwer, das zu vermitteln.
»Arbeitgeber haben natürlich ein wahnsinniges Interesse daran, dass es Arbeitslose gibt.«
Vor allem, weil ja eine regelrechte Propaganda beharrlich in die andere Richtung läuft. Stichwort Florida-Rolf: ein Frührentner, der im Ausland lebte und Sozialhilfe bezog.
Anna Mayr:
Ich habe für das Buch die ganzen Protokolle aus den gelesen, in denen es um die Hartz-Gesetze ging. Und es war ziemlich spannend, weil für Florida-Rolf der damalige Ministerpräsident des betroffenen Bundeslands so wahnsinnig stark von der Presse angegangen wurde. Er saß in diesem Vermittlungsausschuss und sagte die ganze Zeit sinngemäß: »Kein zweiter Florida-Rolf, kein zweiter Florida-Rolf.« Wahrscheinlich weil das für ihn so hart war. Dabei gab es in seinem Bundesland nur wenige ähnlich gelagerte
Welche Rolle spielen die Medien?
Anna Mayr:
Die Geschichte der Arbeitslosigkeit ist am Ende auch eine Mediengeschichte: Weil es für Journalisten leicht ist, einen Fehler zu finden, einen Skandal bei Menschen, die ihre Fehler nicht verstecken können. Reiche Leute können viel besser verheimlichen und beschönigen, was sie alles Ungerechtes in der Welt machen. Für die Armen ist das komplizierter. So jemanden wie Florida-Rolf würde ich, obwohl er in Florida lebte und Leistungen empfangen hat, immer noch nicht zu den Reichen
Auch heute gibt es diese Art der Neid-Erzählung noch. zeigt einerseits Menschen, die hart arbeiten und trotzdem Sozialleistungen beziehen müssen, und auf der anderen Seite Hartz-IV-Empfänger:innen, die schnorren, unverschämt sind und dreist. Das macht Druck auf die Politik. Ist das eine Symbiose aus Boulevardmedien und der Politik? Siehst du da eine Art Agenda?
Anna Mayr:
Es gibt nicht den einen, der sagt: Wir verschieben jetzt den Diskurs und dann kommt der ganze Diskurs mit. Das glaube ich nicht. Sondern es passiert schrittweise und dann steigert sich das. Dass die Arbeitgeberlobby – ich nenne sie jetzt einfach so – zusammen mit der Politik und den Medien dieses Bild von Sozialhilfeempfängern erzeugt hat. Die Gesellschaft wurde damals immer ungerechter. Und das Ungerechtigkeitsempfinden der Menschen musste abgeleitet werden. Aber statt die tatsächlichen Probleme offenzulegen, wurden eben die Arbeitslosen als Ursache der Ungerechtigkeit ausgemacht. Das war eine einfache und auf den ersten Blick stimmige Erklärung.
Die Arbeitgeber haben natürlich ein wahnsinniges Interesse daran, dass es Arbeitslose gibt. Es macht Löhne billiger, es macht es leichter, Arbeitnehmer zu unterdrücken, sie schlecht zu behandeln. Und es sorgt dafür, dass sie sich nicht besonders anstrengen müssen, was die Verbesserung des Zustands seiner eigenen Arbeitnehmer angeht. Aber bei der Politik verstehe ich es ehrlich gesagt nicht ganz.
Trotz dieser schwierigen Situation Arbeitsloser habe ich mich gefragt, warum das Buch »Die Elenden« heißt. Die Armut des Romans unterscheidet sich ja schon deutlich von der Armut heute, zudem gab es materiell große Fortschritte. In dem Titel schwingt aber mit, dass etwas immer noch so ist wie in Victor Hugos Schilderungen im Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts. Wo sind wir in deinen Augen noch nicht weitergekommen?
