Was du schon immer über das Kastensystem in Indien wissen wolltest
Unsere Autorin gehört zur obersten indischen Kaste. Was das bedeutet, wird ihr bei einer Berliner Hausparty erst so richtig klar.
»Wie funktioniert eigentlich das Kastensystem in Indien, gibt es das noch?« Plötzlich stand diese Frage im Raum.
Es muss so vor 7 oder 8 Jahren gewesen sein. Mein Partner und ich hatten in unserer Berliner Wohnung indisches Essen für unsere Freunde gekocht. Es war ein schöner Abend. Wir amüsierten uns prächtig – bis zu dieser Frage. Auch wenn sie vielleicht aus reiner Neugier gestellt wurde, empfand ich sie als unaufrichtig. Irgendwie fühlte ich mich in die Ecke gedrängt. Ich schämte mich, über diese dunkle Seite meines Landes sprechen zu müssen.
»Es ähnelt dem Rassismus.« Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich das meinen
»Du bist nicht die richtige Person, um das zu beurteilen.«
Fassen wir zusammen: Es diskutieren 8 weiße Deutsche und 2 Brahmanen aus der höchsten hinduistischen Kaste über Rassismus und Kastendenken. Die Ironie dieses Abends dämmerte mir erst viel später, zurück in Indien. Als ich einmal eine ähnliche Aussage wie die vor meinen Berliner Freunden vor einem indischen Freund traf, der sich in der Thematik weit besser auskannte als ich, rügte mich dieser: »Du bist nicht die richtige Person, um zu beurteilen, ob es das Kastensystem noch gibt oder nicht. Denn du weißt es nicht. Es war niemals dein Problem. Du musstest es nie erleben.«
Ich hatte immer diesen unverdienten Vorteil, der Brahmanenkaste in Indien anzugehören – der obersten Kaste im 4-stufigen System der hinduistischen Gesellschaft. Deshalb bin nicht ich diejenige, die die Diskriminierung für beendet erklären kann, sondern jene Menschen, die seit jeher an den Rand gedrängt werden. Und wer ihren Geschichten aufmerksam zuhört, versteht, dass ihre Realität weit weg vom schwindelerregenden Glamour des US-amerikanischen Silicon Valley stattfindet,

Ein Mordfall spaltet das Land
Aufgewachsen mit einer alleinerziehenden Mutter, die geplagt war von finanziellen Nöten, musste ich schon früh viele Kämpfe bestreiten. Ich bin stolz, diese Herausforderungen gemeistert zu haben. Doch mein Stolz weicht der Angst, wenn ich daran denke, dass mein Leben allein mit einem anderen Nachnamen auch ein ganz anderes hätte sein können. Der Familienname gibt nämlich die Kaste an.
Im September letzten Jahres wurde Indien
Die Männer vergewaltigten und verletzten sie so schwer, dass sie wenige Tage später starb. Vor ihrem Tod versuchte das Opfer selbst 2-mal, den Vorfall bei der Polizei zu melden,
Ihr Familienname war Valmiki. Sie war eine Dalit, ein Mädchen aus der inoffiziell untersten Kaste der sogenannten Unberührbaren. Die Angreifer waren Thakurmänner aus der obersten Kaste. Wäre die Kastenverteilung umgekehrt gewesen – die Geschichte wäre sicher ganz anders verlaufen.
Nach ihrem Tod
Jede Recherche, die ich in den letzten 10 Jahren über Gruppenvergewaltigungen von Dalitfrauen gemacht habe, erzählt das Gleiche, nur Name und Alter sind anders. […] Die Grausamkeit bleibt die gleiche. Die Täter bleiben die gleichen.
Sexualisierte Gewalt und Kastendenken sind
Skalpiert, weil er einen Turban trug
Tagtäglich leiden Dalits unter Gewalt. Besonders dann, wenn sie die gleichen Rechte und Privilegien einfordern, die den oberen Kasten in die Wiege gelegt werden. Ein Dalitmann in Madhya Pradesh wurde mit einem Messer skalpiert,
Nicht nur Vergewaltigungen,

Wie das Kastensystem entstand
Menschen im alten Indien kannten kein
Die Dalits, die »Unberührbaren« oder »Ausgestoßenen«, bildeten die fünfte Kategorie; sie standen außerhalb des Systems und
In den 2 Jahrhunderten, in denen Indien unter englischer Herrschaft stand, blühte das Kastensystem nicht nur auf, sondern wurde in den Händen des Empire perfektioniert. »Wir hatten damals Kasten, aber noch kein ausgefeiltes Kastensystem«, erläutert Sashi Tharoor, der Autor von »An Era of Darkness: The British Empire in India«,
Interessanterweise gibt es im Indischen auch kein Wort, das sich mit »Kaste« übersetzen ließe. Der Begriff lehnt sich ursprünglich an das portugiesische Wort

