Nord Stream 2 erklärt: Was die Pipeline für Europa und das Klima so kritisch macht
Erst verhängen die USA Sanktionen, dann kommen schmutzige Deals der Bundesregierung ans Licht: Auch 2021 macht die deutsch-russische Pipeline Schlagzeilen. Nach diesem Text verstehst du Europas größten Energiekonflikt.
Eine Pipeline bringt Erdgas oder -öl von A nach B. Einfache Sache, könnte man meinen. Doch in der Realität sieht es fast immer anders aus. Wie kompliziert ein so großes Energieprojekt tatsächlich sein kann, zeigt sich wohl nirgends so deutlich wie an der deutsch-russischen Gasader Nord Stream 2.
Gerade in den letzten Wochen haben sich die Schlagzeilen zum umstrittenen Pipelineprojekt wieder gehäuft: Im Dezember 2020 wurde der Bau zunächst wieder aufgenommen, nachdem er rund ein Jahr zuvor aus Angst vor amerikanischen Sanktionen gestoppt worden war. Diese Sanktionen folgten dann auch prompt, im Januar 2021 erklärte die Trump-Regierung eines der russischen Verlegeschiffe zu »blockiertem Eigentum« – auch wenn unklar ist, welche Folgen das hat. Wenige Tage später kritisierte dann der neue US-Präsident Joe Biden Deutschland für den Weiterbau an Nord Stream 2.
Doch was stört nicht nur die US-Amerikaner:innen, sondern auch den Rest Europas so sehr an diesem Projekt? Warum kämpfen Umweltschützer:innen auch kurz vor Fertigstellung noch gegen Nord Stream 2? Und wie geht es jetzt weiter?
Ein Überblick über Deutschlands umstrittenstes Energieprojekt.
Warum gibt es die Pipeline?
Die Nord-Stream-Pipelines sind ein Pipeline-System aus insgesamt 4 Röhren, die Erdgas aus Russland durch die Ostsee nach Deutschland liefern. Die ersten beiden Röhren, bekannt als Nord Stream 1, sind seit 2011 in Betrieb. Die beiden anderen, Nord Stream 2, sind derzeit noch im Bau und stehen kurz vor dem Abschluss. Sie würden die Kapazität nochmals etwa verdoppeln; bei der aktuellen Debatte um einen Baustopp geht es nur um Nord Stream 2.
Für Russland sind die Pipelines außerordentlich wichtig:
Am anderen Ende der Leitung, in Deutschland, soll das Projekt die Energieversorgung sichern – rund 1/4 des
Was sind die größten Kritikpunkte?
Die Bundesregierung hat bei Nord Stream 2 lange versucht, den Ball flach zu halten und wenig Aufsehen zu erregen. Immer wieder haben Regierungsvertreter:innen betont, es handle sich um ein wirtschaftliches Projekt und kein politisches. Doch bei einem so großen und wichtigen geopolitischen Puzzlestück wie einer interkontinentalen Pipeline Wirtschaft und Politik streng trennen zu können, ist natürlich nicht mehr als ein Wunschtraum. Das zeigen auch die 4 größten Kritikpunkte an Nord Stream 2:
Die Pipeline ist unnötig: Der vielleicht empfindlichste Kritikpunkt an der
Doch verschiedene
Es besteht weder kurz- noch langfristig eine Deckungslücke in Deutschland und Europa, die die Inbetriebnahme des Nord-Stream-2-Projekts notwendig macht.
Aus 3 Gründen sei die Gasversorgung Deutschlands und Europas laut DIW gut aufgestellt:
- Europa hat große Erdgas-Speicher, die gut gefüllt sind. 1/4 der europäischen Speicher liegt in Deutschland. Würden plötzlich alle Lieferungen wegbrechen, könnte Deutschland allein mit den aktuellen Reserven 3 Monate lang weiterfeuern.
- In bestehenden Pipelines von Russland nach Deutschland, die durch die Ukraine führen,
- Flüssiggas-Häfen in Belgien und den Niederlanden hätten viele freie Kapazitäten, um Gaslieferungen aus anderen Weltregionen als Russland jederzeit zu erhöhen.
Doch wie geht es weiter: Nimmt der Verbrauch von Erdgas als »Brückentechnologie« in naher Zukunft weiter zu? Die Annahme, der Gasverbrauch könnte aufgrund der Energiewende in den kommenden Jahren noch steigen und die neue Pipeline so nötig machen, ist umstritten. Aufgrund wärmerer Winter und gerade aufgrund der voranschreitenden Energiewende könnte der Bedarf je nach Szenario auch fallen.
Besonders heikel: Im Herbst 2020
Die Pipeline spaltet Europa: Die Bundesregierung betont gerne, Nord Stream sei ein europäisches Projekt. Nur: Außer ihnen sieht das in Europa kaum jemand so.
Der Hauptkritikpunkt: Die durch Nord Stream 2 wachsende Abhängigkeit von Russland laufe den Zielen der europäischen Energieunion zuwider. Damit ist neben dem Klimaschutz vor allem auch gemeint, die Abhängigkeit von einzelnen Lieferanten wie Russland zu senken und die Versorgung auf eine breite Basis zu stellen.