Anna Mayr:
In der Frage, wen wir gegen wen ausspielen. In der Zeit, in der »Die Elenden« spielt, gab es ja dieses System, dass der Besitzer der Fabrik sich morgens gedacht hat »Okay, du und du und du, ihr könnt reinkommen, und du und du und du, ihr habt heute nichts zu essen.«
Dass bei den Untersten ein Konkurrenzverhältnis aufgemacht und denjenigen, die verlieren, die Schuld dafür unterstellt wird. Dieser künstliche Konflikt war damals noch offensichtlicher und deshalb ergab es damals Sinn, sie »Die Elenden« zu nennen, weil sie offensichtlich nicht selbst daran schuld waren. Heute haben wir aber diese Erzählung des individuellen Versagens, obwohl sich an der Willkür nichts geändert hat. In Wirklichkeit sind es immer noch die Elenden, die einfach aufgrund ihrer Abhängigkeit elend sind. Man ist nicht elend, weil man selbst dafür gesorgt hat, sondern man wird elend gemacht.
»Ich hatte einfach Glück«
Es gibt diese Idee, Viele sehen gerade in deinem Werdegang den Beweis dafür, dass das stimmt. Du bist mit Hartz IV aufgewachsen, inzwischen aber Journalistin bei der »Zeit«, du hast ein Buch geschrieben. Du lehnst es aber ab, als Paradebeispiel für soziale Durchlässigkeit herzuhalten. Warum?
Anna Mayr:
Wenn ich objektiv auf meinen Lebensweg gucke, ist mir relativ klar, Das ist offensichtlich. Ich habe auch ein bisschen Talent, aber viele Menschen haben Talent. Viele Menschen können gut schreiben. Immer wieder, wenn hier Praktikanten in der Redaktion sitzen, denke ich, die könnten meinen Job genauso machen. Ich war einfach oft zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Ich hatte Glück, dass ich mich einfach mit Leuten gut verstanden habe, die mir später Tipps gaben und mich ermutigt haben. Es kam am Ende durch Wohlwollen von anderen und Zufälle zustande, dass ich jetzt hier bin.
Es ist sicher einfacher für jemanden, der anders aufwächst, bei der »Zeit« zu landen, weil er mit einer ganz anderen Einstellung an die Sache herangeht. Als ich zum ersten Mal auf der Website der Deutschen Journalistenschule war, stand da »Die DJS ist die renommierteste, elitärste, tollste Journalistenschule der Welt«. Ich habe das gelesen und den Tab wieder geschlossen, weil ich dachte: Okay, then it’s not for me. Dass ich trotzdem da war, ist kein Beweis dafür, dass Aufstieg in Deutschland möglich ist, sondern ein Beweis dafür, dass es gut ist, wenn dich in der Kneipe jemand ermutigt: »Bewirb dich mal!«
Würdest du im Umkehrschluss sagen, dass Armut und Arbeitslosigkeit am Ende maßgeblich vom Faktor Pech bestimmt werden?
Anna Mayr:
Ja, auf jeden Fall. Eine Krankheit oder dass dich einfach dein Chef nicht mag, das kann alles passieren. Ich habe das selbst gesehen – Kollegen in den Redaktionen, die arbeitslos geworden sind. Die Arbeitslosigkeit an sich ist Pech. Und dann kommt die ganze Pechspirale in Gang, die dich arbeitslos bleiben lässt. Und wir suchen dann natürlich immer den Fehler bei den Betroffenen. Wir denken: »Vielleicht bist du auch mal zu spät gekommen oder vielleicht bist du auch immer zu früh gegangen?« Aber das sind letztlich alles Mechanismen, mit denen wir uns beweisen wollen: Mich könnte es nicht treffen, denn ich mache alles richtig.
»Du bist der Fehler im System. Dein Leben ist eigentlich nicht gewollt gewesen in diesem Land.«
Zu diesen Pechfaktoren kommt nun das System hinzu. Das, was du Pechspirale nennst. Man sagt, Hartz IV werde späteren Generationen vererbt. In deinem Buch kommt der Gedanke auch vor, dass Kinder von Arbeitslosen selbst wie kleine Arbeitslose behandelt werden. Die »Schuld« der Eltern wird auf die Kinder projiziert.