Das Kastensystem wurde im unabhängigen Indien durch die 1950 in Kraft getretene indische Verfassung verboten. Letztere garantiert allen Bürgern Gleichberechtigung, unabhängig von Geschlecht, Ethnie, Hautfarbe, Kaste oder Religion. Als Zusatzmaßnahme sieht Indien Quoten in Bildung und Beruf für Dalits und Angehörige anderer »niederster« Kasten vor.
Das Kastensystem ist in der indischen Gesellschaft jedoch nach wie vor sehr stark ausgeprägt – es entscheidet darüber, wo Menschen wohnen, wo sie Gottesdienst feiern, wen sie heiraten und welchen sozialen Status und Umgang sie haben. Vor allem in ländlichen Gebieten hat die Kaste einen hohen Stellenwert. Sie ist das »älteste System menschlicher Unterdrückung, Unterwerfung und Erniedrigung«, schreibt Suraj Yengde, Senior Fellow an der Harvard Kennedy School,
Journalisten,
Der Übertritt in eine andere Religion beendet die Kastenzugehörigkeit übrigens nicht. In Kerala gibt es zum Beispiel eigene Kirchen für Dalitchristen,
»Die Dalitgemeinschaft hat zurzeit ihren Harlem-Moment.«
Als Dalit, Forscher und Intellektueller ist Yengde eine eindringliche Stimme im zeitgenössischen Diskurs über die Minderheit. Zusammen mit anderen Dalitpersönlichkeiten wie Chandra Shekhar Azad
Kastendenken erreicht das Silicon Valley
Vor mehr als 100 Jahren warnte B. R. Ambedkar, der als Architekt der indischen Verfassung bekannte Dalitdenker und Reformer, dass das Kastensystem des Landes zu einem globalen Problem werden könnte. »Es ist zwar ein lokales Problem, aber eines, das viel größeres Unheil anrichten kann«, hatte er im Mai 1916 an der Columbia University prophezeit. »Denn solange die Kaste in Indien existiert, werden Hindus kaum nach außen heiraten oder mit Außenstehenden verkehren; wandern Hindus in andere Regionen der Erde aus, wird die indische Kaste zu einem globalen Problem.«
Letztes Jahr beschwerte sich ein Dalit, der bei Cisco Systems in Kalifornien angestellt war,
Die Kastendiskriminierung weist viele Parallelen zu Rassismus auf. Isabel Wilkerson, die Autorin von »Caste: The Lies that Divide Us«,
Wilkerson setzt den Rassismus in den USA mit dem Kastensystem in Indien und dem Antisemitismus in Nazideutschland gleich.
Über Zeit und Kultur hinweg haben sich die Kastensysteme dreier sehr unterschiedlicher Länder hervorgetan, jedes auf seine eigene Weise. Das tragisch schnell aufsteigende, abschreckende und offiziell besiegte Kastensystem von Nazideutschland. Das anhaltende, jahrtausendealte Kastensystem Indiens. Und die sich wandelnde, unausgesprochene, rassenbasierte Kastenpyramide in den USA. Jede Version beruht auf der Stigmatisierung derjenigen, die als minderwertig angesehen werden. Sie rechtfertigt die Entmenschlichung, die notwendig ist, um die Menschen mit dem niedrigsten Status zu unterdrücken und die Maßnahmen dafür zu rationalisieren. Ein Kastensystem hat Bestand, weil es oft als göttlicher Wille gerechtfertigt wird und sich auf einen heiligen Text oder vermeintliche Naturgesetze beruft. Es wird kulturell verstärkt und über Generationen weitergegeben.
Solche Interpretationen helfen, die Dinge ins rechte Licht zu rücken. Dennoch ist das Kastendenken viel komplexer und festgefahrener als hier dargestellt. Es besteht aus so viel mehr Grautönen, die beleuchtet werden müssen. Doch das größere Bild hätte vielleicht meinem deutschen Freund dabei geholfen, besser zu verstehen und weniger indirekt anzuklagen. Statt sich Indien herauszugreifen und mich dazu zu zwingen, es beim Abendessen zu repräsentieren, hätte er das Kastendenken im größeren Kontext weltweiter Diskriminierung begreifen können.
Ausgestattet mit einer »liberalen« Schulbildung in einer christlichen Missionarsschule musste auch ich mir nie Gedanken um Kasten machen – meine Kaste hatte mir alle möglichen Privilegien gegeben. Ich litt nie unter ihr. Wäre ich heute wieder in der Berliner Wohnung an jenem Abend vor 8 Jahren, wäre meine Antwort eine andere: »Wurdest du jemals wegen deiner Hautfarbe diskriminiert? Wurde ich jemals wegen meines Namens benachteiligt? Nein? Dann müssen wir uns über andere Dinge unterhalten als darüber, ob wir glauben, dass Rassismus oder das Kastensystem noch besteht.« Denn unsere Meinung aus unserer privilegierten Position heraus ist hier bedeutungslos. Was wir tun müssen? Zuhören. Denen zuhören, die diese Diskriminierung tatsächlich erfahren haben. Dabei werden wir auch viele Dinge über uns selbst zu hören bekommen und über jene, die so leben dürfen wie wir. Nur so können wir lernen, wie wir wirkliche Veränderung herbeiführen können, die unsere Welt so dringend braucht.
Redaktion und Übersetzung: Juliane Metzker
Mit Illustrationen von Mirella Kahnert für Perspective Daily