»Wirtschaftswunder und soziale Marktwirtschaft sind eine ideologische Fiktion«
Die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann ist sich sicher: Die Gründungsmythen der Bundesrepublik bedienen vor allem den deutschen Nationalismus. Sind wir vielleicht gar nicht so einzigartig, wie wir gerne glauben?
Knapp über 70 Jahre ist es her, da erblickte die Bundesrepublik Deutschland das Licht der Welt. Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz als Verfassung feierlich verkündet; nach dem kurzen Zwischenspiel der Weimarer Republik schien Deutschland endlich ein demokratischer Staat zu werden.
Den Gründungsmythos, dessen ein so fundamentaler Neustart bedarf, erfand der damalige CDU-Wirtschaftsminister und spätere Bundeskanzler Ludwig Erhard: Eine soziale Marktwirtschaft, wie sie es so nur in Deutschland geben konnte, und eine starke D-Mark, die ein Wirtschaftswunder bescherte, das Wohlstand für alle versprach.
Die Wirtschaftsjournalistin und Autorin Ulrike Herrmann hat mit dieser Version der Geschichte, wie sie heute in Geschichtsbüchern, Fernsehdokumentationen und Zeitungsartikeln erzählt wird, ein Problem. In ihrem 2019 erschienenen, kontrovers diskutierten arbeitet sie das deutsche Selbstverständnis als Wirtschaftswunderland, das sich bis heute hält, systematisch auf. Darüber habe ich mit ihr gesprochen.
Chris Vielhaus:
Frau Herrmann, nach der Niederlage Nazideutschlands vor 75 Jahren hat die Bundesrepublik glücklicherweise richtig gut die Kurve gekriegt, wie ich im Geschichtsunterricht beigebracht bekommen habe: erst das Wirtschaftswunder, dann die Erfindung der sozialen Marktwirtschaft. Wie hat die BRD das geschafft?
Ulrike Herrmann:
Na ja, eigentlich hat es das Wirtschaftswunder und die soziale Marktwirtschaft nie gegeben …
Wie bitte?
Ulrike Herrmann:
Hinter diesen Begriffen steckt die Idee, dass Deutschland ein einzigartiges Wirtschaftssystem hat, nämlich die soziale Marktwirtschaft. Diese soll von einer einzigartig stabilen Währung, der D-Mark, getragen worden sein, die zusammen mit einer genialen Wirtschaftspolitik zum Wirtschaftswunder geführt und Deutschland wieder nach vorne gebracht hat. Und natürlich war da auch ein starker Mann als Vater des Wirtschaftswunders, der ehemalige Wirtschaftsminister und spätere Bundeskanzler Ludwig Erhard.
Genau das ist es, was ich im Geschichtsunterricht gelernt habe, ja.
Ulrike Herrmann:
Diese ganze Erzählung ist vor allen Dingen eines: eine ideologische Fiktion. Sie bedient den deutschen Nationalismus, den Traum vom einzigartigen Erfolg. Wenn wir Deutschen das Wort Wirtschaftswunder hören, dann denken wir immer, dass es nur in Westdeutschland einen starken Aufschwung gab. Das ist einfach falsch. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg sind alle europäischen Staaten wirtschaftlich sehr stark gewachsen – zum Teil noch wesentlich stärker als Westdeutschland.
Den Rekord halten die Spanier, deren Wirtschaft zwischen 1950 und 1963 jährlich um 5,8% pro Kopf gewachsen Das hat die Bundesrepublik mit 5% pro Jahr und Kopf nicht erreicht. Interessant ist auch zu sehen, dass es eigentlich relativ unerheblich war, welche Art von Wirtschaftspolitik die einzelnen Länder verfolgt haben. Österreich ist damals in etwa genauso stark gewachsen wie Westdeutschland, hat aber einen ganz anderen Kurs eingeschlagen. Dort gab es lange Zeit eine Art von Sozialismus: 31% der Bevölkerung waren zeitweise direkt oder indirekt beim Staat angestellt, weil man nach dem Zweiten Weltkrieg sehr viel Großindustrie verstaatlicht hatte. Trotzdem war das Wirtschaftswachstum genauso hoch wie in Westdeutschland.
Was hat das Wachstum nach dem Zweiten Weltkrieg angekurbelt?
