Packt Informatik in die Schultüte!
Nur Programmierer brauchen Informatik? Stimmt nicht! Wir alle benutzen die Prinzipien im Alltag. Darum sind sie genauso wichtig wie Lesen und Schreiben.
Es ist mitten in der Nacht und Karl kann mal wieder nicht einschlafen. Er greift unter sein Bett und holt ein leeres Blatt Papier hervor. Darauf übt er zu schreiben – immer wieder, aber ohne Erfolg.
Tagsüber ist das anders: Dann ist Karl ein großer Redner. Er spricht Latein wie seine Muttersprache
Unterricht soll junge Menschen auf Jobs vorbereiten, die es jetzt noch nicht gibt, und Technologien benutzen, die noch nicht erfunden wurden, um Probleme zu lösen, die wir jetzt noch nicht erkannt haben.
Einem Kind, das heute geboren wird, könnte es als Erwachsenem ähnlich ergehen wie dem ersten deutschen Kaiser: Es ist umfassend gebildet, spricht mehrere Sprachen fließend, aber es weiß nicht, wie die neuen Technologien, die es jeden Tag benutzt, funktionieren.
Wer im 21. Jahrhundert selbstbestimmt leben will, muss Prinzipien der Informatik kennen – genauso wie Lesen und Schreiben.
Worum es bei Informatik wirklich geht
Wer an Informatik denkt, hat schnell ein Bild im Kopf: Ein junger Mann, der im Dunkeln vor seinem Computer sitzt. Sein Lebensinhalt: Programmieren.
Dieses Bild des
Das Waffelbacken ist kein Einzelfall für Informatik im Alltag, erklärt Jeannette Wing. Sie ist Professorin für Informatik an der Carnegie Mellon University in den USA.
Wenn deine Tochter morgens zur Schule geht, packt sie in ihren Rucksack die Dinge ein, die sie den ganzen Tag über brauchen wird; das ist vorheriges Abrufen von Inhalten und Zwischenspeichern. Wenn dein Sohn seine Handschuhe verliert, schlägst du ihm vor, seine letzten Schritte zu wiederholen; das ist Rückverfolgung. An welchem Punkt entscheidest du dich dafür, dir ein Paar Skier zu kaufen, anstatt sie zu mieten? Das ist ein
Wenn wir Prinzipien der Informatik im Alltag nutzen, spricht Jeannette Wing von
Ein beliebtes Alltags-Beispiel ist der eigene Schreibtisch: Wenn sich darauf mal wieder Briefe, Bücher und Notizblätter stapeln, wird es Zeit aufzuräumen. Besser noch ist es, sich ein System zu überlegen. Alles, was neu ankommt, landet im Eingangskorb, dessen Inhalte du jeden Morgen weiter verteilst. Was heute wichtig ist, landet auf dem Tagesstapel, was du nicht mehr brauchst, wandert in den Müll oder an einen festen Platz, zum Beispiel im Regal. Sobald eine Aufgabe erledigt ist, wandern Unterlagen wieder zurück an Ort und Stelle.
Sieht der Schreibtisch nach einer Weile wieder aus wie vorher, ist das System nicht gut genug – Zeit, es auf Fehler zu prüfen und zu verbessern. Oder beim Kollegen vorbeizuschauen. Vielleicht hat der ein System, das du übernehmen kannst?
Jeannette Wing beschreibt »Computational Thinking« als eine Grundfähigkeit für alle, nicht nur für Informatiker. »Jedes Kind sollte diese analytischen Fähigkeiten erlernen, genauso wie Lesen, Schreiben und Rechnen.« Mit anderen Worten: Informatik gehört zur Allgemeinbildung!
Informatik für alle? Deutschland ist spät dran
Der deutsche Schulalltag sieht allerdings anders aus. Informatik ist nur in
Ist das schlimm? Schließlich wachsen Kinder und Jugendliche mittlerweile mit technischen Systemen auf.
Unsere Gesellschaft befindet sich im Wandel: Ein Großteil unserer Kommunikation findet bereits digital statt und auch unsere Wirtschaft befindet sich mitten in der Transformationsphase von der analogen in die digitale Zeit. Wirtschaftsverbände wie
Dabei geht es nicht darum, sämtliche Kinder und Jugendliche zu IT-Fachkräften zu machen. Wir alle haben eine Idee davon, warum eine Glühbirne leuchtet, obwohl wir keine Physiker sind. Genauso sollten Schüler verstehen, wie Software funktioniert, auch wenn sie keine Informatiker werden.
