So öffnen sich Unternehmen endlich für Menschen mit Behinderungen
Viele Betriebe beklagen, dass sich bei ihnen keine Menschen mit Behinderungen bewerben. Dabei könnten sie eine ganze Menge dafür tun, damit sich das ändere, sagt Aktivist Raúl Krauthausen.
Den Wunsch, mehr Vielfalt ins Unternehmen zu bringen, kennen wir bei Perspective Daily. Doch was wir auch erkennen mussten: der bloße Wille, Menschen mit Migrationsgeschichte, mehr Frauen oder Menschen mit Behinderung einzustellen, reicht nicht, damit genau das auch passiert. Wir lernen immer noch, wie viele andere Unternehmen auch.
Raúl Krauthausen ist Aktivist und kämpft für die Rechte von Menschen mit Behinderung. Besonders wichtig ist ihm ihre Integration in den Arbeitsmarkt über Behindertenwerkstätten hinaus. Ohnehin sind Unternehmen ab einer bestimmten Größe verpflichtet, Menschen mit Schwerbehinderung einzustellen. Doch das klappt in vielen Betrieben – trotz Strafen – überhaupt
Zukunftsorientiert, verständlich, werbefrei. Dafür stehen wir. Mit Wohlfühl-Nachrichten hat das nichts zu tun. Wir sind davon überzeugt, dass Journalismus etwas bewegen kann, wenn er sowohl Probleme erklärt als auch positive Entwicklungen und Möglichkeiten vorstellt. Wir lösen Probleme besser, wenn wir umfassend informiert und positiv gestimmt sind – und das funktioniert auch in den Medien. Studien haben gezeigt, dass Texte, die verschiedene Lösungen diskutieren, zu mehr Interesse führen, positive Emotionen erzeugen und eine erhöhte Handlungsbereitschaft generieren können. Das ist die Idee unseres Konstruktiven Journalismus.
Mit seinem Projekt JOBinklusive versucht Raúl Krauthausen, das zu ändern. Dafür will er Arbeitgeber:innen und Menschen mit Behinderungen Im Interview erklärt er, wo die Schwierigkeiten und Chancen liegen.
Benjamin Fuchs:
Mit JOBinklusive engagierst du dich dafür, dass mehr Menschen mit Behinderung im regulären Arbeitsmarkt ankommen. Auf welche Probleme stößt du dabei?
Raúl Krauthausen:
In dem Bereich liegt einiges im Argen und daran wollen wir etwas ändern. Ein Großteil der Bevölkerung weiß zum Beispiel gar nicht, dass Menschen, die in Behindertenwerkstätten arbeiten, weniger als den Mindestlohn bekommen. Das ist eigentlich moderne Sklavenarbeit. Es gibt inzwischen viele Großunternehmen und Start-ups, die auf Arbeit in den Werkstätten zurückgreifen, um dort ihre Produkte günstig produzieren zu lassen. Wir wissen, dass Behindertenwerkstätten damit werben, dass sie günstiger sind als andere. Obwohl der Staat wirklich sehr, sehr viel investiert, kommt das Geld am Ende oft nicht bei den Betroffenen an. Das landet dann auch auf den Konten von Wohlfahrtsverbänden.
Was folgt für dich daraus?
Raúl Krauthausen:
Wir haben uns die Frage gestellt: Was müsste denn eigentlich geschehen, damit der gesamte Arbeitsmarkt inklusiver wird, damit behinderte Menschen auch öfter in den üblichen Angestelltenverhältnissen arbeiten. In zahlreichen Gesprächen mit Unternehmen haben die uns gesagt, dass sie gerne behinderte Menschen beschäftigen wollten, sich aber keine bewerben würden. Und das ist ja ein Klassiker. So ähnlich wenn es um Jobs in der Führungsetage geht. Diese Narrative der Verantwortungsvermeidung sind da immer gleich.
Es klingt schnell nach einer Schutzbehauptung.
Raúl Krauthausen:
Absolut. Und wir haben festgestellt, dass die meisten Unternehmen vieles noch gar nicht ausprobiert haben, was sie tun könnten, um inklusiver zu sein. Die Möglichkeiten haben wir in einem Text zusammengetragen. Im Prinzip ist es wie
Wo liegen die Hindernisse, die dafür sorgen, dass Menschen mit Behinderungen und Unternehmen nicht zusammenkommen?
Raúl Krauthausen:
Das Absurde an der Sache ist, dass uns große Firmen und selbst DAX-Unternehmen erzählen, sie würden nicht genug Bewerber:innen finden. Gleichzeitig erzählen uns aber behinderte Menschen, die gut qualifiziert sind, dass sie Da muss ja irgendwo so eine Art Schwarzes Loch sein, wo diese Bewerbungen landen und bei Unternehmen dann nicht wahrgenommen werden. Wir glauben, dass die Hürde schon beim Bewerbungsformular anfängt. Viele Unternehmen bieten nur noch Onlinebewerbungen an. Und wenn das Formular zum Beispiel nicht barrierefrei für blinde Menschen ist, dann scheitern sie schon an dieser Hürde.