Anna Mayr:
Du musst dankbar sein. Du bist schuld daran, dass alle in Deutschland Steuern zahlen müssen, damit du überleben kannst. Du bist der Fehler im System. Dein Leben ist eigentlich nicht gewollt gewesen in diesem Land. Ja, danke, dann gehe ich wohl wieder. Und zusätzlich werden diese Menschen durch Verwaltung unterdrückt, indem sie zum Beispiel regelmäßig beweisen müssen, dass sie noch zur Schule gehen. Oder gebeten werden zu einem Gespräch über eine Ausbildung oder Ähnliches. Mir hat neulich jemand gesagt: »Ja, aber jeder wird doch von der Arbeitsagentur mit 16 zu einem Gespräch über den Lebensweg gebeten.« Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber wenn ja: Wird auch jedem damit gedroht, dass sonst seine Hartz-IV-Bezüge gekürzt werden würden? Denn bei mir war das so.
Rein faktisch sind 16-Jährige in diesem Fall ja Hartz-IV-Empfänger. Aber dass sie wie Arbeitslose behandelt werden, die nicht zu einem Gesprächstermin erscheinen, ist eigentlich schon krank.
Bei Kindern von Hartz-IV-Empfänger:innen wird ja auch der Lohn eines Schüler:innennebenjobs, der mehr als 100 Euro im Monat bringt, mit dem Hartz-IV-Satz der Eltern Den Kindern wird eigentlich von Anfang an gezeigt, wo gesellschaftlich ihr Platz ist.
Anna Mayr:
Ja, und ihnen wird vor allem gezeigt, dass alles nichts bringt. Ich glaube, das ist das, was ich damals daraus mitgenommen habe. Dieses Land möchte überhaupt nicht, dass du irgendetwas tust. Es möchte, dass es dir genauso schlecht geht, wie es dir geht. Und es hält nichts von dir. Warum die Regelung beim Zuverdienst immer noch nicht geändert ist, durchdringe ich politisch noch nicht. Wahrscheinlich ist es einfach niemandem wichtig genug.
»Das bedingungslose Grundeinkommen legt die Debatte um Gerechtigkeit still«
Was mich überrascht hat: Du findest überhaupt nicht gut. Es gibt nicht viele, die sich offen und klar gegen das BGE aussprechen. Warum findest du, dass es keine gute Lösung ist?
Anna Mayr:
Weil ich Arbeitnehmerrechte liebe. Ich finde Arbeitnehmerrechte richtig geil. Mir geht das Herz auf, wenn ich über Arbeitnehmerrechte nachdenke. Und das bedingungslose Grundeinkommen ist genau das Gegenteil, das ist die absolute Individualisierung von allem. Hier sind deine 1.200 Euro und jetzt Ruhe. Es ist auch eine Individualisierung von Risiken. Also alles, was zum Beispiel mit Elternzeit oder Krankheit zusammenhängt: Es wird alles am Ende darauf zurückgeführt, dass es ja ein bedingungsloses Grundeinkommen gibt. Die Probleme, die es schafft, sind noch gar nicht absehbar. Nebenbei führt es dazu, dass die Debatte um Gerechtigkeit komplett stillgelegt wird, weil die gesamte politische Linke sich so einen Stern am Horizont gesucht hat, auf den sie jetzt zustrebt. Aber wir haben die Raketen überhaupt nicht, die uns dahin bringen. Unter jedem Tweet über Gerechtigkeit finden sich immer 2, 3 Leute, die schreiben »BGE! BGE!« und ich denke dann: Das ist eure einzige politische Position? So funktioniert Politik halt nicht.
Warum nicht?
Anna Mayr:
Politik ist Kompromissbereitschaft. Politik ist es, sich über Sachen zu verständigen und zu verstehen, welche Interessen wo liegen. Und dann zu versuchen, möglichst wenig Leid in der Welt zu erzeugen und trotzdem alle Interessen irgendwie zu wahren. Das BGE ist genau das Gegenteil. Es ist die Idee davon, dass alle Probleme auf einmal gelöst werden, wenn wir nur diese eine Sache machen. Ich finde auch Kapitalismus nicht schön. Aber wir haben ihn jetzt und ich spüre einfach diesen massiven Leidensdruck von ganz vielen Menschen da draußen, die diese 1.200 Euro wirklich bräuchten. Ich brauche sie nicht. Die, die sie brauchen, werden jetzt aber still gehalten durch eine BGE-Debatte, die wir noch 20 Jahre führen können. Wir führen auch die Debatte über Kinderarmut seit 15 Jahren. Nichts ist passiert. Dann werden wir nicht übermorgen ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen. Ich glaube, dieser Realismus fehlt vielen, und das finde ich schade, denn wenn wir Realismus aufgeben und nur noch nach den Sternen greifen, dann führt das am Ende dazu, dass wir nichts verändern außer das eigene Gewissen. Schade.