Ulrike Herrmann:
Die Ursache ist relativ banal: Es wurde einfach die moderne Technik aus den Vereinigten Staaten übernommen. Der technologische Fortschritt dort war immens, sodass sich die USA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ungestört entwickeln konnten. Für sie waren die beiden Weltkriege faktisch ein Konjunkturprogramm, einzig die Weltwirtschaftskrise 1929 hat die steile wirtschaftliche Entwicklung dort unterbrochen. In Westeuropa hat es zwischen 1914 und 1945 wegen der Kriege nahezu kein Wirtschaftswachstum pro Kopf gegeben. Die zahlreichen technischen Neuerungen konnten hier gar nicht richtig in die Wirtschaft integriert werden, weil es ständig zu Störungen kam. Für die USA waren die beiden Weltkriege ein Konjunkturprogramm
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte politisch endlich Ruhe ein. Erst jetzt erreichten Erfindungen wie das Auto, der Fernseher, die Waschmaschine, das Flugzeug, aber auch Dinge wie Plastik die europäische Massenfertigung. Es war die Zeit der Fress- und Möbelwellen. Durch die Konsumfreudigkeit der Bevölkerung und Investitionsoffensiven in der Wirtschaft ging es daher überall bergauf – nicht nur in der Bundesrepublik.
Trotzdem wird Ludwig Erhard, der CDU-Politiker, der mit Zigarre und fülliger Figur auch optisch den neuen Wohlstand verkörperte, bis heute als Vater der sozialen Marktwirtschaft und des »Wirtschaftswunders« gehandelt. Irgendwas muss er doch richtig gemacht haben.
Ulrike Herrmann:
Der wirtschaftliche Aufschwung hatte gar nichts mit Erhard zu tun. Der wirklich einflussreiche Wirtschaftspolitiker dieser Zeit war klar Kanzler Konrad Adenauer. Er hat die großen Projekte dieser Zeit durchgedrückt – und zwar gegen den Widerstand Erhards. Um nur die wichtigsten zu nennen: die als Beginn der europäischen Integration. Dann die große Rentenreform von 1957, die dafür sorgte, dass die Verarmung der Alten gestoppt wurde. Und schließlich ein Projekt, das heute kaum mehr jemand kennt, das aber extrem wichtig war: die Das war ein Kreditmechanismus zwischen den westeuropäischen Staaten, der überhaupt erst dazu geführt hat, dass alle Länder gemeinsam an diesem Aufschwung teilhaben konnten, weil sie wieder gegenseitig importieren und exportieren konnten. All das war Adenauer.
Und Erhard war dagegen?
Ulrike Herrmann:
Erhard war ein naiver Ökonom und übrigens auch ein Opportunist, der sehr gut
Was er aber tatsächlich sehr gut konnte, war Selbstvermarktung. Vor dem Krieg hatte er in Zeiten der Weimarer Republik in einer Art Hochschule gearbeitet, die als erste moderne PR-Techniken aus den USA nach Deutschland importierte. Die Prinzipien der Werbung hat er auch auf sich selbst als Politiker angewendet, unterstützt von einem Verein namens »Die Waage«, der von Industriellen finanziert wurde und Millionenbeträge für Werbeanzeigen ausgab. Diese Kampagnen propagierte dann Ludwig Erhard als Vater der sozialen Marktwirtschaft. Begleitet wurde das Ganze von Meinungsumfragen, um sofort zu testen, ob die Botschaft auch ankam bei den Betrachtern – falls nicht, wurde sie eingestampft und nachjustiert.
Warum war die Idee einer sozialen Marktwirtschaft überhaupt so wichtig für die konservative politische Führung der Nachkriegszeit?
Ulrike Herrmann:
Die Idee einer »Marktwirtschaft« besagt, dass der Markt reguliert werden soll, damit es Wettbewerb gibt und es zu keiner Monopolbildung kommt. Doch faire Konkurrenz gab es nie, sondern in Westdeutschland wie auch in allen anderen Ländern war der Wettbewerb sehr eingeschränkt. Bereits seit dem 19. Jahrhundert beherrschten wenige Großkonzerne ihre jeweiligen Branchen – und das sind interessanterweise die, die wir bis heute kennen, etwa Siemens, AEG oder Krupp. Diese Großkonzerne hatten eines gemein: Sie haben eng mit den Nationalsozialisten zusammengearbeitet. Wir haben also eine bruchlose Kontinuität in der Wirtschaftsstruktur von der Weimarer Republik über den Nationalsozialismus bis hinein in die Bundesrepublik. Da hat sich gar nichts verändert, auch nicht am Führungspersonal: Das waren dieselben Manager, die wenige Jahre zuvor mit zusammengearbeitet haben. Unsere Wirtschaftsstruktur hat sich seit der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus nicht verändert
Diese personelle und strukturelle Kontinuität war nach dem verlorenen Weltkrieg natürlich hochgradig unangenehm. Um das zu vertuschen, wurde einfach so getan, als wäre ein gänzlich neues Wirtschaftssystem erfunden worden: die soziale Marktwirtschaft. In Wahrheit war alles genauso wie vorher.
