Mit welchen Tricks die News deine Aufmerksamkeit stehlen
Neugier ist menschlich. Sie zu manipulieren ist ein profitables Geschäft. So kannst du dich wehren
Hast du das Gefühl, dass sich jede Woche wie eine neue Krise anfühlt – und das seit Monaten?
Ja, wir auch.
Natürlich leben wir gerade in Zeiten einer globalen Pandemie. Und allein dadurch wird das vergangene Jahr 2020 bei vielen wohl eher übel in Erinnerung bleiben. Auch die ersten Wochen 2021 hielten schon
Das alles sind Fakten, wovor wir die Augen nicht verschließen sollten.
Doch immer häufiger lassen Nachrichten Menschen mit einem anderen Gefühl zurück: Überforderung. Einerseits liegt dies an einer Informationsflut, die kaum noch zu bewältigen ist. Andererseits hat mit den Nachrichten ein permanenter Ausnahmezustand in unseren Köpfen Einzug gehalten. Dabei sollten sie doch eigentlich dabei helfen, die Welt zu ordnen, zu verstehen und am Ende gut informierte Entscheidungen zu treffen …
Doch Nachrichten von heute haben noch ein anderes Ziel. Im Internetzeitalter ringen alle Medien um ein rares Gut der Menschen: ihre Aufmerksamkeit. So ähnelt ein Blick in die Medien dieser Tage eher dem in ein überfülltes Lebensmittelregal, in dem schrille Etiketten mit reißerischen Botschaften miteinander wetteifern: »Brandneu«, »Lebenswichtig für dich«, »Nur wir machen satt«, »Glaub nicht den anderen«. Verständlich, wer da den Überblick verliert oder abstumpft und resigniert.
Neu ist dabei, dass dieses übersättigte, nervöse System nun auf einen echten, globalen Ausnahmezustand trifft – und diesen mit den eigenen Methoden noch verstärkt. Höchste Zeit, das Spiel der Aufmerksamkeitsökonomie zu durchschauen – und sich zu wehren.
Nachrichten packen uns bei unserer Neugier
Menschen sind von Natur aus – wie die meisten Säugetiere auf unserem Planeten – neugierige Geschöpfe. Eigentlich ist das etwas Gutes, denn diese Eigenschaft sichert unser Überleben: Wir müssen entdecken, neue Nahrungsquellen finden, nach Partner:innen suchen. Unsere Neugier kann ein starker Antrieb sein – aber sie kann auch bewirken, dass wir schnell verleitet sind, irrelevante Informationshappen zu konsumieren, sogar wenn uns dieses Verhalten schadet.
Dies ergab ein Experiment aus dem Jahr 2020. Dabei wurden Menschen Kartentricks gezeigt und danach vor die Wahl gestellt, ob sie an einem Glücksspiel teilnehmen wollen oder nicht. Gewannen sie, winkte die Erklärung des Kartentricks als Belohnung. Verloren sie das Glücksspiel, würden sie einen elektrischen Schlag erleiden.
Das Forschungsteam untersuchte dabei die Gehirnaktivität während des Entscheidungsprozesses der Teilnehmenden –
Sehr wahrscheinlich ist die menschliche Neugier angeboren und setzt bereits früh ein. Andere Forschungsteams konnten etwa zeigen, dass schon menschliche Babys –
Was das für uns bedeutet?
Es erklärt, warum wir kaum anders können, als auf Pushnachrichten oder Breaking-News-Schlagzeilen zu reagieren. Umso mehr, wenn diese Impulse von unseren Freund:innen und Bekannten kommen, denen wir sowieso schon vertrauen.
Genau das haben Medienmacher:innen heutzutage verstanden, die inzwischen stark auf soziale Medien und teilbare Inhalte setzen. Sie sind wahre Meister:innen darin geworden, die menschliche Neugier anzustacheln und einzufangen, und zwar folgendermaßen.
