Was viele Palästinenser vom Arztbesuch abhält: 8 Meter Stahlbeton
Denn das nächste Krankenhaus liegt hinter der israelischen Sperranlage. Eine Geschichte über Angst, Fanatismus – und Ärzte, die sich davon nicht beeindrucken lassen.
Kein Tag, an dem es nicht hart auf hart kommt – da unten, im sogenannten Nahen Osten, wo, seit ich denken kann, Krieg ist zwischen den Palästinensern und den Israelis. Wo von Abriss und Vertreibung die Rede ist, von Menschen, die mit Messern auf Soldaten losgehen, oder von Bomben, die explodieren und tödlich vergolten werden. Nach Jahrzehnten voller Berichte über Tote und Verletzte verliert die einzelne Nachricht ihren Schrecken und es bleibt Platz für die Frage, wie viel Menschlichkeit noch übrig ist.
I. Die Grenze
Es ist ein früher Morgen Anfang September. Am Checkpoint
Als Atallah versucht zu rekonstruieren, was an jenem Morgen passiert ist, steht er etwas verloren in der Blechhütte und blickt ratlos um sich.
Yosras Schmerzen waren plötzlich und heftig gekommen. An diesem Morgen war sie aufgestanden und noch am Bett ohnmächtig zusammengebrochen. Hat wieder und wieder die Orientierung verloren. Atallah hat die erschrockenen Kinder in die Schule geschickt und anschließend versucht, Hilfe zu organisieren.
An dem Checkpoint, den Yosra und Atallah passieren müssen, sitzen junge israelische Soldaten hinter Panzerglas. Sie bleiben scheinbar reglos, während Atallah bettelt, dass seine Frau israelisches Gebiet betreten darf, um in das palästinensische Krankenhaus in
Das Al-Makassed-Krankenhaus ist nur 5 Kilometer entfernt, fast in Sichtweite. Es ist ein palästinensisches Krankenhaus und dennoch unerreichbar für die Bewohner des
Wer hier lebt, braucht eine zuvor schriftlich beantragte
Die Prozedur an den Checkpoints hat sich in der Vergangenheit in zahlreichen Fällen als Todesfalle entpuppt. Rund 40.000 Palästinensern verweigerte die israelische Besatzungsmacht im Jahr 2013 das Betreten oder Durchqueren von israelischen Gebieten für eine medizinische
Während der
An jenem Morgen stehen die Krankenwagen auf der israelischen Seite bereit für einen Transport. Atallah kann sie sehen, als ihm die Entscheidung der israelischen Grenzsoldaten mitgeteilt wird. In diesem Moment sieht er dem israelischen Soldaten ein erstes Mal in die Augen. Das Urteil: Die Genehmigung für die Weiterreise aufgrund eines medizinischen Notfalls wird nicht erteilt.
II. Die Soldaten
Der Checkpoint, an dem Atallah an diesem Morgen steht, ist Teil einer knapp 800 Kilometer langen
Seit der Gründung des israelischen Staates im Jahr 1949 hat sich die Kluft zwischen Israelis und Palästinensern aufgetan und
Bei den zahlreichen Grenzübertritten versuche ich immer wieder mit den israelischen Soldaten ins Gespräch zu kommen. Sie sind wortkarg. In einem der kurzen Gespräche sagt einer von ihnen: »Ich kenne die Araber – die sind alle Terroristen. Alle!« Seit dem Jahr 2000 kamen laut Veröffentlichungen von
Unterwegs höre ich von Levi. Er ist Jude und in Tel Aviv aufgewachsen. Levi war 18 Jahre alt, als er zum Militär eingezogen wurde. 3 1/2 Jahre Dienst an seinem Volk waren ganz selbstverständlich. Für ihn genauso wie für seine gleichaltrigen Mitschüler. Heute ist er Mitte zwanzig und hat mehrere Monate Dienst in den besetzten Gebieten geleistet.
