Warum dich Zeitdruck nicht leistungsfähiger macht
Hohes Tempo, strikte Deadlines – erst dann sind wir richtig produktiv. So lautet ein weit verbreitetes Arbeitsverständnis. Doch die Forschung zweifelt daran. Was wirklich hilft, wenn uns die Zeit davonläuft
»Ich spüre in meiner täglichen Arbeit einen wahnsinnigen Zeitdruck. Die To-do-Liste ist länger als schaffbar, ständig kommen neue Aufgaben rein, E-Mails und Telefon lenken ab. Nahezu alles muss gleichzeitig fertig werden. Ich schiebe kreative Aufgaben, die mir eigentlich Spaß machen, auf und arbeite lieber kleinere und weniger komplexe Dinge ab. Dann kann ich schneller etwas von meiner langen To-do-Liste abhaken. Dadurch habe ich das Gefühl zu verlernen, in die Tiefe zu gehen. Einfach weil ich diesen Zustand vermeiden möchte, in dem ich erst mal nicht genau sagen kann, wie das Ergebnis aussieht, und es sich dadurch wie verlorene Zeit anfühlt. Von Anfang an ging mir durch den Kopf: ›Ich bin zu langsam.‹« –
Sarah berichtet hier über ein Gefühl, das viele Beschäftigte teilen. Einige Mitglieder sind
Dabei mag sie ihre Arbeit eigentlich, wie sie später am Telefon erzählt. Sie fühle sich wohl in ihrem Team, finde es auch gut, wenn sie ihre Aufgaben pünktlich abschließt. Gleichzeitig sei da aber dieses ständige Gefühl von Überforderung. Die stetig mitschwingende Erwartung ihrer Vorgesetzten, Aufgaben in so kurzer Zeit wie möglich und trotzdem in bester Qualität zu erledigen. In der PR-Agentur, in der die 32-Jährige seit einem guten Jahr arbeitet, konzipiert sie Kampagnen, sie schreibt Texte für ihre Kundschaft und kümmert sich um Social Media.
Während ihrer Arbeit dokumentiert sie mit einem »Logging-Tool«, wie viel Zeit sie für die verschiedenen Schritte eines Projekts benötigt. Das koste sie viel Zeit und führe zu ständigen Unterbrechungen. »Ich muss mich immer künstlich rausreißen, um die Aufgabe einzutragen. Dazu zählen Kleinigkeiten von 5 Minuten, jedes Telefonat, einfach alles«, berichtet sie. Obwohl sie Spaß an ihrem Job hat, möchte sie so nicht mehr lange arbeiten und sich nach einer neuen Arbeitsstelle umsehen. Die Kosten des ständigen Zeitdrucks sind ihr zu groß geworden.
Dass Sarahs Geschichte kein Einzelfall ist und anhaltender Zeitdruck weder Beschäftigte zufriedenstellt noch zu besseren Ergebnissen führt, zeigt auch aktuelle Forschung.
Im eigenen Rhythmus zu arbeiten ist in vielen Berufen nicht möglich
In Stress zu geraten muss zwar nicht generell problematisch sein. Solange wir ihn als positiv wahrnehmen, kann er uns in bestimmten Situationen sogar zu besseren
Allerdings deutet wenig darauf hin, dass eine Mehrheit der Beschäftigten ihren Arbeitsstress positiv bewertet. Natürlich gibt es immer noch Berufe, in denen Tätigkeiten in einem angemessenen Tempo erledigt werden können. Dafür gibt es schließlich auch gute Gründe: Arbeitsrhythmen sind individuell, Routinen auch. Die meisten Berufstätigen wissen irgendwann selbst am besten, wie eine Arbeit idealerweise zu machen ist. Gerade in einer komplexer werdenden Arbeitswelt sind Aufgaben oft so spezifisch, dass Vorgesetzte und Führungskräfte gar nicht jedes Detail einer Tätigkeit kennen können. Trotzdem sind es häufig sie, die zu wissen glauben, wie etwas am besten geht und wie lange es dauern sollte.
Führungskräfte selbst haben häufig wenig Zeit und viel Stress. In einer
Zeitdruck ist in vielen Branchen strukturell verankert.