Geht das nur mit einem eigenen Schulfach?
Kinder und Computer: Kann das (lange) gut gehen?
Die Kritiker haben einige Gegenargumente auf ihrer Liste:
- Die Lehrpläne sind voll! Immer wieder tauchen Vorschläge für neue Schulfächer auf, die dringend unterrichtet werden müssten. Worauf genau soll Schule eigentlich vorbereiten? Und wenn Informatik so wichtig ist, was kürzen wir dafür?
- Kein Geld für moderne Technik! In der Grundschule lässt sich Informatik auch ohne Computer unterrichten – und dann? Deutsche Schulen sind technisch veraltet und generell marode. Ist das Geld für das neue Schuldach oder die Heizung nicht sinnvoller investiert?
- Die hängen eh schon den ganzen Tag vorm Bildschirm! Die
- Wir haben schon genug Medienbildung! Nicht nur
Diese 4 Punkte gelten für alle Schulformen. Die Grundschule bringt noch eine Besonderheit mit sich: Sie ist ein Schutzraum, in dem sich Kinder entwickeln sollen, um elementare Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen zu erlernen. Ilka Hoffmann von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft spricht sich deswegen für eine
Wir haben in unseren Schulen eine relativ stabile Risikogruppe von etwa 15–20%, die im Rechnen, Lesen und Schreiben Probleme und damit Defizite in der Grundbildung hat. Wer die Grundrechenarten nicht beherrscht und nicht sinnerfassend lesen kann, der begreift weder Algorithmen noch kann er einen Computer als Tool sinnvoll nutzen. Deshalb sollte die Grundbildung oberste Priorität vor allem in der Grundschule haben.
NRW geht voran: Pilotprojekt Informatik für Grundschüler
Früh zu beginnen hat aber auch mindestens 2 Vorteile:
- Bildung für alle: Jedes Kind erhält ein Verständnis von den Prinzipien der Informatik – unabhängig von der Schulform.
- Kein Gender Gap: Im Moment besuchen vor allem Jungen den Informatikunterricht. Grundschüler haben noch keine
Zumindest in Nordrhein-Westfalen soll sich das jetzt ändern, damit am Ende der Grundschule jedes Kind Prinzipien der Informatik im Alltag entdecken und anwenden kann. Seit dem Schuljahr 2015/16 läuft ein Modellprojekt an 5 Grundschulen in mehreren Doppelstunden im Sachunterricht der 3. und 4. Klasse. Das Pilotprojekt besteht aus
- Digitale Welt: Die Kinder beschäftigen sich mit den Grundsätzen der
- Wie funktioniert ein Roboter? Die Grundschüler basteln einen kleinen
- Das kannst du nicht lesen! Wie lassen sich Nachrichten verschlüsseln?
Um die Prinzipien der
»Der Computer ist wie ein Fahrrad fürs Gehirn.« – Steve Jobs
Im NRW-Projekt arbeiten die Schüler ohne Computer, sie entdecken die Prinzipien der Informatik spielerisch. Die 3 Module greifen auf die didaktischen Prinzipien des Grundschulunterrichts zurück: Schüler arbeiten mit Beispielen aus ihrer Lebenswelt wie dem Roboter, den viele Kinder als Spielzeug kennen. Indem die Schüler den Papp-Roboter eigenständig über das Papier steuern, werden sie selbst aktiv. Auf dieser praktischen Ebene können Kinder informatische Prinzipien bereits im
»Das erste Feedback zu den 3 Modulen ist positiv«, erklärt Ludger Humbert, Professor für Didaktik der Informatik an der Uni Wuppertal. Wohin das Modellprojekt langfristig führen werde, sei aber unklar.
Die Idee der aktuellen Ministerin ist, dass wir das mit ein paar Kompetenzen untersetzen und es dann in irgendeiner Weise in den Sachunterricht eingegliedert wird. Unsere Befürchtung ist, dass Informatik dann nicht unterrichtet wird. Denn der Aufwand, um sich in diese Welt der Informatik einzufinden und die Sachen verantwortlich im Unterricht umzusetzen und den Kindern nicht nur Arbeitsblätter auszuteilen, setzt voraus, dass die Lehrer vernünftig fortgebildet werden.