Auch Levi, der nicht mit seinem vollen Namen genannt werden möchte, hat das Bild vom mordenden Araber selbstverständlich übernommen.
Als ich ein Kind war, habe ich gerne meine Schwester geärgert und ihr zugerufen: Da hinten kommt der Araber. Sie hat dann geschrien und geweint vor Angst. Ich weiß nicht warum, aber es hat mir gefallen.
Während seines Militärdienstes musste Levi mit ansehen, wie palästinensische Kinder in den besetzten Gebieten gezwungen waren, sich stundenlang in der prallen Sonne aufzuhalten. Ohne Pause und ohne Wasser arbeiteten sie vom frühen Morgen bis in den Abend hinein. Wenn Levi heute davon erzählt, hört man an seiner Stimme, dass er das Gesehene am liebsten vergessen würde. Nach dem Erlebnis weigert sich Levi, weiter Dienst im Westjordanland zu leisten.
»Wer dem jüdischen Volk nicht dient, ist ein Verräter.« – Das denken viele Israelis, für die der Militärdienst eine wichtige Bürgerpflicht darstellt. Levi wurde zu 4 Wochen Militärgefängnis verurteilt, als er sich weigerte, Teil der Besatzung zu sein. Angesprochen, wie er die Zeit erlebt hat, zuckt er hilflos mit den Schultern. Nicht die Wochen im Militärgefängnis waren schwer. Am schwersten war es, die Entscheidung seinen Freunden und seiner Familie mitzuteilen. Seine Stimme wird leise, als er erzählt, wie er lange er mit sich gerungen habe, bevor er es gewagt habe, sich seiner Familie zu offenbaren.
Die Angst vor der Vernichtung sitzt aufgrund des Holocausts (Juden verwenden hierfür lieber den Begriff »Schoah«) tief. Die Familie und die Freunde reagierten mit Unverständnis auf Levis Entscheidung, die Grenzen Israels nicht weiter gegen die Palästinenser zu verteidigen.
An jenem Morgen im September sind es junge Soldaten, wie Levi damals unter 20, die Atallahs Angaben überprüfen.
An jenem Morgen muss ein junger Soldat entscheiden, ob Atallah eine Bedrohung für die Israelis sein könnte. Auch wenn es offiziell nicht bestätigt wird, höre ich mehrfach von Angehörigen des israelischen Militärs, dass eine »Blacklist« geführt wird. Wer politisch auffällig geworden ist, hat es schwer, eine Einreisegenehmigung nach Israel zu bekommen. Das betrifft vor allem Männer im Alter von 18–40
Liegen Informationen gegen Atallah vor, die Anlass geben, ihm die Durchreise zu verweigern? Ist Atallah womöglich ein Terrorist, vor dem sich die Israelis schützen müssen? Hat er deshalb keine Einreisegenehmigung bekommen?
III. Das Beduinendorf
Als Atallah mir seine Geschichte erzählt, ist er bereits in sein Dorf Jabal Al-Baba zurückgekehrt. Insgesamt 5 Stunden war er an jenem Morgen unterwegs, bis er seine Frau letztlich in ein Krankenhaus bringen konnte. Jetzt ist Yosra im Krankenhaus von Ramallah – 2 Autostunden entfernt. Eine Diagnose gibt es noch nicht. Nüchtern und emotionslos zieht Atallah das Resümee nach diesem Morgen: »Eines wissen wir sicher: Wenn einer von uns einen Unfall hat, werden wir sterben. Sie werden uns nicht ins Krankenhaus lassen.«
Warum wurde die Durchreise verweigert? Atallah führt mich durch Jabal Al-Baba und versucht, alles zu erklären.
Die Mauer, die hier willkürlich von den Israelis errichtet wurde, reglementiert das Leben der 40 Familien, die als Teil des Beduinenstammes
In dem staubigen Hügelland stehen weit verstreut ärmlich aufgebaute Baracken. Nur wenige Bäume haben es geschafft, in dem kargen Untergrund Wurzeln zu schlagen. Straßen gibt es nicht. Auch keine Wasserleitung und keine Stromleitung.