Eine wirkliche freie Marktwirtschaft basierend auf fairem Wettbewerb war das also nicht. Wie sieht es mit dem »sozialen« Aspekt aus?
Ulrike Herrmann:
Es ist natürlich so, dass alle von dem allgemeinen Aufschwung profitiert haben und die Löhne stark gestiegen sind. Nach vielen Jahren der Entbehrung gab es das ganz individuelle Erlebnis »Mir geht es besser, ich habe mehr Geld in der Tasche«. Und daher dachten die meisten dann auch, sie würden in einem besonders sozialen Staat leben. Das stimmt aber nicht. Das Wirtschafts»wunder« war zwar da, es hat aber nicht zu einer sozialen oder finanziellen Umverteilung geführt – die Abstände zwischen oben und unten sind gleichgeblieben.
Die Story von der sozialen Marktwirtschaft verkaufte sich auch so gut, weil die SPD wirklich komplett versagt hat. Die SPD war damals im Kern noch marxistisch und hatte die Idee, dass der Kapitalismus irgendwie scheitern müsste und demnächst untergehen würde – tat er aber nicht. Als der Aufschwung 1953 dann längst im Gange war, hat die SPD noch immer behauptet, die Arbeiter würden verelenden – doch das Gegenteil war der Fall. Für die Bevölkerung war daher offenkundig, dass die SPD offensichtlich so gar nichts mit dem Wachstum zu tun hatte. Daraus wurde dann geschlossen, dass es also das Werk der CDU sein musste, und Ludwig Erhard stand bereit, um all das für sich selbst zu reklamieren.
Erhard schaffte es ins Kanzleramt und wird nicht nur in den konservativen Kreisen der Union bis heute vielfach verehrt. Mit ihm bleibt der Nimbus der sozialen Marktwirtschaft, der zuletzt in der Coronakrise eine Art Revival feierte. Wie konnte sich diese Erzählung bis heute über die Jahrzehnte so gut halten?
Ulrike Herrmann:
Als die Sozialdemokraten 1966 in einer großen Koalition zum ersten Mal an die Macht kamen, haben sie schon versucht, ihre Sozialpolitik umzusetzen. Hier ist vor allem die sogenannte Bildungsrevolution und -expansion mit der Gründung neuer Universitäten zu nennen, mit dem expliziten Ziel, dass dieser Weg auch Arbeiterkindern ermöglicht werden sollte. Das hat in weiten Teilen tatsächlich funktioniert. Das Problem der Sozialdemokratie und auch der Gewerkschaften war in dieser Zeit viel mehr, dass sie einen mächtigen Feind hatten, der öffentlich gar nicht wahrgenommen wurde – und zwar die Bundesbank. Deren Rolle ist in der jüngeren deutschen Geschichte weithin unbekannt und wird deswegen dramatisch unterschätzt.
Welche Rolle hat sie denn gespielt?
Ulrike Herrmann:
Die Bundesbank hatte permanent Angst, dass die Inflation zu stark zulegen könnte. Sobald die Löhne und Staatsausgaben stiegen, hat sie die Zinsen hochgesetzt, und zwar viel zu hoch. Mit dem Ergebnis, dass Menschen ihren Job verloren und Arbeitslosigkeit produziert wurde. Denn bei hohen Zinsen nimmt fast niemand mehr Kredite auf, um zu investieren.
Warum wurde das seitens der SPD nicht zum Thema gemacht und öffentlich kritisiert?
Ulrike Herrmann:
Die durch die Bundesbank verursachten Probleme waren der SPD durchaus bewusst. Zumindest Helmut Schmidt hat klar durchschaut, welche dramatische Rolle die Bundesbanker da spielten. Öffentlich skandalisiert hat er das Ganze trotzdem nie, was wohl daran liegt, dass schon Adenauer an der Bundesbank gescheitert war. Es wurde zu einer seiner schwersten Niederlagen, als er 1956 versuchte, Adenauer musste feststellen, dass weder Wähler noch Journalisten mitzogen. Nach den beiden Weltkriegen war es 1923 und 1948 zu einer rasanten Inflation gekommen, sodass die Deutschen in nur einer Generation gleich 2-mal ihre Ersparnisse verloren hatten. Den Wählern ist nie aufgefallen, dass es nicht miteinander vergleichbar ist, ob man in Friedens- oder in oder unmittelbar nach Kriegszeiten lebt. Sie fürchteten selbst relativ geringe Inflationsraten. Das ist der Grund, warum die Bundesbank als »Hüterin der D-Mark« – noch so ein Mythos – quasi unangreifbar war und eine vernünftige Sozialpolitik stets unmöglich machte.