»Lasst uns einfach kurz dafür sorgen, dass niemand mehr in Armut lebt«
Kann ein BGE, das allen zusteht, aber nicht vielleicht die Gesellschaft, die jetzt stark auf Konkurrenz basiert und die Armen gegeneinander ausspielt, kooperativer und freier machen? Jede:r wüsste dann: Wir nehmen uns nicht gegenseitig etwas weg.
Anna Mayr:
Es kann ja auch jetzt schon jeder Grundsicherung, also Hartz IV haben. Ich glaube, dass alle diese positiven Effekte, die ideologisch aus einem bedingungslosen Grundeinkommen entstehen würden, genauso aus einer besseren Sozialhilfe, einem besseren Arbeitslosengeld, einer besseren Rentenversicherung entstehen würden. Also lasst uns einfach kurz dafür sorgen, dass keiner mehr in Armut lebt. Und dann habt ihr alle die Effekte des bedingungslosen Grundeinkommens.
Ich glaube wirklich, dass gruppenbezogene und dann individuell angepasste Sozialleistungen viel, viel besser sind, als alle über einen Kamm zu scheren. Gerade dieser oft genannte Effekt des BGE, dass Menschen sich nicht mehr dafür schämen müssen, nicht zu arbeiten – der entsteht auch, wenn wir sagen, Hartz IV ist sanktionsfrei und Hartz IV sind 1.000 Euro im Monat. Wenn niemand wegen Hartz IV direkt aus seiner Wohnung ausziehen muss. Wenn niemand offenlegen muss, welche Ersparnisse er hat, sondern: Wenn du arbeitslos wirst, dann kriegst du das.
Und für alle diese Leute, die jetzt schon in Hartz IV leben, für all die könnten wir uns das längst leisten. Das könnten wir einfach machen. Aber weil wir es jetzt für alle haben wollen – keine Ahnung, warum wir das wollen, ehrlich gesagt –, deswegen kommt es nicht voran.
Das heißt, das, was dir eigentlich vorschwebt, ist so eine Art bedingungslose Grundsicherung.
Anna Mayr:
Ja.
Ein Argument, das auch zentral für das BGE genutzt wird, ist: Es kann Arbeit und Einkommen voneinander entkoppeln.
Anna Mayr:
Das stimmt aber überhaupt nicht. Ich bin in Armut aufgewachsen. Ich weiß, wie wenig Geld man brauchen kann. Aber ich würde jetzt ungern von 1.200 Euro im Monat leben. Es würde mich, ehrlich gesagt, richtig abfucken. Ich gehe sehr gerne essen. Für einen großen Teil der Gesellschaft wären Arbeit und Einkommen also immer noch sehr aneinander gekoppelt.
Argumente in diese Richtung höre ich nicht oft. Es gibt wenig inhaltliche Auseinandersetzung mit direktem Für und Wider, sondern es geht oft einfach nur noch um die Frage der Umsetzbarkeit.
Anna Mayr:
Ja, das ist auch ganz interessant. Ich habe neulich eine Onlinepodiumsdiskussion über das bedingungslose Grundeinkommen moderiert und da war eine Ökonomin, die wahnsinnig smart erklärt hat, warum es nicht so gut möglich ist. Sie hat vieles gesagt, was ich jetzt im Prinzip wiederholt habe. Und sie sagte die ganze Zeit: »Ich fühle mich so schlecht. Es tut mir so leid. Es tut mir so leid, dass ich das alles sage.« Und das fand ich so süß, weil es genau das ist, was passiert, wenn wir sagen, das bedingungslose Grundeinkommen sei nicht gut. Dann werden wir angeschaut, als würden wir auch Katzenbabys töten. Aber das ist ja totaler Quatsch. Wir können durchaus für einen funktionierenden Sozialstaat sein, in dem niemand in Armut leben muss, und trotzdem das bedingungslose Grundeinkommen als Idee ablehnen.