Der Druck auf die Region hat jedes Jahr weiter zugenommen. Grund hierfür ist die immense strategische Bedeutung, die diese rund 12 Quadratkilometer große Region für die Israelis hat. 1975 wurde hier mit 23 Familien die Siedlung Ma’ale Adumim gegründet. Heute ist diese auf 35.000 Einwohnern angewachsen und eine der größten Siedlungen im Westjordanland.
Für die Hütten in Atallahs Dorf liegt aufgrund des geplanten Ausbaus der Siedlung seit einigen Jahren ein
Atallah Mazara’a wurde von seiner Gemeinschaft zum Chef gewählt, weil er sich engagiert und friedlich Widerstand leistet. Er hat Presse organisiert.
Währenddessen breitet sich am Horizont die Siedlung Ma’ale Adumim weiter aus. In der drittgrößten israelischen Siedlung mit knapp 40.000 Einwohnern blühen die Vorgärten. Schwimmbäder und künstliche Teiche lassen die Wasserknappheit im wenige Meter entfernten Beduinendorf vergessen.
Durch die finanzielle Unterstützung der israelischen Regierung ist der Wohnraum in den Siedlungen viel günstiger als in den übrigen israelischen Gebieten. Es sind überwiegend junge jüdische Familien, die die vielen ökonomischen Vorteile gern nutzen und die sich entscheiden, in einer sauberen Umgebung zu leben.
Die wenigen Jobs, die den Beduinen aus dem Westjordanland noch ein Einkommen ermöglichen, finden sich im Baugewerbe. Oft müssen die Beduinen mithelfen, Siedlungen auszubauen, die ihnen den eigenen Lebensraum abgraben. Eine teuflische Situation.
Freiwillig verlassen will Atallah sein Dorf nicht. Sein Leben ist politisch geworden. »Dass wir leben, ist unser Widerstand. Wir brauchen keine Waffen – solange wir leben und solange wir atmen, ist das unser Widerstand.«
Während Atallah spricht, baut er die Zelte für das Hochzeitsfest am nächsten Tag auf. Stolz zeigt er auf sie, die aus den traditionellen Stoffen der Beduinen sind. Die Zeit drängt. Stehen die Zelte zu lange, werden sie von den Israelis geräumt. »Wir haben nur die Erlaubnis für eine bestimmte Anzahl von Häusern. Wenn wir die Hochzeitszelte aufbauen, überschreiten wir die Anzahl der genehmigten Gebäude. Dann kommen die Israelis und reißen alles nieder.«
Auch das: illegal. Nicht genehmigt. Eine Hochzeit wird zu einem politischen Akt. Feiern wird aktiver Widerstand. In dieser Nacht ist die festliche Hochzeitsbeleuchtung auch vom nahen Jerusalem aus noch lange zu erkennen.
IV. Jerusalem
Jerusalem – die umkämpfte, die Heilige Stadt. Hier stehen auf wenigen Metern nebeneinander die größten Zeugen der Religionen: der Tempelberg mit
Ich bin mit Eddie verabredet. Der orthodoxe Jude will mich an der Klagemauer treffen und mir sein Jerusalem zeigen. Auf dem Weg zu dem Treffen nehme ich ein Taxi. Der Taxifahrer ist Palästinenser. »Steigen Sie ein, Madame!« Noch bevor ich den Fahrer richtig sehen kann, schlägt mir der aggressive Tonfall seiner Stimme entgegen. Die unerwartet direkte Ansprache lässt keine Zeit für die Überlegung, ob ich das Taxi wechseln sollte. Die Tür ist noch nicht ganz geschlossen, und die Fahrt in Richtung der Jerusalemer Altstadt beginnt genauso turbulent wie das Gespräch. »Sie sind Europäer – ich glaube, Sie sind aus Deutschland.« Da es offensichtlich sinnlos ist, das zu leugnen, überlasse ich es meinem Gesprächspartner, wie er mein kurzes Nicken interpretiert, während wir uns mit hohem Tempo über die Stadtautobahn bewegen.
