Kann ein Friedensmarsch unpolitisch sein?
Der Weg ist das Ziel: über 3.000 Kilometer von Berlin nach Aleppo. Reichen Europäern und Syrern 3,5 Monate, um zu klären: Muss ein Marsch für Frieden die Kriegstreiber verurteilen?
Teil 1: Ist es Wahnsinn, für Frieden nach Syrien zu laufen?
Eingewickelt in breite Wollschals und die Mützen tief ins Gesicht gezogen, lernen sich vor dem Bahnhof in der brandenburgischen Kleinstadt Mahlow am Morgen des 27. Dezembers 2016 knapp 20 Menschen aus europäischen und arabischen Ländern kennen. Polnisch, Arabisch, Englisch – selten werden hier vor dem altrosa angestrichenen Schaffnerhaus so viele Sprachen auf einmal gesprochen. Trotz des Sturms, der die knorrigen Linden auf dem Bahnhofsvorplatz beugt, und des immer wieder einsetzenden Nieselregens wollen die Versammelten an diesem Tag zusammen 20 Kilometer laufen –
Sie warten hier auf die anderen rund 80 Teilnehmer des
»Lasst uns nicht weiter warten. Lasst uns einfach losgehen und diesen Wahnsinn stoppen.« Diese Aufforderung, den Krieg in Syrien zu beenden, stammt aus dem Manifest der Gruppe und schürt hohe Erwartungen an den Friedensmarsch. Es wäre der erste internationale und bürgerliche Versuch,
Wir wollen uns bewusst nicht politisch positionieren und auch keine Banner von NGOs bei uns tragen. Dieser Marsch soll jedem offenstehen.
Deshalb weht an diesem klirrend kalten Dienstagmorgen nur die weiße Flagge über den Köpfen der Teilnehmer des Friedensmarsches, die aus ihrer Unterkunft für die Nacht, einer Turnhalle in Mahlow, in Richtung Bahnhof laufen. Die Zahl der Teilnehmer ist im Vergleich zum Vortag gesunken: Mit über 300 Menschen war der Marsch in Berlin gestartet, nur knapp 100 werden am 2. Tag mitlaufen.
Auf dem Bahnhofsvorplatz hält die Gruppe an. Anna Alboth begrüßt die neuen und alten Teilnehmer durch ein Megafon: »Ich freue mich, dass ihr alle da seid. Lasst uns loslaufen!« Doch kurz muss die Kolonne noch warten, bis die Begleitfahrzeuge der Polizei mit Blaulicht vorfahren, um den Weg für den Marsch hinaus aus Mahlow abzusichern. »Der Marsch gilt als Demonstration, deshalb kommt die Polizei mit«, erklärt eine der Ordnerinnen in gelber Weste den fragenden Gesichtern der Neuankömmlinge.
Wer läuft für den Frieden in Syrien und warum?
Wer demonstriert hier für den Frieden? »Jeder, der mitläuft, hat wahrscheinlich seine eigene Perspektive auf den Konflikt. Seine eigene Meinung. Der Grundkonsens ist, denke ich, auf das Leid der Zivilbevölkerung aufmerksam zu machen«, sagt Thomas. Der 40-jährige Anwalt war über die Weihnachtsfeiertage in Berlin und hat sich dem Marsch ganz spontan für 3 Tage angeschlossen. Er läuft, die Hände in die Hosentaschen gesteckt, mit großem Rucksack die Landstraße entlang und nickt den Autofahrern dankend zu, die warten, bis der Zug an ihnen vorbeigelaufen ist. Thomas hatte vor dem Krieg in Syrien bei dem Aufbau von Solaranlagen geholfen: »Ich habe einen persönlichen Bezug dazu. Ich war noch nie in
Andere, wie das Paar Paweł (29) und Marysia (31) aus Warschau, waren noch nie in Syrien. In knallig bunten Outdoor-Jacken und schweren Wanderschuhen stapfen sie durch den Regen, der jetzt in langen Fäden fällt. Ihre Motivation, den Friedensmarsch zu unterstützen, ist groß, wie auch für viele andere Polen, die an diesem Tag knapp die Hälfte der Teilnehmer ausmachen. »Wir wollen nicht nur Frieden in Syrien, sondern der Marsch richtet sich auch an unsere Regierung: Sie nimmt kaum syrische Geflüchtete in Polen auf. Wenn unser Staat sich nicht engagieren will, dann müssen wir halt privat aktiv werden«, sagt Paweł, der in Polen bei der Einwanderungsbehörde arbeitet.
»Die Menschen in Polen haben Angst«, wirft Marysia ein, die sich am Anfang des Gesprächs zurückgehalten hat. »Während der letzten Wahlen gab es starke politische Stimmen gegen Geflüchtete, die den Menschen Angst einjagten«. Paweł schüttelt seinen Kopf: »Für konservative Polen ist das ein Dilemma: Die rechtskonservative Regierung will keine Geflüchteten,
Auch die 3 jungen Syrer Muhannad, Allaa und Mohammad planen, ein paar Tage mitzulaufen, weiter kommen sie nicht. »Leider können wir nicht bis in die Türkei mitlaufen, denn unsere Pässe und Ausweise erlauben das nicht«, erklärt Allaa. Dabei kennen er und seine 2 Freunde den Weg, denn sie flüchteten vor über einem Jahr über die Balkanroute nach Deutschland. Das Ankommen fiel ihnen auch nicht leicht: »Als ich nach Deutschland kam, hatte ich sehr
Für mich hat das nichts mit Politik zu tun. Es kommt vom Menschen und dem Herz.«
Wer läuft nicht mehr mit?
