Deshalb verschwinden in Europa Kinder
Mindestens 10.000 Flüchtlingskinder sollen in Europa spurlos verschollen sein. Was ist mit ihnen passiert? Und was kann die EU beitragen, damit nicht noch mehr Kinder auf der Flucht verschwinden?
»Wäre eines meiner Kinder verschwunden, hätte ich es wohl nie wiedergesehen. Ich kenne genug Geschichten von anderen Flüchtlingsfamilien, die getrennt wurden. Wir hatten einfach Glück«, sagt
Die Familie hat Glück, dass sie noch vollzählig ist. Viele andere wurden auf der Flucht getrennt und haben teils nicht wieder zusammengefunden. In Ungarn wurden die Karimis von den Behörden als Geflüchtete registriert.

Mit einem Eintrag in der ungarischen Kartei wäre die Aufnahme der Familie Karimi in Deutschland kaum möglich gewesen. So kritikwürdig das Vorgehen der ungarischen Behörden auch gewesen ist, die afghanische Familie hat davon profitiert. Und dennoch gab es einen kurzen Zeitraum – nämlich jenen während ihrer Reise von Ungarn über Österreich nach Deutschland – in dem die Karimis in keinem europäischen Land registriert waren. Wäre ein Familienmitglied zu diesem Zeitpunkt verschwunden oder untergetaucht, hätte es kaum eine Möglichkeit gegeben, den Aufenthaltsort zu ermitteln.
Kinder allein auf der Flucht
10.000 geflüchtete Minderjährige, so gab die europäische Polizeibehörde Europol im Januar 2016 an, sollen von ihren Familien getrennt worden sein oder reisten vollkommen allein nach Europa. Tatsächlich könnten jedoch weit mehr Kinder vom Radar verschwunden sein: »Die genannte Zahl war nur ein Beispiel, um auf dieses Problem aufmerksam zu machen und um die verantwortlichen Behörden zum Handeln zu bewegen«, meint ein Sprecher von Europol.
Verschwunden ist nicht gleich verschwunden
Dass die Dunkelziffer weit über dieser Schätzung liegt, verdeutlicht der Blick in einzelne europäische Staaten.
Um die Zahl ins Verhältnis zu setzen:
Die meisten dieser Flüchtlingskinder wollten Verwandte vor Ort aufsuchen oder kamen mit dem Ziel, ihre Familie später nachzuholen. Der
Verschwunden ist nicht gleich verschwunden: Es ist davon auszugehen, dass ein großer Teil bei der Registrierung zwar durchs Raster gefallen ist, aber grundsätzlich wohlbehalten in einem europäischen Staat lebt.
Viele Minderjährige verschwinden auf der Suche nach ihren Familienmitgliedern
Im Sommer 2016 machte
Unabhängig davon, wie viele Kinder lediglich unterhalb des Radars leben oder kriminellen Machenschaften ausgesetzt sind: Sie wiederzufinden, ist eine große Herausforderung, bei der verschiedene Behörden eng zusammenarbeiten müssen. Sie kann jedoch gelingen, wenn gleichzeitig die politischen Rahmenbedingungen angepasst werden. Deshalb geht es in diesem Text vor allem um die Politik, die in Zukunft verhindern soll, dass Kinder in Europa einfach so verschwinden.
Verschwunden ist nicht gleich verschwunden