Die Israelis kamen hierher als Touristen und dann sind sie geblieben. Sie haben uns das Land und das Recht genommen. Sie sollen zurück nach Europa gehen. Sie sollen zurück nach Deutschland gehen. Meine Familie lebt hier seit 1.000 Jahren. Mein Familienstammbaum lässt sich zurückverfolgen. Der Stammbaum der Israelis ist 60 Jahre alt. Was wollen sie hier?
Die Wucht und Unmittelbarkeit seiner Worte hat die Kraft von Gewehrsalven. Eine Frage wage ich noch, bevor ich aussteige: Ob er Israelis kennt und was er von ihnen weiß. Nach einer Pause antwortet er: »Nein, ich kenne keine und will auch nichts von ihnen wissen.«
Vor der Klagemauer steht ein Mann. Mit den Schläfenlocken, der Kippa und ganz in schwarz gekleidet, verschwindet er an diesem Freitag fast in der Masse der Menschen, die sich zum Gebet versammeln. Nur der Adidas-Schriftzug auf seinem T-Shirt unterscheidet Eddie deutlich von seinen Glaubensgenossen. Ich frage mich, welche Rolle westliche Werte in seinem religiösen Leben spielen. Gemeinsam gehen wir durch ein Labyrinth von kleinen und großen Gassen in Richtung Damaskustor.
Hier reiht sich dichtgedrängt ein Laden an den nächsten. Jedes Kellerfenster wird ausgenutzt, um Waren aller Art feilzubieten. Aus einem fahrbaren Untersatz heraus werden uns Falafel angeboten. Der Geruch von Weihrauch und den verlockendsten orientalischen Gewürzen hängt in der Luft und überfordert meine europäische Nase. Ein friedliches Treiben, durch das Eddie und ich uns einen Weg bahnen, während Eddie beteuert, dass er nichts gegen Palästinenser habe. Wirklich nicht. Aber auch hier löst meine Frage, was er denn von den Palästinensern wisse, Unverständnis aus. Das Gespräch stockt. Bis es aus ihm raus platzt:
Eines Tages gehört ganz Jerusalem den Juden. Das ist Gottes Wille. Der einzige Grund, weshalb wir die Araber nicht wegbomben, ist wegen der internationalen Gemeinschaft. Die wollen nicht, dass wir das tun. Trotzdem wird es so kommen.
Während er das sagt, bleiben wir an einem der Souvenirläden stehen. Hinter dem Tresen 2 arabische Händler. Sie halten sich ungewöhnlich ruhig im Hintergrund, solange ich in Begleitung des jüdischen Fremdenführers die Auslage betrachte.
»Eines Tages gehört ganz Jerusalem den Juden.« Während Eddie den Satz langsam wiederholt, überlege ich, ob der arabische Händler hebräisch spricht und die Provokation versteht. Ich glaube, Misstrauen in seinem Blick zu entdecken. Die Idee von einem friedlichen Zusammenleben der Weltreligionen in der Heiligen Stadt scheint mir in diesen Moment in weite Ferne gerückt.
V. Die Ärzte
Es ist Samstagmorgen. Eine Gruppe von 20 jüdischen Ärzten trifft sich in Jerusalem. Sie sind Teil jener linksliberalen israelischen Gruppe, die sich aktiv gegen die Besetzung der palästinensischen Gebiete engagiert. Wie jeden Samstag seit 20 Jahren ist ihr Ziel das Westjordanland, um dort jenen Palästinensern zu helfen, die als der größte Feind Israels gelten: Palästinensische Männer unter 50 – kampfbereit, um gegen die Israelis Waffen zu feuern.
