Nach diesem Brief verstehst du die dramatischen Bilder aus Indien besser
»Ich weiß, ohne deine Mutter ist das Leben nicht dasselbe«, schreibt unsere Autorin einem trauernden jungen Mann. Wie so viele in Indien hat er einen geliebten Menschen verloren, weil die Regierung versagt.
Lieber Anmol,
Später
Deine
Dein Verlust tut mir so unendlich leid, Anmol. Du und deine Familie habt alles versucht, um ihr Leben zu retten. Doch lasst euch nicht täuschen. Ihr Tod war nicht euer Versagen – versagt hat nur der Staat. Anmol, deine Mutter ist nicht an Corona gestorben. Sie starb, weil sie den Sauerstoff nicht bekam, den sie so dringend zum Weiteratmen benötigt hätte. Dafür ist allein die indische Regierung verantwortlich.
Coronalage in Indien
Am 6. Mai verzeichnete Indien offiziell ca. 414.000 Neuinfektionen mit dem Coronavirus. Seit Pandemiebeginn haben sich in Indien über 22 Millionen Personen mit dem Coronavirus infiziert.
Im Moment ist Sauerstoff das kostbarste Gut in Indien. Jede Minute sterben Hunderte da draußen, weil es weder freie Krankenhausbetten noch verfügbare Sauerstoffflaschen gibt. Sie brechen zu Hause, vor den Krankenhäusern oder auf der Straße zusammen – überall.
Nicht nur Privatpersonen, sogar Krankenhäuser flehen in den sozialen Medien:
#SOS [Uns] geht der Sauerstoff aus. Das Leben der Patienten ist in Gefahr. Wir laufen auf Reserve und warten seit dem Morgen auf Nachschub. Wir haben derzeit einen Aufnahmestopp und bitten um sofortige Hilfe!
12 Patient:innen erstickten am 1. Mai im Batra-Krankenhaus in Delhi. Unter den Toten war ein Arzt, der in eben diesem Krankenhaus Leben gerettet hatte.
Das Leben in Indien ist wie in einem einzigen Horrorfilm. Jede:r kennt wen, die:der an Corona gestorben ist – ein Freund, eine Verwandte, eine Kollegin. Ich weiß von mindestens 5 Menschen aus meinem Umfeld, die die Pandemie nicht überlebt haben. Nichts als Tod, Tod, Tod, überall.
Und dann sind da die Warteschlangen – vor den Testzentren, vor den Krankenhäusern,
Das Feuer in den Krematorien brennt ununterbrochen
Ist der Kampf gegen das Virus erst verloren, stehen die Menschen wieder an,
Anmol, dein Video macht mich rasend vor Wut. Ein ganzes Jahr hatte unsere Regierung Zeit, um sich auf das Schlimmste vorzubereiten, und hat doch kaum einen Finger gerührt. Indien verzeichnete seinen ersten offiziellen Coronafall am 30. Januar 2020. Premierminister Narendra Modi machte international Schlagzeilen, als er dem Land am 24. März desselben Jahres mit nur 4 Stunden Vorlaufzeit einen harten Lockdown verordnete. Am 17. September erreichten wir mit 96.424 Infektionen pro Tag den Höhepunkt der ersten Welle. Bis Februar 2021 sanken die Fallzahlen unter 10.000. Doch seit März befinden wir uns in einem grauenhaften Aufwärtstrend – mit über 400.000 bestätigten Fällen. Täglich.
Damals schrieb Anuradha Sharma ihren ersten Brief aus Indien.
»Indien hat viele Leben gerettet. Wir haben die gesamte Menschheit vor einer großen Tragödie bewahrt«,
Und wo stehen wir heute?
Es ist nicht so, als hätte die indische Regierung nichts von einer zweiten Welle gewusst –
Und wo ist Modi jetzt? Nach seiner Jagd auf Wahlstimmen ist er verstummt. Warum? Wir, das Volk, warten auf eine Erklärung, eine Entschuldigung. In dem Vakuum, das die Regierung hinterlassen hat, werden Fremde zu Retter:innen.
Freiwillige Helfer:innen vor Ort sind rund um die Uhr im Einsatz, um Sauerstoffflaschen zu beschaffen, nachzufüllen und Krankenhausbetten zu organisieren. B.V. Srinivas, der Leiter des indischen Jugendkongresses, war zur Stelle, als die
Wenn der Staat die Augen verschließt, sind es die Menschen selbst, die aktiv werden. Mittlerweile gibt es eine wachsende Zahl
Die sozialen Medien sind Rettungsanker für viele Menschen
Die sozialen Medien werden oft zu Recht kritisiert. Aber heute sind sie die einzige Hoffnung für die Menschen in Indien. Auf Twitter verfolge ich, wie sie gemeinsam trauern, sich unterstützen und einander motivieren.
Diese Solidarität lässt auch mich hoffen, Anmol. Ich weiß, dein Leben ist ohne deine Mutter nicht dasselbe. Aber zusammen können wir Hoffnung schöpfen – hoffen auf ein Indien, das sich um uns sorgt.
In Liebe
Anuradha
Aus dem Englischen übersetzt von Juliane Metzker
Hier findest du die beiden anderen aktuellen Dailys:
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