Und in welchem Deutschland lebst du so?
»Deutschland boomt!« – »Wir stehen am Abgrund!« Nach der Zukunft des Standorts Deutschland befragt, könnten die Einschätzungen unterschiedlicher kaum ausfallen. Wer hat recht? Und was können wir daraus lernen?
Horst von Buttlar ist seit 2013 Chefredakteur des Wirtschaftsmagazins »Capital«. Von 2004 bis 2012 arbeitete er bei der »Financial Times Deutschland«. 2011 war er Bucerius Fellow an der Harvard University, wo er zur Bewältigung von Finanzkrisen forschte.
Ein Jahr ist zu Ende gegangen, das bei vielen Jahresendbilanzen nicht gut weggekommen ist, wenn es nicht gleich zum Teufel gewünscht wurde: 2016 war schlimm, das Jahr von Brexit, Trump und Terror. Und für 2017 erwarten nicht wenige Politiker, Experten und Kommentatoren ähnliche Turbulenzen. Im März wählen die Niederlande und Ende April die Franzosen – und in beiden europäischen Kernländern könnten Populisten die großen Gewinner sein. Im Herbst folgen schließlich die Bundestagswahlen in Deutschland, wo schon jetzt die Sorge vor einer starken AfD die Luft zum Knistern bringt.
Wer auf das Jahr 2016 zurückschaut, sieht eine seltsam divergierende, fast schizophrene Entwicklung: Während in unseren Nachbarländern und den USA der Unmut wächst, was sich immer öfter in Protestwahlen und Denkzettel-Referenden entlädt, kann sich unser Land dem großen Unbehagen noch einigermaßen entziehen. Denn die Wirtschaft wächst, den meisten Menschen geht es gut und die AfD ist zwar stark, aber keine Bedrohung. Drei Viertel der Deutschen, so eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Dezember, glauben, dass
Aber immerhin: Das ist jeder Dritte. Und es gibt weitere Umfragen, die dieses gemischte Bild zeigen; während immer mehr Deutsche ihre persönliche Lage und auch das vergangene Jahr positiv bewerten, ist der Zukunftsoptimismus nicht so ausgeprägt wie er sein müsste.
Denn es gibt ja andere Bilder, die von Deutschland gezeichnet werden. Von prominenten Ökonomen wie DIW-Chef Marcel Fratzscher oder dem ifo-Chef Clemens Fuest, von Wirtschaftsverbänden oder dem Sachverständigenrat:
Ich halte diese abweichenden Bilder nicht für abwegig oder überzogen – aber manchmal frage ich mich doch, wie es wirklich um Deutschland steht. Denn bisweilen habe ich den Eindruck, dass Realität und Wahrnehmung immer stärker auseinanderklaffen. Ich möchte deshalb 3 (ökonomische) »Deutschlandbilder«, optimistische, nüchterne und pessimistische, kurz umreißen und im Anschluss eine Synthese versuchen. Verbunden mit einigen Vorschlägen, was in meinen Augen getan werden muss, um Deutschlands Wohlstand zu erhalten.
1. Das blühende Deutschland
Wer immer heute über unser Land klagt, den frage ich gern, in welches Jahr oder Jahrzehnt er denn zurückreisen würde, in dem angeblich alles so viel besser war. Die Zahlen sprechen für sich: Deutschland erlebt, nach der scharfen Rezession 2009, eine Phase beeindruckenden Wohlstands. Wie ein Hochofen, der unter Volllast läuft. Weshalb das Ausland seit einigen Jahren schon anerkennend und fast neidvoll
Das Statistische Bundesamt vermeldet einen Beschäftigungsrekord nach dem anderen, zuletzt waren
In den vergangenen 5 Jahren hat sich die Lage der öffentlichen Finanzen zudem tiefgreifend verändert. Seit 4 Jahren machen Bund, Länder und Gemeinden keine neuen Schulden mehr,
2. Das Deutschland, das Fett ansetzt
Wer ein etwas nüchterneres Bild zeichnen möchte, muss die blühende Seite nicht bestreiten. Die »Schwarze Null«, die niedrige Arbeitslosigkeit, die vollen Kassen. Wer aber mit Skepsis auf diese Zahlen blickt, könnte auch fragen: Tut Deutschland genug, um diesen Wohlstand zu erhalten? Genug, um den Wettbewerbsvorteil zu verteidigen, den es sich mit Gerhard Schröders Agenda 2010 sowie der moderaten Lohnpolitik der Gewerkschaften schmerzhaft erkämpft hat? Denn in jenen Jahren ist die Produktivität der Wirtschaft gestiegen –
Was hat die jetzige Regierung getan? Sie hat keine Wahlversprechen gebrochen, im Gegenteil. Ja, das eigentliche Problem ist, dass die zweite Große Koalition all ihre Wahlversprechen – Rente mit 63, Mütterrente, Mindestlohn – eingelöst hat. Denn diese Einlösung war teuer, vor allem die Rentenreformen,
Man könnte sagen: Einzeln betrachtet sind das gute Anliegen. Man könnte aber auch sagen: Der deutsche Staat ertrinkt in Geld und weiß nicht mehr, wie er es sinnvoll ausgeben kann. Denn die »Schwarze Null«, für die sich Politiker feiern, ist ja keine Leistung des Staates. Dieser hat einfach Jahr für Jahr mehr ausgegeben und wird es weiter tun, von knapp 320 Milliarden Euro im Jahr 2016
Wo ist all dieses Geld?