Wie deine Aufmerksamkeit gelenkt wird
Der Tag hat 24 Stunden – das wird sich nie ändern. Doch die Angebote, diese Zeit mit Unterhaltung, Ablenkung und Information zu verbringen, wachsen ständig. So entstand in der modernen Welt eine neue, stark begrenzte Ressource, die sich aus der natürlichen Neugier des Menschen speist: Aufmerksamkeit. Kein Wunder, dass darum gekämpft wird, denn sie bedeutet für viele bares Geld. In dieser Verbindung liegt schon das Kernproblem, das den Journalismus heutzutage plagt und bei Konsument:innen am Ende zu Überforderung führt:
Werbung.
Mittlerweile lebt neben Fernsehen und Radio auch nahezu das ganze Internet von Werbeeinahmen. Doch nicht nur Marken oder Großunternehmen sind von Werbung abhängig, sondern auch die Nachrichtenindustrie. Schließlich werden mit Ausnahme der Öffentlich-Rechtlichen und crowdgetragenen Medien wie Perspective Daily oder Krautreporter alle anderen Medien zum Großteil über Werbung finanziert.
Oder um noch deutlicher zu werden: Auch Nachrichtenunternehmen verkaufen deine Aufmerksamkeit an Dritte.
Um unsere Aufmerksamkeit zu ernten, bieten Nachrichten an, unseren Hunger nach Informationen zu stillen. Und dies geschieht immer häufiger durch kleinere Nachrichtenhappen – denn dies hat für die Nachrichtenunternehmen gleich 2 Vorteile:
- Masse macht Kasse: Konsumieren Leser:innen kleinere Snacks statt längerer Artikel, ist das gut für das System. Denn kurze Informationshappen bedeuten eine höhere Frequenz in der Produktion und mehr Artikel pro Woche. So können Werbungen häufiger platziert werden und die Einnahmen steigen. Jeder Klick lässt schließlich die Kasse klingeln.
- Junkfood-News machen abhängig: Kürzere Informationshappen funktionieren wie Junkfood. Sie treffen unser Gehirn ähnlich wie ein köstlicher Schokoriegel, befriedigen gerade so unseren Drang (in diesem Fall Neugier), aber lassen uns mit dem Wunsch nach mehr zurück. Kein Wunder, denn dieses Verlangen nach mehr Informationen lenkt unsere Aufmerksamkeit: Es macht uns noch neugieriger. Und das ist wiederum gut für das System – du ahnst es schon – durch mehr Klicks. Aber es trainiert Leser:innen auch dazu, häufiger und regelmäßiger auf Nachrichtenwebsites zurückzukommen.
Am lukrativsten für Medienmacher:innen ist es, einen beständigen Strom von Nachrichtenhäppchen zu produzieren und damit das Gefühl zu erzeugen, Leser:innen könnten etwas verpassen, wenn sie nicht so regelmäßig oder gar so häufig wie möglich die Inhalte konsumierten.
Dieser Strom muss aus Inhalten bestehen und so gibt es von Zeit zu Zeit bestimmte Themen, worum ein Großteil der Nachrichtenhäppchen kreist (auch »News Cycle« genannt). Zuerst kommen die Berichte, dann die Expert:innen-Einschätzungen, dann die altklugen Kommentare, dann neue Details, dann Ausblicke und die obligatorischen Talkrunden. Und jeder Zwischenschritt wiederholt immer dieselben Fakten, Daten und Begriffe, die in dem Zyklus geprägt wurden.
Nun könnten wir naiv sagen: Ja, das dient dazu, ein möglichst umfassendes Bild eines Ereignisses zu erzeugen. Doch es ist vor allem ein Geschäftsmodell der wieder aufgewärmten Informationen, verpackt in leicht konsumierbare Häppchen – und das hat einen entscheidenden Nebeneffekt: Der ganze Zyklus hält einzelne Themen lange im »öffentlichen Fokus« und macht damit auch Krisen und Katastrophen präsenter. So wirken die international vernetzten Medien auch wie eine Echokammer. Und zwar so lange, bis Menschen das Thema einfach satthaben; wenn die Aufmerksamkeit nachlässt, der »Buzz« schwindet und die Klicks weniger werden.
Und dann? Dann folgt im besten Fall sofort das nächste aufregende Ereignis, das den Zyklus neu startet. Denn die Alternative wäre nur, ihn ansonsten stark zurückzufahren oder zu pausieren – wenig wirtschaftlich in den Augen der Medienhäuser.