Erstklässler am PC im britischen Stil
In Großbritannien gehören diese Fragen der Vergangenheit an. Seit 2014 ist Informatik dort Pflichtfach ab der 1. Klasse. Damit ist das britische Königreich nicht allein:
In den ersten 3 Jahren
Der neue Lehrplan mit dem Fach »Computing« kommt einer kleinen Revolution gleich: Seit den 1990er-Jahren stand
»Es ist eine Art Kultur des Schenkens. Du lernst von anderen die Dinge, die sie gut können.« – Simon Peyton Jones. CAS-Vorsitzender
2007 entstand deswegen eine Graswurzelbewegung aus Lehrern, Universitäten, Unternehmen wie Google und Microsoft und IT-Fachverbänden. »Computing at School« (CAS) verlieh den Unterstützern für ein »echtes« Schulfach Informatik
Das
- Meister-Lehrer: Diese besonders erfahrenen Lehrkräfte (aktuell 400) werden für einen halben Tag pro Woche von der Schule freigestellt. In dieser Zeit erarbeiten sie neue Materialien und bilden andere Lehrer weiter.
- Lokale Anlaufstellen und Regionalzentren: Über das ganze Land verteilt finden sich lokale Anlaufstellen. Dort können sich Lehrer treffen, Ideen austauschen und über ihre Probleme sprechen. Sie stehen in Kontakt mit den 10 Regionalzentren. Diese werden jeweils von einer Universität getragen und bilden die Meister-Lehrer weiter.
- Vorreiterschulen: Diese Schulen haben Computing bereits fest in ihren Lehrplänen verankert. Sie unterstützen Partnerschulen, die sich mit der Umsetzung schwer tun, indem sie gelungene Unterrichtsbeispiele austauschen und zusammen in
Trotz erster Erfolge gibt es noch viel zu tun, betont der CAS-Vorsitzende Simon Peyton Jones.
Die ländlichen Gegenden, die weit von den Universitäten entfernt sind, werden nicht so gut versorgt. Ärmere Gegenden haben es schwerer als Gegenden mit vielen Eltern aus der Mittelschicht, die helfen können. In vielerlei Hinsicht ist das System bisher lückenhaft.
Es bleibt die Frage: Können wir vom britischen System lernen?
Was sich vom britischen Stil übertragen lässt
»Das ist gut für alle Kinder in ihrer Erziehung und übrigens: Das ist auch gut für ihre späteren Jobs und für das Wohlergehen der ganze Nation« – Simon Peyton Jones, CAS-Vorsitzender
Das britische Vorbild zeigt: Veränderungen im Bildungssystem brauchen Zeit, sind aber möglich. CAS ist in Großbritannien deshalb erfolgreich, weil die Organisation es geschafft hat, unter ihrem Banner viele gesellschaftliche Gruppen und Organisationen zu vereinen. Weil sie mit einer Stimme sprachen, hörte auch die Regierung zu. Potenzieller Kandidat in Deutschland: die
Wer Veränderungen in der Schule will, muss auch ein Unterstützersystem für die Lehrkräfte aufbauen. Nur dann werden sie bereit sein, das neue Fach mitzutragen und erfolgreich zu gestalten. Das gilt insbesondere für Grundschulen, wo fachfremde Lehrkräfte Informatik unterrichten (werden).
Auch das britische System hat Probleme, betont Ludger Humbert. Eine Zusammenarbeit mit Unternehmen wie Microsoft sieht er sehr kritisch.
Ich denke nicht, dass man das Firmen überlassen sollte, sondern dass da die Gesellschaft gefordert ist, sich mit Nichtregierungsorganisationen zusammenzutun, die das befördern und sorgfältig darauf achten, dass es kein
Die
Die Prinzipien der Informatik zu verstehen ist wie eine Sprache zu lernen. Es erschließt sich eine neue Welt, die nicht mehr fremd ist, sondern aktiv mitgestaltet werden kann.
Mit Illustrationen von Lukas Oleschinski für Perspective Daily