Besonders sauer stößt das Projekt jedoch den Ländern auf, die zwischen Deutschland und Russland liegen: Polen, Belarus und die Ukraine. Durch diese Länder verlaufen die Pipelines, wodurch bisher der Großteil der Gaslieferungen von Russland an Europa fließt. Gerade für die Ukraine sind diese Pipelines enorm wichtig: Sie spülen nicht nur russische und europäische Transitgebühren von mehreren Milliarden Euro im Jahr in die Kassen, sie sind auch eine Art politische Versicherung gegenüber Russland.
Diese Woche
Einerseits sichern die Pipelines den Ländern selbst die Energieversorgung: Russland kann der Ukraine nicht einfach den Gashahn zudrehen, solange die Premiumkundschaft aus Deutschland und der EU an derselben Pipeline hängt. Dass Russland da schnell ernst macht, hat sich etwa im Herbst 2015 gezeigt, als Moskau kurzerhand die Lieferungen an die kleine Nachbarin stoppte und viele Ukrainer:innen kurz vor Winterbeginn plötzlich ohne Heizung dasaßen.
Gleichzeitig zählt die Ukraine darauf, dass die EU im Falle neuer militärischer Konflikte mit Russland sehr viel empfindlicher reagieren dürfte, wenn die europäische Energieversorgung mit auf dem Spiel steht. Mit Nord Stream 2 schwindet die Abhängigkeit Russlands und Europas von der Ukraine-Route – und damit die Sicherheit der Ukraine.
Die USA wollen die Pipeline verhindern: Die USA haben mit dem Pipeline-Deal im Prinzip überhaupt nichts zu tun – und versuchen gerade deshalb, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um das Projekt zu stoppen.
Gegen Ende von Trumps Amtszeit hat die US-Regierung Deutschland deshalb Sanktionen angedroht und Ende Januar, nach Wiederaufnahme des Baus von Nord Stream 2, auch auf den Weg gebracht. Um dem entgegenzuwirken, plante die Bundesregierung im Herbst 2020, die USA mit einem großzügigen Geschenk zu beschwichtigen:
Dass der Import von schmutzigem Fracking-Gas aus den USA mit einer Milliarde Euro unterstützt werden soll, ist ein Skandal. Scholz versucht hier ganz offensichtlich, den USA den Verzicht auf Sanktionen gegen die Mega-Pipeline Nord Stream 2 gegen Cash abzukaufen. Klimaschutz ist für den Vizekanzler offenbar nur ein Lippenbekenntnis, das diesem Doppel-Deal zugunsten der Gaslobby willfährig geopfert wird.
Die Pipeline schadet dem Klima: Neben der Belastung für die betroffenen Ökosysteme, die bei derart großen Infrastrukturprojekten nicht zu verhindern sind –
Erdgas ist ein fossiler Brennstoff, der bei der Verbrennung große Mengen CO2 in die Atmosphäre freigibt. Das Argument der Befürworter:innen: Erdgas ist immer noch wesentlich besser als Stein- oder gar Braunkohle, die in Deutschland und Europa noch immer in großen Mengen verbrannt werden. Erdgas als Brückentechnologie könne helfen, den raschen Übergang hin zu einem klimaneutralen Energiesystem zu stemmen.
2 Aspekte sprechen gegen Erdgas als gutes Werkzeug für den Klimaschutz:
- Mit dem Bau teurer Infrastruktur für fossile Brennstoffe ist deren Nutzung auf Jahre und Jahrzehnte vorprogrammiert, es wird vom sogenannten Lock-in-Effekt gesprochen – wer auf die Bahn umsteigen möchte, kauft sich nicht noch eben ein neues Auto mit Dieselmotor. Die Befürchtung ist also, dass ein Mehr an Erdgas nicht automatisch zu einem Weniger an Kohle führt, sondern vor allem zu einem Mehr an Erdgas. »Jede neue Infrastruktur für Erdgas erhöht das Risiko des sogenannten fossilen Lock-ins, das heißt es wird aufgrund der Trägheit und Pfadabhängigkeit im Energiesystem schwieriger, die bisherige Abhängigkeit von klimaschädlichen fossilen Energieträgern zu verringern.« So heißt es dazu im Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.
- Ein weiteres Problem am Erdgas: Es besteht größtenteils aus Methan, das selbst ein Treibhausgas ist und
Wie geht es nun weiter mit dem Projekt?
In Summe lässt sich an der Sinnhaftigkeit des Projektes zweifeln. Sicher gäbe es viele Möglichkeiten, die hohen Milliardensummen anderweitig sinnvoller zu investieren – so, dass es Deutschland und die EU dem Ziel einer breit aufgestellten, klimafreundlichen Energieversorgung wesentlich näherbringen würden. Doch wahrscheinlich wird Nord Stream 2 bald in Betrieb gehen. Schließlich ist die Pipeline fast fertig gebaut, und die Investoren wollen Rendite sehen.
Neuen Wind in die Sache könnte die Bundestagswahl im Herbst bringen, vor allem wenn es Aktivist:innen, Parteien und Verbänden bis dahin gelingt,
Eine weitere Option brachte derweil die russische Regierung selbst ins Spiel, wohl aus Angst, der europäische Klimaschutz könnte das Geschäft verhageln: Durch Nord Stream 2 könnte künftig nicht nur Erdgas, sondern auch ein Energieträger der Zukunft fließen:
Mit Illustrationen von Mirella Kahnert für Perspective Daily