Wenn die israelischen Ärzte der Organisation Physicians for Human Rights Freunden und Verwandten von ihrer Arbeit erzählen, ernten sie oft Unglauben und Angst. Es kommt in der Wahrnehmung zahlreicher Israelis einem Selbstmord gleich, die palästinensischen Gebiete freiwillig zu betreten.
Das Ziel der heutigen Fahrt ist ein Dorf in der Nähe von Bethlehem. Während wir die Stadtgrenze von Jerusalem in Richtung Süden passieren, unterhalten sich die Ärzte, die diese Fahrt seit vielen Jahren machen, entspannt und gelöst.
Ilan Gull ist Gynäkologe und einer der Ärzte, die die Nichtregierungsorganisation vor 20 Jahren gegründet haben. Damals hat er den ersten Dienst im Gazastreifen absolviert. Ruhig erzählt er von den unzähligen palästinensischen Bewohnern des Gazastreifens, denen auf israelischen Befehl hin Arme und Beine gebrochen wurden. Sein Urteil fällt unparteiisch aus:
Wir leben in einem Ort mit 2 Parteien. Beide sagen, dass sie die Opfer sind. Die einen wollen nicht verstoßen werden, die anderen wollen die alten Zeiten zurück. Was beiden gemeinsam ist: Man kann Tausende Menschen töten und sich als Opfer fühlen. Doch alles, was stirbt, ist der Gedanke des Humanismus.
Während der zweistündigen Fahrt hat sich die Landschaft vor dem Fenster gewandelt. Statt der gepflegten Großstadtkulisse passieren wir jetzt Bauruinen, vor denen sich Müllberge sammeln. Die ausgebauten Straßen sind Schotterwegen und Schlaglöchern gewichen. Endlich erreichen wir den Marktplatz von Rakhma. Hier dient heute ein heruntergekommenes Schulgebäude als Arztpraxis. Hunderte Palästinenser haben an diesem Morgen 4 Stunden gewartet, bevor der Bus mit den israelischen Ärzten ankommt. Als wir aussteigen, schlägt uns ohrenbetäubender Lärm entgegen. Kinder rennen auf uns zu, schreien und tanzen um uns herum.
Sogar palästinensische Ärzte kommen nur alle paar Wochen in das Dorf. Ein israelischer Arzt ist hier eine Sensation. Von Misstrauen oder Angst ist auf beiden Seiten keine Spur. Für sie, die israelischen Ärzte, die bestens ausgestattete Praxen gewohnt sind, sind allein die äußeren Umstände eine Herausforderung. Alte Bänke und viel zu kleine Kinderstühle werden zusammengeschoben. Aus dem Rucksack wird eilig das Nötigste herausgeholt: Ein Stethoskop, ein Holzspatel. Das Handy dient als Lichtquelle. 10 Arztpraxen werden so in Windeseile hergerichtet. Die Patienten können kommen. In einem der Klassenzimmer sitzt Oz Bleich, ein junger Arzt aus Tel Aviv. Er schießt Fotos mit dem Smartphone. »Ich mache das für meine Kinder, die glauben mir sonst nicht, wie es hier ausschaut.«
Heute sind es die alten Männer der Beduinengemeinde, die sich das Recht herausnehmen, zuerst bei dem israelischen Arzt vorsprechen zu dürfen. Seit einer halben Stunde sitzt der Chef der Beduinen vor Oz Bleich, ein Dolmetscher übersetzt sein Arabisch ins Hebräische. Nach einer wortreichen Ausführung stellt sich raus: »Die Nasenwände sind trocken.« Der Dolmetscher schaut etwas pikiert in meine Richtung. »Wir versuchen ihm jetzt zu erklären, dass auch unsere Nasenwände in der Wüste trocken sind.«
Das Gespräch dauert noch weitere 10 Minuten. Arzt und Dolmetscher ist anzumerken, dass sie langsam die Geduld verlieren. Draußen auf dem Flur warten Kinder mit schweren Krankheiten. Die jüdisch-israelischen Ärzte sind am Ende der Sprechstunde einig, dass sie alle heute besonders viele sogenannte Social Treatments haben leisten müssen. Das sind jene nur scheinbar sinnlos langen Gespräche, in denen vordergründig keine Krankheiten behandelt werden, sondern nach langen Gesprächen Nasenspray für trockene Nasen ausgegeben wird. Die Sprechstunde von Ilan Gull ist heute noch nicht beendet, als seine Kollegen schon die Taschen in den Bus packen und sich für die Rückfahrt bereitmachen:
Was wir in diesen Sitzungen behandeln, ist die schlimmste Krankheit der israelischen Gesellschaft: das Scheitern der Menschenrechte. Mit dem Maß der Gewalt, die wir der palästinensischen Bevölkerung zugefügt haben, haben wir gleichzeitig ein nie da gewesenes Ausmaß an Gewalt in der israelischen Gesellschaft und den israelischen Familien zugelassen. Zu erleben, dass wir Menschen sind, ist vielleicht die wichtigste Erfahrung, die wir bei diesen Sitzungen machen können.