Die Bundesbank war also ein unterschätzter politischer Faktor. Ihre starke Rolle nach dem Zweiten Weltkrieg fällt zusammen mit dem Aufstieg des Neoliberalismus bzw. der vermeintlichen deutschen Sonderform des sogenannten Waren es bestimmte wirtschaftspolitische Überzeugungen, die das Handeln der Bundesbank leiteten?
Ulrike Herrmann:
Bundesbanker verdienen sehr gut und sind rundum abgesichert. Sie mussten also keine Arbeitslosigkeit fürchten, die sie potenziell durch ihr Tun verursachen. Zudem war aber auch die herrschende Geldtheorie völlig falsch. Man hing dem Monetarismus an, der Geld wie eine Ware betrachtete, als würde es sich um Kartoffeln handeln. Wenn es viele Kartoffeln gibt, verlieren sie an Wert. Ähnlich sollte die Inflation dadurch entstehen, dass
Daran hat sich bis heute nicht viel geändert, oder?
Ulrike Herrmann:
In der Geldtheorie bewegt sich etwas – und zwar gerade in der neoklassischen Theorie, also dem ökonomischen Mainstream. Seit die Finanzkrise von 2008 in diesen Kreisen eingeschlagen ist wie eine Bombe, wollen viele ihre Geldtheorie modernisieren. Aktuell zeigt die Coronakrise schon wieder, dass die Annahmen der Neoklassiker alle falsch sind. Durch die Staatskredite entsteht viel neues Geld – aber eine Inflation gibt es nicht.
In der derzeitigen Coronakrise haben sich die meisten Neoliberalen daher von den alten Vorstellungen von Geld verabschiedet und sind nun auch dafür, dass der Staat Geld in die Wirtschaft pumpt. Allerdings ist keineswegs sicher, dass dies tatsächlich eine Revision ihrer Theorie bedeutet. In der Finanzkrise 2008 haben die meisten ebenfalls dafür plädiert, dass sich der Staat verschuldet, um die Konjunktur anzukurbeln. Doch kaum war die Krise an der Oberfläche scheinbar vorbei, kehrte das neoliberale Dogma schnell zurück und die Finanzkrise wurde plötzlich zu einer »Staatsschuldenkrise« umgedeutet. Es wurde einfach verdrängt und geleugnet, dass sich die Banken verspekuliert hatten. Stattdessen wurde einfach so getan, als hätte der Staat viel zu viel Geld ausgegeben – und heraus kam die Schuldenbremse …
… durch die die »soziale Marktwirtschaft« erst recht nicht mehr sozial sein kann, weil vermeintlich kein Geld da ist, das ausgegeben werden kann.
Ulrike Herrmann:
Durch die Schuldenbremse werden die Handlungsmöglichkeiten des Staates vollkommen beschränkt. Dabei wird übersehen, welche Rolle der Staat nicht nur für Soziales, sondern auch für die Wirtschaft hat. Er ist eigentlich dafür da, die Wirtschaft zu stabilisieren. Das kann aber nur gelingen, wenn er autonom handeln kann und sich verschulden darf. Daher ist die Schuldenbremse der totale Wahnsinn – und trotzdem steht sie seit 2009 in unserem Grundgesetz.
Haben Sie Hoffnung, dass sich daran nach der Coronakrise etwas ändert?
Ulrike Herrmann:
Gerade ist das Jahresgutachten 2020/21 der erschienen. Auch die Neoliberalen unter den Weisen sprechen sich dafür aus, dass der Staat jetzt Schulden macht, um die Wirtschaft zu stabilisieren. Aber wenn die Krise vorbei ist, soll der Staat diese Schulden wieder zurückzahlen. Die Rolle rückwärts ist jetzt schon geplant und es ist klar, wen das dann wieder trifft: Diejenigen, die am stärksten vom Staat abhängig sind, also die Armen.
Auf gar keinen Fall dürften laut dem Bericht dann die Ertragsteuern erhöht werden, also die Steuern auf Gewinne und Spitzeneinkommen. Die Reichen sollen geschont werden. All das wird nach der Krise wieder auf uns zukommen.
Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit hat wenig Reibungspotenzial: Wer würde schon ernsthaft behaupten, für weniger Gerechtigkeit zu sein? Chris zeigt, wie das konkreter geht. Dafür hat er erst Politik und Geschichte studiert und dann als Berater gearbeitet. Er macht die Bremsklötze ausfindig, die bei der Gesundheitsversorgung, Chancengleichheit und Bildung im Weg liegen – und räumt sie aus dem Weg!