3. Das bedrohte Deutschland
Man könnte sogar noch etwas düsterer werden. Was, wenn die Zinsen wieder steigen und Finanzminister Wolfgang Schäuble mehr für die Staatsschulden aufwenden muss?
Wenn man diese Fragen durchdekliniert, wird einem bald angst und bange – denn die Euro-Krise ist allenfalls vertagt, verschleppt und verdrängt, aber keineswegs ausgestanden. Griechenland braucht,
Die Liste der internen Baustellen ließe sich beliebig verlängern. Die Großkritik lautet in etwa so: In die Verkehrs-Infrastruktur – wird zu wenig investiert. Der Breitbandausbau – stockt.
Deutschland erlebt demnach eine letzte Scheinblüte und merkt es nicht. Der
Deutschland und seine Zukunft
Dies also sind 3 typische Deutschlandbilder, die ich hier schematisch und etwas vereinfacht skizziert habe. Es gibt natürlich wie bei jedem komplexen Thema weitere Bilder, mit anderen Schattierungen, Nuancen und vor allem anderen Schwerpunkten.
Welches aber kommt der Realität am nächsten, welches ist ein Zerrbild? Ich finde, dass an allen etwas dran ist, ja, dass jede Perspektive sogar etwas Gutes hat, weil sich daraus ein Imperativ ableiten lässt: Wir sollten unser Land nicht grundlos schlecht reden, denn es ist stark, aber wir müssen aufpassen, dass wir den Wohlstand erhalten. Und hier tun wir tatsächlich zu wenig. Was aber sollte man tun?
3 Vorschläge hätte ich (es gibt natürlich viel mehr zu tun):
- Zukunftsfonds statt »Schwarzer Null«
Die Mehreinnahmen des Staates sollen nicht einfach jedes Jahr ausgegeben werden, so wie ein Rennfahrer nach dem Sieg eine Flasche Schampus in alle Richtungen verspritzt. Wenn der Staat durch wachsende Steuereinnahmen in den kommenden Jahren Milliardenbeträge mehr zur Verfügung hat als derzeit, sollte die Regierung einen Plan schmieden: Entweder sie tilgt Schulden oder sie legt das Geld zurück. Da sich der deutsche Staat derzeit fast umsonst verschulden kann, lohnt es kaum, - Eine Steuerreform, die die Mittelschicht entlastet
Der Slogan »Mehr Netto vom Brutto« ist in Deutschland vorbelastet, wenn nicht gar abgenutzt, aber er ist nach wie vor richtig. Die üppige Haushaltslage gibt uns Spielraum, das System zu vereinfachen und den Bürger zu entlasten – ergänzend oder alternativ zu einem Zukunftsfonds. In keinem Fall sollte eine Regierung die Steuern weiter erhöhen. Stattdessen sollten die Freibeträge angehoben und der Verlauf des Steuertarifs abgeflacht werden. Der steile Anstieg im unteren Einkommensbereich (»Mittelstandsbauch«) sollte verschwinden, die Grenze für den Spitzensteuersatz in Höhe von 42%, der ab 53.600 Euro greift, auf 80.000 bis 100.000 Euro angehoben werden. Profitieren würde vor allem die Mittelschicht mit Haushaltseinkommen in Höhe von 40.000 bis 80.000 Euro.
Das würde den Staat Milliarden kosten; aber er kann es sich leisten – und dürfte, wenn die Menschen das Geld ausgeben und investieren, auch wieder höhere Einnahmen haben, etwa über die Mehrwertsteuer. Daneben sollte der Staat mit einem gleitenden Tarif dafür sorgen, dass höhere Löhne, selbst wenn sie nur die Inflation ausgleichen, nicht automatisch höhere Steuern bedeuten (so genannte »kalte Progression«). - Schluss mit dem Investitions-Mythos
Seit einigen Jahren tobt ein Streit in Deutschland, dass der Staat zu wenig investiert, obwohl er in Geld schwimmt. Den Streit hier aufzufächern, würde zu weit führen; Konsens ist, dass
Liegt es vielleicht auch an den fehlenden Kapazitäten, an zu wenig Personal in Behörden, zu hohen Auflagen und fehlenden Bauingenieuren?
Alle diese Fragen sind so umstritten wie die Gründe für die Standortprobleme Ende der 1990er-Jahre – damals gab es Kommissionen, die konkrete Vorschläge machten, um die
Mag sein, dass etwas dabei herauskommt. Statt einfach nur mehr Geld für Brücken und Straßen zu fordern oder neue Kommissionen einzurichten, würde es in einem ersten Schritt schon reichen, nicht durch ständig neue Gesetze und Auflagen – wie etwa das
Und was heißt das nun?
Sollen wir nun optimistisch oder pessimistisch sein? 2 Punkte sind wichtig: Zum einen hat jede Sichtweise auf unser Land ihre Berechtigung, sofern sie nicht einfach nur unproduktiv schwarzmalt und den Untergang herbeischreit. Denn
Ich glaube an die Erneuerungsfähigkeit des Landes, denn wir Deutschen sind im Grunde wie Ingenieure, die ständig an ihrem Standort herumschrauben wie an einer Maschine, die leistungsfähiger werden soll. In vielen von uns wohnt eine produktive Unruhe, die dazu führt, dass Deutschland seine Zukunft eben nicht komplett verschläft.
Titelbild: Florian Wächter / Markus Spiske / NASA - CC BY-SA 3.0