»Nichts verschieben, einfach machen!«
Jacqueline Fritz ist Profisportlerin, Filmemacherin, Motivationstrainerin und Beinamputierte. Eine Begegnung mit einer Frau, die sich schon aufgegeben hatte – und heute nicht mehr aufzuhalten ist
Als Jacqueline Fritz an einem Freitagmorgen im Juni 2021 am Wasgaufreibad im Pfälzer Örtchen Hauenstein aus ihrem Auto steigt, strahlt sie. Die Sportbrille lässig über dem buntkarierten Stirnband zurückgeschoben, mit Funktionsshirt und kurzer Wanderhose bekleidet, öffnet sie die Hecktür ihres Kombis und Loui schießt heraus. Der kleine Mischlingshund schnüffelt kurz herum und schlägt sich dann in die Büsche. Jacqueline Fritz übernimmt die Führung: »Loui kommschd, lech dich do her. Pass uf, do fahrn Autos«, ruft sie dem Hund zu. Loui schaut sie an und legt sich hin.
Die Sonne steht an diesem wolkenlosen Morgen noch tief. Es ist kühl, der Wind streicht durch die Kronen der dichten Wälder. Der Parkplatz ist nur vereinzelt belegt. Ein paar Frühaufsteher warten, dass das Freibad aufmacht. In einer kurzen Schlange stehen Menschen mit Mund-Nase-Bedeckungen, Kinder hüpfen erwartungsvoll mit ihren Wasserbällen unter dem Arm von einem Bein aufs andere. Vögel zwitschern, ansonsten ist es ruhig.
»Sie werden schon sehen. Jetzt werde ich Profisportlerin.«
Ein wunderbarer Tag für die Athletin, um auf die Höhen rund um das Dorf Hauenstein in der waldreichen Südwestpfalz zu wandern. Jacqueline nimmt ihre Krücken aus dem Kombi, legt ihren Beinstumpf auf deren Griff ab und greift nach ihrem Rucksack. »Wir gehen erst einmal den kleinen Pfad nach oben und dann haben wir später einen fantastischen Blick über die Südpfalz«, sagt Jacqueline Fritz, die an diesem Tag ihre Geschichte mit mir teilen wird.
Die Gegend, in der wir uns treffen, ist ihr Zuhause. Ganz in der Nähe, in Impflingen, ist sie geboren. Im kleinen Örtchen Birkenhördt lebt Jacqueline Fritz heute. Hier im Freibad ist sie schon als Kind ihre Runden geschwommen. Diese Landschaft ist die Kulisse ihrer Kindheit, ein Teil ihres Erwachsenenlebens und ihrer Gegenwart. Ihre Jugend hingegen war nicht grün wie der Pfälzer Wald, sondern weiß. Krankenhauszimmerweiß.
Aber machen wir uns erst einmal auf den Weg. Loui trödelt ein bisschen am Wegesrand. Jacqueline Fritz geht mit großen Schritten Richtung Berg. »Loui geh vor, laaf vorneweg!« Und schon ist die Ordnung hergestellt, Loui läuft vor ihr und beginnt mit seiner Arbeit. Der 7-jährige Begleithund hat einen anstrengenden Job: Er erspürt potenzielle Gefahren für sein Frauchen und warnt sie bei Bedarf. Stößt er auf dem Weg auf tiefen Sand oder einen ungesicherten Abgrund hinter den Felsen, meldet Loui sich zu Wort.
Alles, was für Jacqueline mit ihren Krücken eine Gefahr darstellen könnte, wird von ihm identifiziert und gemeldet. Währenddessen steigt Jacqueline mit sicherem Tritt über Wurzeln, umrundet Gestein und stützt sich auf ihre Krücken, die die Arbeit ihres rechten Unterschenkels übernehmen. Ihre Arme sind kräftig, unter dem rosa Sportshirt spannt sich die Muskulatur.