Sicherzustellen, dass die Nachrichtenzyklen nahtlos ineinander übergehen, war bisher eine Herausforderung. Denn diese folgen in den letzten Jahren immer schneller aufeinander.
Diese Beschleunigung kann für Leser:innen erschöpfend sein.
Für die Medienhäuser ergibt sich ein anderes Problem: Denn nicht immer ist auf die typischen Aufreger-Garanten wie die Politik auch Verlass, um den Nachrichtenstrom zu füllen. Und so fallen uns immer wieder »Sommerlöcher« auf, wenn der Nachrichtenmaschine echte Inhalte fehlen – Momente des Aufatmens.
Doch mit Corona haben die Medienhäuser ein Dauerbrennerthema gefunden, können einen Nachrichtenzyklus produzieren, der scheinbar nie endet, sondern sich nur verändert – und über das Dauerecho der Medien ständig präsent gehalten wird. Es ist ein Thema, das alle Menschen direkt betrifft. Anders gesagt: Corona ist für die Medien ein wirtschaftlicher Glücksfall.
Für dieses Thema werden allerdings die gleichen Mechaniken verwendet, die für weit weniger dramatische oder globale Ereignisse entworfen wurden, um die Spannung aufrechtzuerhalten. Das Resultat: Die Krise wirkt noch drohender, noch dramatischer und ist ständig präsent.
Auch wir als Journalist:innen müssen uns während der Pandemie die Frage stellen: Hilft unsere Berichterstattung wirklich oder erhöhen wir nur die Angst in einer Ausnahmesituation und schaden damit sogar unseren Leser:innen?
Keine einfache Frage. Denn auch wir kennen die Taktiken der Aufmerksamkeitsökonomie und können uns nicht immer davon freimachen.
Gefühle und Geschichten statt Differenzierung – ein gefährlicher Trend
Ein Blick auf die US-Medien gibt uns einen Einblick, wie die Aufmerksamkeitsökonomie Nachrichten verändert und prägt. Was haben diese Schlagzeilen aus der Woche der Biden-Harris-Vereidigung wohl gemeinsam?
Sie drehen sich nicht um Ereignisse, sondern um Geschichten: Der reuige Athlet, der korrupte Politiker, der Justizminister, der um seinen Ruf ringt. Es ist kein Geheimnis, dass sich spannende Storys und Charakterentwicklungen wie in Filmen einfach besser verkaufen als faktenorientierte Berichte. Wir könnten es »dramatisierte Nachrichten« nennen. Sie sind vergleichbar mit Fotos von Nahrungsmitteln in sozialen Medien: hübsch aufbereitet und in Szene gesetzt, möglichst teilbar im Netz – aber immer auch ein wenig gekünstelt.
Das ist auch eine Antwort der Medien auf das Informationszeitalter: Sie mögen ihre Rolle als Informationsfilter (»Gatekeeper«) verlieren, aber keiner erzählt das Weltgeschehen so spannend wie sie. Das mag tatsächlich Informationsübersättigte dazu verführen, noch einen News-Happen mehr zu nehmen. Doch es bringt im Journalismus ein ganzes Bündel an Problemen mit sich:
- Fokus auf Einzelpersonen: Ereignisse werden selten von einzelnen Personen geformt. Geschichten aber brauchen klare Protagonist:innen. So räumen Nachrichten Einzelnen zu viel Raum ein.
- Stereotype Verzerrung: Geschichten arbeiten mit bestimmten Mustern und Stereotypen: Hoffnungsträger:in, Bösewicht, Antiheld:in, Verräter:in. Es ist zu verlockend, diese Muster zu verwenden, um eine Geschichte spannender zu machen – auch wenn dafür Differenzierungen unter den Tisch fallen.
- Ausfüllen von Leerstellen: Gute Geschichten haben keine Lücken. Damit eine Geschichte rund wird, werden Journalist:innen dazu verführt, diese mit Mutmaßungen und subjektiven Interpretationen zu füllen – statt auch mal zuzugeben, dass manches einfach (noch) nicht sicher ist.
- Bedienen von Emotionen: Erfolgreiche Geschichten wecken Emotionen und bedienen Stimmungen des Publikums. So entstehen Nachrichten, die auf Leser:innen zugeschnitten sind und Weltbilder und gefühlte Wahrheiten eher bestätigen, als sie zu hinterfragen.