Es beginnt also mit der Aufarbeitung, wie viele Kinder tatsächlich fehlen. Damit beschäftigt sich auch Stefan Telöken vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Er sagt, die Ermittlungen würden dadurch erschwert, dass die meisten Daten inkonsistent seien. »Es stellt sich oft das Problem, dass die Registrierungsverfahren fehlerhaft sind. Doppelregistrierungen in mehreren Ländern wie im Falle der Familie Karimi sind keine Seltenheit. Auch können manche Betroffene unwillig sein, sich überhaupt registrieren zu lassen. So bleibt es letzten Endes leider unklar, um welche Größenordnung es sich tatsächlich handelt«, so Telöken.
Wenn die Minderjährigen legal weiterreisen dürften, würden weniger von ihnen in die Hände von Schlepperbanden fallen und im Anschluss verschwinden. »Geflüchtete Jugendliche in Griechenland sind gezwungen, sich selbstständig auf den Weg zu machen, weil ihnen keine legale Weiterreise ermöglicht wird«, sagt Tobias Klaus vom BumF. Die Reise zu entfernteren Verwandten in anderen EU-Staaten sei oft unmöglich, bestätigt er:
Die Familienzusammenführung ist mit hohem bürokratischen Aufwand verbunden, sowohl in Europa als auch mit den jeweiligen Botschaften in den Herkunftsländern. So müssen die Jugendlichen unter Umständen lange auf ihre Familien warten. Für diejenigen (minderjährig oder erwachsen), die in überfüllten Camps wie auf der griechischen Insel Lesbos gestrandet sind, gibt es zumindest in der Theorie die sogenannten Umsiedlungsprogramme: Die EU will binnen 2 Jahren
Doch in der Praxis funktioniert auch diese Maßnahme nicht – die EU-Staaten stellen insgesamt zu wenige Plätze bereit, um die Zielvorgabe zu erreichen. Bis Oktober 2016 wurden lediglich knapp 6.000 Geflüchtete umgesiedelt, davon 216 nach Deutschland. Der Grund: Alle Vereinbarungen, die diesbezüglich innerhalb der EU getroffen wurden, beruhen auf freiwilliger Basis. Doch wenn sich kein Land anbietet, (minderjährige) Geflüchtete aufzunehmen, können sie nicht legal weiterreisen.

Schlepper profitieren von EU-Politik
»Die gegenwärtige EU-Politik ist ein Konjunkturprogramm für das innereuropäische Schlepperwesen. Diese Strukturen leben von der Illegalität«, sagt Tobias Klaus vom BumF. »Die Vermisstenzahlen würden sofort rapide nach unten gehen, wenn man Umsiedlungsprogramme für besonders Schutzbedürftige anwenden und effektiv dafür sorgen würde, dass die Jugendlichen sicher bei ihren Angehörigen landen – und zwar mithilfe der EU und ihrer Mitgliedstaaten, anstatt mit jener von Schleppern und Schleusern«, fährt er fort.
In Deutschland werden Geflüchtete, auch minderjährige, weiterhin nach einer Quote, dem sogenannten
»Es gilt, das Kindeswohl in den Mittelpunkt zu stellen«
Um den Weg der Geflüchteten effektiver nachvollziehen zu können, muss ein vernünftiger Datenaustausch stattfinden. Dazu existiert in der EU die sogenannte Eurodac-Datenbank als Instrument des
Kritik entzündet sich auch an der nicht immer konsequenten praktischen Umsetzung weiterer EU-Beschlüsse.
Die EU ist in der Lage, Beamte nach Griechenland zu schicken, um den EU-Türkei-Deal durchzusetzen. Aber sie scheint nicht in der Lage zu sein, Griechenland soweit mit Beamten zu unterstützen, damit das Land in der Lage ist, die notwendigen, legalen Verfahren einzuleiten.
Eine funktionierende Umverteilung, schnelle Familienzusammenführungen und effizienter Datenaustausch – die 3 wichtigsten Maßnahmen, um geflüchtete Kinder in Zukunft nicht vom Radar zu verlieren, verlangen den EU-Staaten Zugeständnisse ab: Eine gemeinsame Flüchtlingspolitik aller 28 (beziehungsweise nach dem Brexit 27) Staaten, die einige auch noch stärker finanziell belasten würde. Danach sieht es zumindest im Wahljahr 2017 nicht aus, in dem sich
Die 3 wichtigsten Maßnahmen: funktionierende Umverteilung, schnelle Familienzusammenführung, effizienter Datenaustausch
Ganz aussichtslos ist die Lage jedoch trotzdem nicht – die Erfassung könnte in näherer Zukunft verbessert werden. Obwohl der politische Grund dafür eigentlich nichts mit dem Zuzug von (minderjährigen) Geflüchteten zu tun hat: Seit dem Anschlag von Berlin wird auch in Deutschland der Ruf nach mehr Überwachung immer lauter. Dazu gehört zudem, Untergetauchte ausfindig zu machen und ordentlich zu registrieren.
Und auch Geflüchtete werden im politischen Berlin vertreten: Organisationen wie zum Beispiel »Pro Asyl« haben sich zu wichtigen Lobbyorganisationen entwickelt, die sich für die Rechte von Geflüchteten einsetzen. Immer wieder wurde deutlich, dass sich durch eine solche Art von Arbeit und Aktionismus, an der sich auch einfache Bürger beteiligen können, politische Entscheidungsträger beeinflussen lassen. Letztendlich könnten davon sogar jene Geflüchteten profitieren, die verschwunden sind.
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