Wer für den Frieden marschiert, muss sich auch gegen die Kriegstreiber aussprechen. Das forderten andere Syrer, die den Marsch aufgrund der unpolitischen Haltung der Organisatoren am Morgen in Mahlow wieder verlassen hatten. Bereits am Vortag gab es unter den Teilnehmern heftige Diskussionen. Stein des Anstoßes:
In der Turnhalle von Mahlow beriefen die Teilnehmer des Marsches dann ein Plenum ein, in dem sie über die syrische Revolutionsflagge und weitere politische Standpunkte bis spät in die Nacht diskutierten – die Chance für den Friedensmarsch, von vornherein eine effektive Debattenkultur zu etablieren. »Die Diskussion am Abend war sehr konstruktiv. Uns Organisatoren wurde klar, dass wir nicht so viel über die Flagge und die Revolution wussten, und wir wollten mehr darüber erfahren«, sagt Nathália aus dem polnischen Organisationsteam.
»Wir merkten, hier sind nicht die Leute, die wir normalerweise auf den Demonstrationen sehen. Was gut ist. Gleichzeitig sahen wir aber schon, hier muss es sehr viel Raum für Diskussionen, für Austausch und vor allem fürs Einander-Zuhören geben«, erklärt Ansar, die von Berlin aus bis nach Mahlow mitlief und in der großen Runde für die Revolutionsflagge argumentierte.
Obwohl sich das Plenum schlussendlich für die Flagge im Marsch ausgesprochen hatte, teilte Anna Alboth dem syrischen Aktivisten Anas am nächsten Morgen mit, dass nur die weiße Flagge als Symbol getragen werden solle. Grund hierfür sei das mediale Erscheinungsbild des Friedensmarsches, der politisch keine Partei ergreifen solle.
»Wer Frieden fordert, wird politisch!«
Diese Entscheidung kann Anas bis heute nicht nachvollziehen: »Ich will nicht, dass sich irgendjemand genötigt sieht, die Revolutionsflagge in die Hand zu nehmen oder sich auf eine politische Seite zu schlagen. Aber wir müssen benennen, wer in Syrien tötet. Wer Frieden fordert, wird politisch!« Neben der undemokratischen Entscheidung am Morgen des 27. Dezembers kritisieren die Aktivisten das fehlende Hintergrundwissen der Organisatoren über die syrischen Demonstrationen aus dem Jahr 2011 und die Zustände im Land und dass Alboth das syrische und russische Regime als Täter im Syrienkrieg nicht öffentlich verurteilt.
Darüber hinaus empfinden sie die weiße Flagge nicht als Friedenssymbol, sondern als Zeichen der Kapitulation. In Kriegsgebieten wird die weiße Flagge auch geschwungen, um Verwundete oder Tote aus der Schusslinie zu holen.
Erfahrungswerte sammeln
Selbst das Organisationsteam sei über die Entscheidung, die Flaggen zu verbieten, gespalten gewesen, meint Nathália und übt harte Selbstkritik: »Wir sind noch unerfahren mit dieser Art der Demonstration und dem Prozess basisdemokratischer Entscheidungen. Aber wir lernen dazu.« Um sich neben der Organisation mehr auf die wichtigen inhaltlichen Debatten zu konzentrieren, haben die Veranstalter nun die »March Academy« ins Leben gerufen. Bei Film- und Diskussionsabenden sollen sich die Teilnehmer mit der Situation in Syrien auseinandersetzen.
Thema bei solchen Abenden soll auch der Vorwurf des kolonialen Verhaltens sein, welches schon im Plenum in Mahlow zur Sprache kam. In einem auf Facebook veröffentlichten Statement der ausgeschiedenen Aktivisten wird dieses als
Auf den zivilen Friedensmarsch kommen also noch weitere intensive Diskussionen zu. Nathália fasst den aktuellen Diskussionsstand innerhalb des Organisationsteams zusammen: »Wir wollten den Aktionismus in den Vordergrund stellen, was uns inhaltlich angreifbar und fragil machte. Wir reden immer noch jeden Tag über die Situation in Mahlow. Wir wollen wirklich einen gemeinsamen Nenner finden, denn die Diskussion um die Revolutionsflagge wird uns sicher wieder begegnen.«
Der Friedensmarsch zieht durch Dresden und Heidenau
Der Friedensmarsch zeigt schon so früh nach seinem Auftakt, dass die verschiedenen Perspektiven und Motivationen der Teilnehmer eine große Bereicherung, aber vor allen Dingen eine große Herausforderung sind. Die unpolitische Prämisse des »Civil March for Aleppo« birgt ein starkes Konfliktpotenzial, wenn sie als unantastbarer Status quo gilt. Das hat die Kontroverse um die Flagge offengelegt. Dass die Teilnehmer des Friedensmarsches eigentlich dazu bereit sind, sich politischen Standpunkten zu stellen, und vor Konfrontationen nicht zurückschrecken, haben sie mit ihren
Nun bleibt die Frage offen, ob die Syrien-Aktivisten und Organisatoren des Friedensmarsches über Missverständnisse und Fehler hinwegsehen können, die bereits in den ersten 24 Stunden des gemeinsamen Laufens geschehen sind. Heute wird der Marsch Deutschland über die tschechische Grenze verlassen. Bleiben also immer noch über 3.000 Kilometer, um sich den Herausforderungen zu stellen und die Potenziale eines Friedensmarsches, der viele verschiedene Menschen zusammenbringen soll, zu entfalten.
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