Unser Glaube an den Markt gleicht einer Religion. Zeit, die heilige Kuh zu schlachten
Corona und andere Krisen zeigen: Der Markt richtet es eben nicht. Warum wir trotzdem immer wieder auf dieses Märchen hereinfallen
Ein Mann mit Halbglatze, Brille und Krawatte steht vor der Kamera. Er zieht einen Gegenstand aus der Brusttasche seines Jacketts, anhand dessen er in nicht einmal 10 Minuten erklärt, wie die Welt funktioniert. Seine Worte sind klar und einfach, für jede:n zu verstehen. Die magische Requisite, mit der ihm das gelingt: ein Bleistift.
Seine Geschichte geht so: Kaum ein Gegenstand erscheint auf den ersten Blick so simpel wie ein handelsüblicher Bleistift. Eine dünne Mine aus Grafit, umhüllt von einer dünnen Schicht Holz, etwas Gummi als Radierer dazu – fertig ist das
Doch wenn wir ehrlich sind, wissen wir eigentlich nichts über diesen Bleistift: Woher stammt das Holz? Wer hat es geschlagen und bearbeitet? Wie baut man Grafit ab, wo kommt es überhaupt vor? Vom Gummi ganz zu schweigen …
Fragen wie diese könnten wir uns zu jedem Gegenstand stellen, den wir tagtäglich benutzen. Das tun wir aber nicht – weil wir es nicht müssen. Wir gehen einfach in den nächsten Supermarkt, ziehen unseren Geldbeutel aus der Tasche und kaufen uns einen Bleistift. Problem gelöst, Ende der Geschichte.
Doch hier hört die Geschichte unseres Lehrers nicht auf. Wer hat den Supermarkt gebaut? Den Lkw, der den Stift dorthin gebracht hat? Seine Achsen, seine Bremsen, die Straße, auf der der Lkw fährt, und so weiter. Machen wir uns all das bewusst, bleibt eigentlich nur ein Schluss: Der Bleistift in unseren Händen ist ein Meisterwerk der Kooperation. Ohne die großartigen Leistungen Tausender Menschen könnten wir ihn nicht in Händen halten.
Wir sind Zeug:innen eines Wunders geworden: des Wunders des Marktes.
Die Geschichte Friedmans und gleichgesinnter Ökonom:innen dient bis heute dazu, den Markt als ultimatives Ordnungsprinzip unseres wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens zu legitimieren. Egal ob Gesundheit, Bildung oder Ernährung: Das »Wunder« des Marktes hat inzwischen nahezu alle Lebensbereiche durchdrungen.
Das Versprechen: Die unsichtbare Hand des Marktes sorge auf geniale Weise überall für eine perfekte Balance zwischen Angebot und Nachfrage und segne uns mit den besten, günstigsten und modernsten Produkten und Dienstleistungen.
Doch nicht erst seit der Pandemie wird deutlich, dass etwas nicht so richtig stimmt mit Friedmans Bleistift. In vielen Bereichen greift die unsichtbare Hand regelmäßig daneben: Ökonomisierte Gesundheits- und Pflegesektoren kollabieren,
Trotzdem scheint alles Handeln darauf ausgerichtet zu sein, dass alles wieder so wird wie vor Corona. Vorbei die Zeit, in der Autor:innen wie
Warum ist das so? Warum fällt es uns so schwer, uns ein anderes System vorzustellen?
Der wichtigste Grund dafür könnte sein: Wir sind einer modernen Pseudoreligion verfallen, in der es mehr um Glauben als um Wissen geht.
Warum wir den Markt gar nicht verstehen sollen
Milton Friedman hat natürlich recht: Die meisten von uns wissen nichts über die Herstellung eines Bleistiftes, geschweige denn über die eines Autos oder gar eines Smartphones. Wir wissen nicht einmal sicher,
Doch das »Wunder« des Marktes verbirgt sich heute nicht nur hinter profanen Konsumgütern, es ist auch in unserer Kultur verankert: In der Tagesschau hören wir wie selbstverständlich von den Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, unseren Emissionen, die auf einem Markt für CO2-Zertifikate gehandelt werden, und davon, dass auf dem Gesundheits- und Pflegemarkt privatisierte Krankenhäuser und Altenheime möglichst effizient wirtschaften sollen.