Das alles entfernt sich manchmal nicht nur ein Stück weit von der Wahrheit, es spielt bestimmten Tendenzen des Journalismus in die Hände, die seine Glaubwürdigkeit untergraben. Denn wenn Emotionen und eine gute Erzählung wichtiger werden als Differenzierungen und Fakten, droht Journalismus auf lange Sicht ein Stück Glaubwürdigkeit einzubüßen. Und das ist gefährlich, denn längst existiert zu »dramatisierten Nachrichten« eine höchst effektive Konkurrenz, die sich derselben Methoden bedient, diese nur voll aufdreht und damit für Menschen, die Storys über Fakten stellen, noch attraktiver sein kann: Verschwörungsideologien. Auch sie erzählen faszinierende Geschichten, die im Netz viral teilbar sind – nur eben ganz ohne Glaubwürdigkeit.
Sollten wir also auf Nachrichten ganz verzichten? Nein, aber …
Der Ex-Manager und Autor Rolf Dobelli ist einer der bekanntesten Nachrichtenkritiker und Befürworter einer Radikallösung:
Dobellis Argument gegen das Nachrichtenkonsumieren ist im Kern Folgendes:
Aus den geschätzt 10.000 Berichten, die du in den vergangenen 12 Monaten gelesen hast, nenne einen, der – weil du ihn konsumiert hast – dir dabei geholfen hat, eine bessere Entscheidung für eine ernste Fragestellung deines Lebens oder deine Karriere zu treffen. Das ist genau der Punkt: Nachrichten sind irrelevant für dich.
Nachrichten seien nicht bloß ungesundes Junkfood, sondern eher gefährliche »Drogen«, die unser Gehirn umstrukturieren und auf Informationshäppchen in immer höherer Frequenz programmieren.
Doch mit Nachrichten meint Dobelli nicht Journalismus als Ganzes, sondern alle durch die Aufmerksamkeitsökonomie getriebenen Stücke und Artikel, von Breaking News bis Clickbait. Ausdrücklich betont er, dass eine Gesellschaft Journalismus brauche – nur eben in einer anderen Form. Die wichtigsten Geschichten sind jene, da stimmen wir Dobelli von ganzem Herzen zu, die normalerweise nicht auf dem Nachrichtenmenü stehen – transformative Entwicklungen oder tiefe Recherchen, die erst mal wenig spannend daherkommen und vielleicht sogar Mühe beim Lesen machen. Wir konsumieren lieber leckere kleine Snacks, statt uns an das sattmachende, gesunde Gemüse zu machen.
Und was ist stattdessen die Lösung? Mit dem Wissen, dass Aufmerksamkeitsökonomie betrieben wird, besser auswählen, was wir konsumieren. Das Menü streichen und uns selbst aussuchen, was auf unserem Teller landet. Kurz gesagt: Eine bessere
Denn ja, es gibt sie auf jeden Fall, die relevanten Artikel. Um sie aufzuspüren, solltest du dir beim Lesen der Nachrichten immer folgende 3 Fragen stellen:
- Macht das wirklich Appetit? Zu viele Tricks der Aufmerksamkeitsökonomie verführen zum Lesen. Versuche, sie auszublenden und herauszufinden, was bleibt. Klicke und lese nur, wenn der Rest dir wirklich Mehrwert bietet.
- Ist das gehaltvoll für mich? Zu viele Themen betreffen unsere Leben nur ganz am Rand. Oft wollen wir Informationen konsumieren, um »mitreden« zu können. Versuche, die Themen zu finden, die relevant für dich sind, und überprüfe beim Lesen, ob sie halten, was sie versprechen. Schmeckt etwas doch eher fad, lasse es einfach links liegen.
- Probiere ich damit mal Neues aus? In einer immer stärker polarisierten Welt ist es umso wichtiger, die eigene Perspektive zu hinterfragen und über den Tellerrand zu schauen – auch wenn das, was wir sehen, befremdlich oder unangenehm ist. Suche gezielt solche Perspektiven, die dich herausfordern und bereichern.
Mit Illustrationen von Mirella Kahnert für Perspective Daily