Mit mehreren Stunden Verspätung macht sich der Bus auf den Rückweg nach Jerusalem. Die Strecke führt durch weit abgelegene Gebiete, in denen sich die Lebensbedingungen immer weiter verschlechtern. Auch hier: Am Rande der blühenden israelischen Siedlungen darben palästinensische Dörfer.
Im Bus herrscht Schweigen. Alle sind erschöpft. Auch erschöpft von der bedrückenden Hoffnungslosigkeit und der Konfrontation mit einem Konflikt, der nicht lösbar ist. Ilan Gull schaut aus dem Fenster, während er stockend spricht.
Ich bin Arzt, ich bin Humanist. Die Menschen, die meine Hilfe suchen und vor mir sitzen, sind alle gleich. Ich sehe, wie ähnlich sich Menschen in ihrem Bedürfnis nach Freiheit und Unversehrtheit sind. Für mich ist es ein unendlicher Schmerz zu sehen, dass Politiker und Religionsführer nicht das sehen können, was ein Arzt sieht: Wir teilen dieselben Bedürfnisse.
Der Bus fährt in Richtung Jerusalem. Als wir uns der Sperranlage nähern, steigt bei allen Beteiligten noch einmal die Anspannung. Der Weg von Israel hinein in das Westjordanland ist meist problemlos möglich. Auf dem Rückweg jedoch müssen sich mitunter auch die israelischen Ärzte einer Kontrolle unterziehen. Heute haben wir Glück. 2 Soldaten besteigen den Bus. Mit einer kurzen Erwiderung, dass alle Anwesenden Israelis seien, geben sie sich zufrieden und winken den Bus durch die Kontrolle. Ilan Gull ist der einzige im Bus, der noch spricht:
Es sind erst die Religion und die Politik, die behaupten, dass ein Mensch mehr wert sei als ein anderer. Von einer Lösung in dem Konflikt sind wir weiter entfernt denn je. Sollen wir unsere Arbeit deshalb aufgeben? Das würde bedeuten, das Scheitern der Menschenrechte zu akzeptieren. Wir müssen die Spannung aushalten und uns fragen, wie wir es lernen können, das Fremde als gleichberechtigt zu akzeptieren.
Die Sonne geht langsam unter, als wir in Jerusalem ankommen. In der Abenddämmerung zeichnet sich die Silhouette der Stadt gegen den dunklen Nachthimmel ab. Beim Aussteigen fällt mein Blick auf eine Zeitungsschlagzeile, die berichtet, dass es im Laufe des Tages neue Anschläge in Jerusalem gegeben habe. Es ist noch ein weiter Weg. Aber nächsten Samstag fährt der Bus der Physicians for Human Rights wieder in das Westjordanland.
Titelbild: David Ehl - copyright