Um diese komplexen Prozesse zu analysieren, stehen Gesundheits-, Arbeitsmarkt- und diverse weitere Ökonom:innen bereit. Allein durch komplizierte mathematische Formeln, Modelle und Berechnungen sei es ihnen möglich, »den Markt« zu verstehen und Prognosen über seine zukünftige Entwicklung abzugeben. Für Lai:innen sei dieses Dickicht nicht zu durchschauen – und genau darin liege auch die Stärke des Marktes. Er beschert uns einen Überfluss von Produkten und Dienstleistungen, deren Entstehung viel zu komplex sei, um sie zu verstehen. Doch dank der wohlwollenden »unsichtbaren Hand« müssen wir uns darüber keine Gedanken machen.
Wer sich angesichts dieses Absolutheitsanspruches nun an eine Zeit vor einigen Jahrhunderten erinnert fühlt, in der geistliche Obrigkeiten ihre Macht über das einfache Volk nach genau dem gleichen Muster legitimierten (und sich dabei einer Sprache bedienten, die außer ihnen niemand verstand, nämlich Latein), ist nicht allein:
Der Neoliberalismus hat aus der Ökonomie eine ›Wissenschaft‹ gemacht, die dir sagt, dass du nichts wissen und stattdessen einfach Vertrauen in blindwirkende Marktkräfte haben sollst. Du sollst glauben, dass hinter Wettbewerb und Preisen ein unsichtbarer Mechanismus steht, der alle Menschen eint und hinter ihrem Rücken vermeintlich Gutes, zumindest aber das Bestmögliche bewirkt. Friedrich August von Hayek, Milton Friedman und andere haben diese Erzählung erschaffen, die man als moderne Religion bezeichnen kann. Denn sie kann ultimativ nur geglaubt werden. Auch die vermeintliche Autorität der Wissenschaft wird am Ende lediglich dazu genutzt, diesen Glauben zu stärken.
Die Arbeit Silja Graupes zeigt beispielhaft, dass immer mehr Ökonom:innen selbst die »reine Lehre« der neoklassischen Theorie anzweifeln und nach neuen Wegen suchen. Graupe ist nämlich nicht nur Ökonomin, sie lehrt auch Philosophie: »Für viele ist Philosophie heute nur noch eine Art Nebenbeschäftigung neben Politik und Ökonomie. Ich mache aber Philosophie, um das Denken in der Ökonomie selbst zu verändern.«
Da sie dieses Ziel aufgrund festgeschriebener Lehrpläne und -inhalte aber nicht an einer etablierten Hochschule umsetzen konnte, gründete sie gemeinsam mit einigen Kolleg:innen eine neue, inzwischen staatlich anerkannte Universität:
Wie festgefahren dieser Bildungsprozess und der daraus resultierende Glaube an die Neoklassik jeweils sind, zeigt sich an deren Krisenresistenz: Weder periodisch wiederkehrende Wirtschaftskrisen noch die zerstörerischen Folgen der Anwendung der Marktlogik auf immer neue Lebensbereiche können ihnen etwas anhaben.
Das lässt sich im Jahr 2021 akut an den Folgen der Coronakrise beobachten: Der ökonomisierte Gesundheits- und Pflegesektor ächzte bereits vor der Pandemie seit Jahren unter
Auftritt Marktlogik: Dieser zufolge müsste die enorme Nachfrage nach Pflegekräften, die das Angebot seit Jahren übersteigt, dafür sorgen, dass das nachgefragte »Gut« Pflege immer teurer wird. Die Löhne sollten steigen, und über diesen »Preis« würde der Markt dafür sorgen, dass mehr Pflegende die Nachfrage befriedigen.
Doch das Gegenteil ist der Fall. Der Markt regelt offensichtlich nicht.
Du sollst keine Götter haben neben dem Markt
Ob Christentum, Judentum, Islam – viele Religionen haben in ihren ursprünglichen Formen einen Absolutheitsanspruch, der in den jeweiligen heiligen Schriften zum Ausdruck kommt. Hierbei geht es darum, letztgültige Aussagen über »die Wahrheit« zu treffen, was durch Sätze wie
In der Sprache neoklassischer Ökonom:innen besteht ein ganz ähnlicher Anspruch. Ein Großteil der Ökonomiestudierenden weltweit kommt um bestimmte Lehrbücher einiger weniger Autoren nicht
Wesentlich aktueller sind die Werke Gregory Mankiws, einem der einflussreichsten Ökonomen unserer Zeit und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Harvard University. Mankiws Lehrbücher »Makroökonomie« und
Ökonomen haben eine einzige Sicht auf die Welt, von der das meiste in ein oder zwei Semestern gelehrt werden kann. Mein Ziel ist es, diese Denkweise einem größtmöglichen Publikum zu vermitteln und den Leser zu überzeugen, dass sie vieles in der Welt erhellt. Ich bin fest davon überzeugt, dass jeder das fundamentale Gedankengut studieren sollte, welches die Wirtschaftswissenschaft bietet.