»Es hilft tatsächlich nur Geld.«
Du schlägst in deinem Buch 764 Euro Grundsicherung vor. Zum Vergleich: Der Hartz-IV-Satz liegt ab 2021 bei 432 Euro. Wie kommst du auf die 764 Euro?
Anna Mayr:
Eigentlich hab ich versucht, mich realpolitisch an dem entlangzuhangeln, was schon da war. Es gab schon einmal den Vorschlag einer Kommission, die Arbeitslosengeldsätze an den Steuerfreibeträgen zu orientieren. Ich finde den Gedanken eigentlich sinnvoll, weil die Steuerfreibeträge das sind, was Menschen mindestens zum Leben brauchen, weshalb man es ihnen nicht wegnimmt. Dass Menschen von weniger leben, ist eigentlich verrückt.
Den Steuerfreibetrag habe ich einfach durch 12 Ich fordere das allerdings für eine Welt, in der es auch einen Mietpreisdeckel und einen Mindestlohn von 12 Euro gibt. Es war mir lieber, etwas zu fordern, was nicht nach Reichtum klingt. Also nicht zu sagen, jeder Mensch sollte 1.000 Euro bekommen. Sondern eine Summe, die niedrig ist. 764 Euro sind wenig Geld, liegen aber immer noch so sehr über dem Hartz-IV-Satz, dass es Menschen trotzdem schockiert. Und das ist das Verrückte. Beim Steuerfreibetrag wird gesagt: Das ist viel zu wenig. Und bei Hartz IV heißt es: Das ist aber viel zu viel, wie willst du das denn machen?
Wäre dein Betrag an Bedingungen geknüpft oder bekommt man ihn einfach?
Anna Mayr:
Man bekommt ihn.
Besteht also die Lösung der Armutsfrage in deinen Augen am Ende darin, dass arme Menschen einfach mehr Geld erhalten?
Anna Mayr:
Ja, das ist leider so. Wenn du dir diese Episode mit Werner Hansch beim Kölner Treff anschaust, in der er sagt: Bildung, Bildung, Bildung, Bildung. Das sei der Schlüssel zum Weg aus der Armut. Das heißt ja umgekehrt, dass die Armut der Kinder erst vorbeigehen soll, wenn sie Abitur gemacht haben. Das ist ja auch perfide in Wirklichkeit. Also das muss ich ja gar nicht erklären, es ist perfide.
Es hilft tatsächlich nur Geld. Ich finde dieses Essay von »Ein Zimmer für sich allein« immer noch so großartig. Sie erzählt in dem Buch, dass ab dem Moment, in dem sie Geld hatte, sie auf einmal die Welt anders sah. Sie konnte plötzlich Dinge bewerten, sie konnte sagen: Das finde ich schön und das finde ich schlecht. Wer kein Geld hat, ist entmachtet. Man hat keine Grundlage mehr, auf der man sich in der Welt bewegt. Im Kapitalismus ist Geld nun mal alles. Und auch Linke können es endlich mal lassen, auf die Armen eine bessere Welt zu projizieren. Natürlich wäre es schön, wenn es im Leben immer nur um Bildung ginge. Fände ich auch großartig, wenn man Bücher essen könnte. Aber es ist leider nicht so.
Mit Illustrationen von
Doğu Kaya
für Perspective Daily
Jeder weiß: Unsere Arbeitswelt verändert sich radikal und rasend schnell. Nicht nur bei uns vor der Haustür, sondern auch anderorts. Wie können wir diese Veränderungen positiv gestalten und welche Anreize braucht es dafür? Genau darum geht es Benjamin, der erst Philosophie und Politikwissenschaft studiert hat, dann mehr als 5 Jahre als Journalist in Brasilien gelebt hat und 2018 zurück nach Deutschland gekommen ist. Es gibt viel zu tun – also: An die Arbeit!