Darüber hinaus ist Zeitknappheit strukturell in viele Unternehmen eingewoben. Führungspersonen versuchen deshalb gar nicht erst, ihren Beschäftigten die für sie bestmögliche Arbeitsweise zu ermöglichen. Stattdessen gibt es, wie in Sarahs Fall, konkrete Vorgaben, um das Arbeitsverhalten zu steuern. Mit Tools, Kennziffern und Steuerungsvorgaben versuchen Firmen, mehr und mehr Leistung aus ihren Angestellten herauszuholen.
Ein paar Beispiele: Reinigungskräfte haben 1 Minute und 50 Sekunden Zeit, um eine WC-Anlage mit 2 Toiletten zu reinigen, inklusive Sitzen, Urinalen, Waschbecken und Armaturen. Die Reinigung von Schreibtischoberflächen, Mobiliar und Einrichtung darf in einem 18 Quadratmeter großen Büro 1 Minute und 30 Sekunden dauern. 10 Sekunden bleiben dafür, Spinnweben zu entfernen. Das alles geht aus einer
Zalando geriet zuletzt in die
Kuriere bei Amazon haben nicht einmal Zeit, um auf die Toilette zu gehen.
Das Magazin
Wie stark spüren unsere Mitglieder Zeitdruck in ihren Jobs? Das haben 10 von ihnen anonym auf unseren Aufruf geantwortet:
Die Hälfte der Beschäftigten verzichtet auf Erholungspausen
Zu wenig Zeit haben aber nicht nur Beschäftige in der Reinigungsbranche und
Fast genauso viele Befragte (49%) behaupteten, dass sie Pausen regelmäßig verkürzten oder ganz ausfallen ließen. Und jede:r Vierte gibt an, dass die geforderte Arbeitsmenge nicht in der dafür vorgesehenen Zeit zu bewältigen sei. »Die Arbeitssituation dieser Gruppe ist durch eine systematische Überlastung gekennzeichnet«, heißt es in der DGB-Studie. »Man sucht den Fehler bei sich und sieht nicht, dass Zeitdruck ein Thema ist, das alle beschäftigt«, fasst Sarah diese für sie so wichtige Erkenntnis zusammen.
Andere Untersuchungen kommen zu ähnlichen Ergebnissen.
In manchen Jobs ist klar geregelt, wie lange eine bestimmte Leistung dauern darf – etwa bei den Reinigungskräften: Braucht jemand für eine Toilette 2 Minuten, ist das laut Vorgabe zu lange. Wie hier Druck entsteht, ist klar. Doch auch Jobs, in denen es keine solch strengen Vorgaben für einzelne Aufgaben gibt, sind nicht gegen Zeitdruck immun. Wie ist das möglich?
Astrid Schmidt von der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di weist darauf hin, dass Leistung häufig indirekt gesteuert wird, zum Beispiel durch Projektarbeit, Vertrauensarbeitszeit, variable Vergütungsformen oder Zielvorgaben, die zu einem bestimmten Zeitpunkt erfüllt sein müssten. Dabei seien aber nicht die Vorgaben selbst das Problem. Stattdessen reiche oft die Zeit einfach nicht, um sie zu erfüllen. »Die Arbeitsmenge orientiert sich nicht an dem, was machbar ist, sondern an dem, was finanziell erwünscht ist«, sagt Astrid Schmidt.
»Die Arbeitsmenge orientiert sich nicht an dem, was machbar ist, sondern an dem, was finanziell erwünscht ist.« – Astrid Schmidt, ver.di
Das führe dazu, dass Beschäftigte ganz von selbst ihr Arbeitstempo erhöhen und Multitasking leisten. 60% der Beschäftigten, deren Leistung über Ziele oder Ergebnisse gesteuert wird, berichteten von (sehr) häufiger Arbeitshetze und Zeitdruck, heißt es in einer neuen ver.di-Untersuchung zum Thema Leistungssteuerung, an der Astrid Schmidt mitgearbeitet hat.