»Dann werde ich eben Profisportlerin«
Bei der ersten Rast auf dem Buntsandsteinfelsen mit Blick über die Mittelgebirgslandschaft beginnt sie mit einem Teil ihrer Geschichte. Die heute 36-Jährige ist Kletterin im deutschen Nationalteam
50.000 Höhenmeter auf Krücken
Dabei schien es vor 4 Jahren noch so, als würden ihre sportlichen Ambitionen zerplatzen. Damals, im Jahr 2017, liegt die junge Frau mit einem Bruch im Oberschenkel ihres Beinstumpfes und mit einer gebrochenen Hüfte im Krankenhaus. Gerichtet und mit Metallplatten verschraubt, steht es nicht gut um die Karriere der gerade in den Nationalkader aufgenommenen Paraclimberin. Der behandelnde Arzt sagt ihr: »Sie werden nie wieder Sport machen.« Doch da hat der Mediziner die Rechnung ohne Jacqueline Fritz gemacht. Sie antwortet ihm ruhig und mit der ihr eigenen Überzeugung in der Stimme: »Sie werden schon sehen. Jetzt werde ich Profisportlerin.« In den folgenden Monaten und Jahren konzentriert sie sich voll auf den Bergsport. Heute blickt sie auf 5.000 Kilometer zurück, die sie in den letzten Jahren zu Fuß und auf Krücken in den Bergen unterwegs war. 50.000 Höhenmeter hat sie bei der Besteigung von über 100 Gipfeln gesammelt.
Woher diese Kraft komme, frage ich sie. »Wer Entscheidungen treffen muss, wie ich sie treffen musste – Entscheidungen, ob ich lebe oder sterbe, der entwickelt Power, oder er geht unter.« Jacqueline Fritz hat sich fürs Leben entschieden. Schlussendlich.
Ein paar Jahre zuvor sah das noch ganz anders aus.
Wohnort: Krankenhaus
Im Alter von 15 Jahren tanzt Jacqueline Fritz leidenschaftlich Ballett auf ihren 2 gesunden Beinen. Damals schon lebt sie für ihren Sport: 5-mal die Woche Training in der Leistungsgruppe. Und dann der Unfall: »Ich bin beim Training umgeknickt. Nichts Spektakuläres, bloß ein Sportunfall, wie unzählige andere Tag für Tag passieren.« Die Diagnose lautete Bänderriss, dessen Behandlung eigentlich Alltag in der Sportchirurgie ist.
Im Laufe der nächsten Jahre geht es für sie ums Überleben.
Es schließt sich eine Standardoperation an, bei der der Operateur aber größtmöglichen Schaden anrichtet. Er durchtrennt Sehnen und Bänder im rechten Bein der talentierten Heranwachsenden und der Albtraum beginnt. Der Fuß steht schief, Jacqueline kann nicht mehr auftreten und hat fortan starke Schmerzen. Im Laufe der nächsten Jahre geht es für sie ums Überleben. Ihr Zustand verschlechtert sich fortwährend. Das Bein entzündet sich, Schmerzen gehören nun zu ihrem Leben dazu, genauso wie Morphine, die eben diese Schmerzen lindern.
Die Wohnadresse von Jacqueline Fritz heißt ab diesem 24. April 2001 nicht mehr Birkenhördt. In den folgenden 2.920 Tagen lautet sie Station X, Krankenhaus
An einem der vielen Wendepunkte in ihrem Leben entschließt sich Jacqueline Fritz dann doch für die Amputation. Mittlerweile ist sie näher am Tod als am Leben; die Entzündung so fortgeschritten, dass der ganze Körper geschwächt ist. Eine Amputation ist zu diesem Zeitpunkt schon so gefährlich, dass es selbst die besten Fachleute aus der Chirurgie nicht wagen, den Eingriff durchzuführen.