Die herkömmlichen Lehrbücher für Ökonomie sind also, ähnlich den heiligen Schriften der Weltreligionen, fast überall auf der Welt die gleichen.
Die Folgen dessen sind nicht zu unterschätzen: Als nach der großen Bankenkrise im Jahr 2008 nach den Schuldigen gesucht wurde, war die Antwort für viele schnell gefunden. Die Banker:innen hatten es verbockt und durch ihre Gier das globale Wirtschaftssystem zum Kollabieren gebracht. Dabei hätten sie gar nichts falsch gemacht, argumentiert der tschechische Ökonom und Autor des Bestsellers »Die Ökonomie von Gut und Böse«, Tomáš Sedláček:
Manipulation durch Bildung
Wichtig an dieser Stelle: Es geht nicht darum, die in diesen Büchern vertretenen Aspekte der neoklassischen Ökonomie pauschal als falsch abzutun. Stattdessen soll das Anliegen sein, sich von der Behauptung zu verabschieden, dass es sich dabei um eine Naturwissenschaft handele, in der wir es mit unumstößlichen Naturgesetzen zu tun haben, die sich mathematisch als richtig oder falsch erweisen lassen.
»Die Wirtschaft« gibt es so schlicht nicht. Es gibt Menschen, die wirtschaften – daher ist Ökonomie eine Sozialwissenschaft wie etwa die Soziologie.
Darin konnte sie »explizit Formen der für Studierende unbewusst bleibenden Beeinflussung nachweisen«, etwa durch die Veränderung gedanklicher Deutungsrahmen durch ideologisches und selektives Framing und die Förderung oberflächlicher und unkritischer Informationsverarbeitung.
Hier 2 Beispiele dafür, wie das funktioniert:
- Der Markt wird ohne argumentative Grundlage als vermeintlich perfekt funktionierende »Maschine« dargestellt, die automatisch und regelhaft arbeitet. Gleichzeitig wird so getan, als hätten wir es bei »ihm« mit einem handelnden Menschen zu tun (Personifikation). So heißt es in der aktualisierten Auflage von Samuelsons Lehrbuch (2010): »Und dabei, mitten in all diesem Trubel, lösen die Märkte selbstständig die Probleme des Was, Wie und für Wen. Weil sie einen Ausgleich zwischen allen in der Wirtschaft wirkenden Kräften herstellen, bewirken die Märkte ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage.«
- Beide Lehrbücher bedienen sich vereinfachender Darstellungen der Welt in Schwarz-Weiß-Schemata. So schreibt Mankiw auf der einen Seite positiv über Märkte, Marktwirtschaft, Erfolg und eigenes Wohlergehen, während auf der anderen Seite »Regierung«, »zentralisiertes Planen«, »Kollaps« und »Kommunismus« in negativer Konnotation lauern. Samuelson geht in seinem Lehrbuch noch weiter und nutzt dämonisierendes Vokabular wie zum »tödliche[n] Terror eines Zusammenbruchs«, der dem Marktmechanismus gegenüberstünde.
Studienautorin Silja Graupe erklärt im Gespräch, was die Folgen sind:
Das ist eine Form von Bildung, die einem Hürdenlauf gleicht: Es ist schon zu Anfang klar, was die Menschen am Ende für richtig halten sollen. Die Bildungsaufgaben werden so gestellt, dass die Studierenden so lange über sie hasten müssen, bis am Ziel alle das Gleiche denken. Es sind keine Abzweigungen vorgesehen, die kritisch hinterfragen oder andere Gedankengänge anbieten. Das ist eine Engführung, die im Unbewussten verläuft und mit unheimlichem Druck über Klausuren, Noten und die Autorität der Disziplin erzeugt wird. Mit eigenem Denken hat das rein gar nichts zu tun.
Es ist diese Erkenntnis, die zu unserer einleitenden Frage zurückführt: Warum verändert sich trotz immer neuer Krisen so wenig?