Behinderte Menschen haben auch gelernt, dass sie meist ohnehin eine Absage bekommen, deswegen trauen sie sich oft weniger zu. Es entsteht eine Situation, in der man sich nicht begegnet.
Was können Unternehmen konkret tun, um die Begegnung zu ermöglichen?
Raúl Krauthausen:
Wenn Unternehmen ernsthaft Bewerber:innen mit Behinderung suchen, weil sie zum Beispiel eine Quote erfüllen wollen, die sie sich selbst gegeben haben, dann ist es wichtig, mehr zu tun, als in die Stellenausschreibung zu schreiben: »Behinderte Menschen bei gleicher Eignung bevorzugt.« Es ist sinnvoller zu gucken, wo man qualifizierte Bewerber:innen mit Behinderung finden kann. Da gibt es Berufsbildungswerke, die Menschen mit Behinderung ausbilden.
Man sollte auch untersuchen, ob die eigene Website barrierefrei Es geht aber auch um Kommunikation: Inwieweit bilde ich meine Belegschaft auf der Unternehmenswebsite als vielfältig im Sinne der Inklusion behinderter Menschen ab? Fotos aus Datenbanken, die Unternehmen oft verwenden, zeigen keine Immer wieder fällt es mir auf, dass Firmen zum Beispiel ein nichtbehindertes Model in einen Rollstuhl gesetzt haben, um das Thema Vielfalt darzustellen. Das erkennt jeder Mensch, der einen Rollstuhl benutzt, dann natürlich sofort.
Du hast eben auch gesagt, dass ihr mit großen Unternehmen gesprochen habt. Hast du den Eindruck, dass sie Angst vor möglicherweise notwendigen Veränderungen haben, wenn sie Menschen mit Behinderung einstellen? Oder woran kann es liegen?
Raúl Krauthausen:
Also, wir glauben ganz oft, dass Personalabteilungen Berührungsängste mit diesem Thema haben und dann, solange es keine Konsequenzen hat, das Thema einfach bewusst oder unbewusst vermeiden, indem sie behinderte Menschen nicht einladen. Es hilft schon, wenn man Personalabteilungen sensibilisiert über Möglichkeiten, die Unternehmen haben, um zum Beispiel eine Willkommenskultur auch für behinderte Kolleginnen und Kollegen zu schaffen. Das geht von finanziellen Fördermöglichkeiten der Umbaumaßnahmen, die notwendig sind, oder der Anschaffung von Geräten bis hin zur Unterstützung vom Arbeitsamt.
Ich bin durch dich mit dem Begriff des Job-Carvings in Berührung gekommen. Was steckt dahinter?
Raúl Krauthausen:
Unternehmen, die Bedenken haben, behinderte Menschen zu beschäftigen, sagen oft, dass der Arbeitsplatz nicht für jemanden geeignet ist, der, sagen wir mal, im Rollstuhl sitzt, der blind oder gehörlos ist. Beim Job-Carving versucht man einen Job zu kreieren, der für eine bestimmte Person geeignet ist. Nicht als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, sondern es wird geschaut, ob es durch eine neue Verteilung von Aufgaben innerhalb eines Betriebs die Möglichkeit gibt, körperliche Tätigkeiten, die ein Rollstuhlfahrer vielleicht nicht machen kann, jemand anderem zu übergeben. Und dafür übernimmt die Person im Rollstuhl Tätigkeiten, die am Computer gemacht werden können, die sonst jemand anderes gemacht hätte.
Es geht darum, anfallende Jobs neu zu definieren anhand der Fähigkeiten des Menschen, was sowieso immer mehr gemacht wird, auch bei nichtbehinderten Bewerber:innen. Es geht darum, Rücksicht auf die besonderen Talente zu nehmen, die jemand hat. Dass man die Person nicht unbedingt in eine Jobdefinition pressen muss, zu der sie vielleicht nicht ganz 100%ig passt.
In diesem Text bei JOBinklusive findest du 7 Tipps, was Unternehmen tun können, um Bewerber:innen mit Behinderung zu finden und in den Betrieb zu integrieren.
Hier findest du die beiden anderen aktuellen Dailys:
Jeder weiß: Unsere Arbeitswelt verändert sich radikal und rasend schnell. Nicht nur bei uns vor der Haustür, sondern auch anderorts. Wie können wir diese Veränderungen positiv gestalten und welche Anreize braucht es dafür? Genau darum geht es Benjamin, der erst Philosophie und Politikwissenschaft studiert hat, dann mehr als 5 Jahre als Journalist in Brasilien gelebt hat und 2018 zurück nach Deutschland gekommen ist. Es gibt viel zu tun – also: An die Arbeit!