»Ich suchte jemanden, der sich traut, mein Bein zu amputieren.« – Jacqueline Fritz
Jacqueline Fritz nimmt die Sache auf ihre Art in die Hand. Sie besucht einen Chirurgiekongress in Baden-Baden, schleppt sich auf das Podium und spricht ihre Botschaft laut und deutlich in das Auditorium: »Ich suche jemanden, der sich traut, mein Bein zu amputieren. Bei der Amputation werde ich vielleicht sterben. Ohne sie definitiv.« Sie wird von der Bühne geführt, die Gäste sollen sich auf ihr gebuchtes Programm konzentrieren dürfen.
Nach ihrem unfreiwilligen Abgang kommt einer der Chirurgen zu ihr ins Foyer. Er schlägt vor, sich die Sache gemeinsam mit seinen besten Kollegen anzuschauen. Erst dann könne er ihr zu ihrem Wunsch eine Antwort geben. Dazu kommt es dann wenig später tatsächlich. Die Koryphäen untersuchen Jacqueline Fritz, und schließlich lässt sich ein Jenaer Professor auf das Wagnis ein. Doch kurz vor dem Operationstermin bricht er sich den Daumen. Ein Kollege aus Ulm übernimmt. Die Ungewissheit für Jacqueline Fritz wächst. Doch am Ende verläuft alles nach Plan: Das Bein wird amputiert und als Beweisstück in Formaldehyd eingelegt. Wir schreiben das Jahr 2009, Jacqueline ist 24 Jahre alt.
»Meine Freundinnen und Freunde haben mir das Leben gerettet«
Doch schon 3 Monate vor der Operation bahnt sich eine Verwandlung an. Ihre besten Freundinnen und Freunde haben eine symbolische Bestattung ihres Beines organisiert. Während ein Foto des Beines in Flammen aufgeht, lesen ihre Freunde Wünsche von vorbereiteten Zetteln ab. Sie schauen der Freundin in die Augen, sprechen seinen oder ihren Wunsch und werfen ihn zu dem rituell im Feuer verbrennenden Symbol. »Ich wünsche Dir ein langes glückliches Leben«, steht auf einem dieser Zettel. »Ich wünsche mir für Dich, dass Du endlich ein Leben ohne Schmerzen und Krankenhaus vor Dir hast.«
Diese Situation habe Jacqueline Fritz noch heute, rund 12 Jahre später, glasklar vor Augen, erzählt sie. Vor ein paar Wochen saß sie mit ihrer besten Freundin bei einem Glas Prosecco zusammen und hat über diesen Moment gesprochen.
Alle wussten von meinem Vorhaben, kannten den Baum, den ich mir für meinen Abgang ausgesucht hatte. Aber wie sollte ich das durchziehen, nachdem ich allen in die Augen geschaut und gesehen hatte, was ich ihnen bedeute? Meine Freundinnen und Freunde haben mir das Leben gerettet.
Auf die OP folgt ein Jahr, von dem sie sagt: »Ich habe es voll krass mit dem Morphin übertrieben.« Durch die jahrelang verabreichten Schmerzmittel habe sie sich an das wohlig taube Gefühl gewöhnt, das sie einlullt und vor zu viel Realität bewahrt. Irgendwann aber beginnt sie, ihre Situation zu akzeptieren. Jacqueline Fritz geht in eine Entzugsklinik und weiß nun endlich, was sie will: ein ganz normales Leben. Sie zieht bei ihren Eltern aus, setzt das Grafikdesignstudium fort, das sie im ersten Krankenhausjahr im Alter von 16 Jahren begonnen hatte und das wegen des Daueraufenthalts im Krankenhaus pausieren musste. Noch vor Abschluss ihres Studiums gründet sie eine eigene Grafikagentur.