Gerade die Personen, die ihr Pensum nicht zu schaffen drohen, gefährden sich selbst. Um den zu hohen Ansprüchen gerecht zu werden, leisten sie regelmäßig unbezahlte Mehrarbeit zu Hause oder im Betrieb, verkürzen Pausen, verzichten auf Urlaubstage und können in ihrer Freizeit nicht abschalten, heißt es in der Untersuchung. Das könne schwere gesundheitliche Folgen haben, sagt Astrid Schmidt. »Der menschliche Körper ist nicht dazu gemacht, permanent am Anschlag zu arbeiten.«
Die Gewerkschaft ver.di fordert daher, dass Beschäftigte viel stärkeren Einfluss auf die Gestaltung ihrer Arbeit nehmen können. Leistungsgrenzen müssten viel stärker berücksichtigt werden. In vielen Branchen benötige es außerdem mehr Personal und eine vorausschauende Personalplanung. Astrid Schmidt betont, dass dort, wo Betriebsräte die Interessen der Belegschaft vertreten, die Arbeitszufriedenheit höher sei. Solche Vertretungen gibt es in vielen Unternehmen aber nicht oder nicht mehr.
»Wer anderen hilft, fühlt weniger Zeitdruck«
Sarah hat eine Weile gebraucht, um zu verstehen, dass die innere Anspannung, die Erschöpfung und auch die Magenschmerzen Folgen des kontinuierlichen Zeitdrucks in ihrem Job sind. Was sie uns schildert, sind tatsächlich sehr typische Reaktionen auf zu viel Zeitdruck bei der Arbeit:
»Ich bin ständig in einem emotional angespannten Zustand. Am Ende des Tages fühlt sich mein Kopf wahnsinnig zerfasert an. Ich zweifle an meinem Verstand, weil ich nicht alles so akkurat im Blick halten kann, wie es von mir verlangt wird. Um alle Aufgaben zu schaffen, verzichte ich zu oft auf eine richtige Pause, bin müde, weil ich vergessen habe, etwas zu trinken. Abends kann ich nicht mehr klar denken und nicht richtig abschalten. Es belastet auch meine Beziehung, mein Partner fürchtet sich fast vor meinen Launen, wenn ich nach Hause komme. Ich habe dann keine Energie mehr, freundlich zu sein, fühle mich aber gleichzeitig zum Heulen und bräuchte Nähe.« – Sarah, Perspective-Daily-Mitglied
Der Organisationspsychologe Roman Briker von der Universität Maastricht hat sich intensiv mit dem Thema beschäftigt. »Wie hastig und wie schnell wir arbeiten, hat große Auswirkungen auf unser psychisches und körperliches Wohlbefinden«, sagt er. Zeitdruck könne sehr negative gesundheitliche Auswirkungen haben, vor allem wenn er konstant über Tage oder sogar Wochen anhält. Das Risiko für Schlafprobleme und Herzerkrankungen steige.
Das liegt nicht nur daran, dass uns der Termindruck selbst stark belastet, sondern dieses gehetzte Arbeiten auch zu ungesundem Verhalten führt. »Zeitdruck führt zu einer Art Tunnelblick. Weil unser Fokus darauf liegt, etwas schnell zu machen, ignorieren wir alles, was drumherum passiert«, erklärt Briker. Betroffene vergessen in der Folge dann etwa, genug zu essen, zu trinken und sie nehmen sich keine Zeit mehr, um mit Kolleg:innen zu sprechen. Dabei würde genau das helfen, besser mit den Belastungen umzugehen, wie auch Sarah aus ihren Erfahrungen berichtet:
»Ich habe festgestellt, wenn ich in den Arbeitsalltag einen Spaziergang integriere, einen netten Austausch mit Kunden und Kollegen habe, dass ich viel entspannter bin, weil mein Kopf dann mal aus der Schleife raus kann. Dann habe ich das Gefühl, wieder von außen auf die Dinge zu schauen und sie nicht mehr zu ernst zu nehmen.« – Sarah, Perspective-Daily-Mitglied
Wer ständig gehetzt ist, läuft auch dauerhaft Gefahr, schlecht für sich zu sorgen.
Zeitdruck mache uns gewissermaßen unsozialer, sagt Briker. Wir konzentrierten uns so auf eine Aufgabe, dass wir weniger sozialen Austausch pflegten. Wir kooperierten weniger, seien nicht hilfsbereit, weniger empathisch und eher bereit, andere zu manipulieren. Dabei sei gerade soziales Verhalten, im positiven Sinne, eine Lösung für empfundenen Zeitdruck. »Wer anderen hilft, fühlt weniger Zeitdruck«, sagt Roman Briker. Er verweist dazu auf eine Untersuchung von Forscher:innen der University of California mit dem schönen Titel
Deadlines machen uns nicht leistungsfähiger. Doch das Wissen,
Titelbild: Adrian Swancar - CC0 1.0