Einer der Gründe ist, dass millionenfach verkaufte Lehrbücher über Jahrzehnte hinweg eine derartige »Engführung« des Denkens vermitteln.
Obwohl er [der Lehrbuchmarkt] eine Disziplin repräsentiert, die Wettbewerb und freie Wahlmöglichkeiten des Einzelnen wertschätzt, ist der Markt für Ökonomielehrbücher ironischerweise seit Langem durch ein Monopol und Homogenität gekennzeichnet.
Glauben ist nicht Wissen
In der Praxis bedürfe es aber idealerweise noch vieler weiterer Perspektiven: »Ein weiterer blinder Fleck in der ökonomischen Lehre ist die Geschichte der Wissenschaft. Wenn ich meinen Studierenden erzähle, was es früher für unterschiedliche Denkschulen in der Ökonomie gab und welche es heute trotz allem Druck nach Konformität neben der Neoklassik dennoch gibt, finden sie manches relevanter und einleuchtender als das, was heute den Mainstream ausmacht«, erzählt Graupe. »Dabei geht es vor allem darum, die wissenschaftliche Motivation wiederzuentdecken, reflektiert, dialogorientiert und sinnhaft zu einer verantwortungsvollen Gestaltung einer ungewissen Welt beitragen zu können.«
Zu den wichtigsten alternativen Herangehensweisen an ökonomische Fragestellungen zählen etwa:
- Verhaltensökonomie: Hier werden Konstellationen untersucht, in denen sich Menschen anders verhalten als ein rein rational handelnder Nutzenmaximierer (der sogenannte »Homo oeconomicus«).
- Neue Wirtschaftssoziologie: Wie der Name vermuten lässt, kommen hier zur Erklärung ökonomischer Phänomene soziologische Analysemethoden zum Einsatz. Es wird grundlegend infrage gestellt, dass Menschen rein nutzenmaximierend handeln.
- Evolutorische Ökonomik: Hier stehen die Rolle und die Begrenztheit von Wissen im wirtschaftlichen Kontext im Mittelpunkt.
- Feministische Ökonomik: Die Kernfrage hier lautet, wie sich Geschlechterverhältnisse und Ökonomie gegenseitig beeinflussen.
- Ökologische Ökonomik: In diesem interdisziplinären Feld geht es um die Erforschung von Handlungsmöglichkeiten angesichts ökologischer Grenzen.
- Postwachstumsökonomie: Kann Ökonomie ohne Wachstum funktionieren? Wenn ja, wie? Hierzu sind bei uns bereits diverse Artikel
Silja Graupe erzählt, dass ihre Studierenden sie oft fragen würden, welcher Theorie am meisten Erklärungskraft innewohne: »Ich antworte dann: ›Entscheidet und begründet selbst!‹ Das bedeutet es, Freiheit im Denken zu geben. Und erst daraus kann die Frage erwachsen, wie Studierende selbst die Zukunft gestalten wollen. All diese Dinge haben in der gängigen Ökonomie keinen Platz.«
Darin dominiert schließlich die Neoklassik als vermeintlich unbestreitbare Lehre. Und niemand, der nicht zu den Gelehrten zählt, die richtige Sprache spricht oder den Absolutheitsanspruch anerkennt, darf sich anmaßen mitzureden.
Doch die Zahl der Befürworter:innen einer Reformation wächst, wenn auch nur in kleinen Schritten. Die Uni Flensburg etwa richtet aktuell eine Juniorprofessur für »Plurale Ökonomik« ein, die an Managementstudiengänge angliedert werden soll. Befürwortet wurde das Ganze vom
Die Verfechter:innen einer neuen, multiperspektivischen Ökonomie scheinen mit ihrem Engagement die Hände an einen elementaren Hebel zu legen – wie
Die Macht abstrakter Ideen beruht in hohem Maße auf eben der Tatsache, dass sie nicht bewusst als Theorien aufgefasst, sondern von den meisten Menschen als unmittelbar einleuchtende Wahrheiten angesehen werden, die als stillschweigend angenommene Voraussetzungen fungieren.
Oder anders gesagt: Der Bleistift ist mächtiger als das Schwert.
Du willst mehr über den Neoliberalismus erfahren? Dann geht es hier zu meiner Artikelserie zum Thema:
Mit Illustrationen von Doğu Kaya für Perspective Daily