Im Jahr 2014 – Jacqueline Fritz ist inzwischen 29 Jahre alt – begegnet sie in einer ihrer zahlreichen Rehamaßnahmen in einer bayerischen Klinik einer Gruppe junger Männer, die regelmäßig wandern gehen. »Komm doch mal mit«, laden sie Jacqueline Fritz ein. »Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt nichts mit Bergen zu tun«, sagt die Profibergsteigerin heute. Sie geht mit und setzt sich ein persönliches Ziel: »Am Ende der Reha stehe ich auf einem Gipfel.«
Als das geschafft ist, plant sie nichts Geringeres als eine Alpenüberquerung. Auf einem Bein und 2 Krücken will Jacqueline Fritz über den Alpenhauptkamm gehen und
»Ja, das muss sein.«
Einmal, als es wegen einer schlechten Telefonverbindung zu einem Missverständnis kommt und eine Hüttenwirtin fürchtet, den beiden jungen Frauen könne etwas passiert sein, schickt die sogar die Alpinpolizei los, um die Route abzufliegen, auf der Jacqueline Fritz und ihre Begleiterin gerade unterwegs sind. Ein paar Tage später trifft sie auf einer der nächsten Etappen einen der Polizisten auf einer Hütte wieder. Die beiden unterhalten sich, der Polizist fragt: »Ja, muss das denn sein, dass du den Alpencross auch noch öffentlich machst? Da kommen bald die ganzen Behinderten in die Berge und wir müssen sie aus dem Schlamassel wieder rausholen.«
»Ja, das muss sein«, hält Jacqueline Fritz entgegen. »Ich komme bei guter Planung nicht mehr in Gefahr als jeder andere Bergwanderer auch.« Und dabei bleibt es. Weiter geht’s zum nächsten Gipfel.
»Ich kann alles machen, was ich will.«
Nach ihren Bein- und Hüftbrüchen im Jahr 2017 scheint die Karriere zu Ende. Doch entgegen der ärztlichen Prognose startet Jacqueline Fritz jetzt erst richtig durch. Im Jahr 2018 besteigt sie 7 Gipfel im Stubaital. Im Jahr 2019 beschließt sie, eine Skitour zu machen. Die Hürden liegen hoch, denn für eine Skitour muss man Skifahren können. Innerhalb von 4 Monaten lernt sie einbeinig Skifahren und geht am Ende der Lernzeit auf Skitour. Seit 2018 klettert Jacqueline Fritz im Deutschen Nationalteam Paraclimbing und holt im Jahr 2019 die Bronzemedaille. »Ich hätte nicht gedacht, wie bewegend es ist, für Deutschland auf dem Podest zu stehen. Damit hatte ich gar nicht gerechnet.«
Wegen ihrer sportlichen Leistungen abzuheben, dafür ist Jacqueline Fritz nicht der Typ. »Ich bin ä Mädel aus der Palz inn des wer ich immer bleiwe.« Hier ist alles, was Jacqueline liebt. Ihr Hof, auf dem sie lebt. Ihr Trainingszentrum in Karlsruhe eine Stunde entfernt. Das Nationalteam und Kletterpartnerinnen, mit denen sie oft mehr Zeit verbringt als mit ihrer Familie. In ihrer Pfalz wird sie wieder auf Weinfeste gehen und Eis essen, wenn sie zufälligerweise vor Ort sein sollte. Hier ist ihre Basis, ihr Kraftzentrum. Doch Jacqueline Fritz ist viel unterwegs.
Einige Tage nach unserer gemeinsamen Wanderung geht es für sie ins Trainingslager nach Österreich – Vorbereitung für die Saison. Ihr Sommerprojekt nimmt Gestalt an: Es startet mit Sportklettern in Briançon, gefolgt von einer Wanderung mit Eseln nach Chamonix und die dortige Besteigung eines Viertausenders im Mont-Blanc-Massiv und einer Skitour auf einen zweiten Viertausender. »So kann ich meine 3 Lieblingsdisziplinen vereinen: Sportklettern, Bergsteigen und Skitouren«, sagt sie.
Heute verschiebt Jacqueline Fritz nichts mehr.
Daneben hat sie gerade die Flyer für ihre geführten Touren in der Pfalz in die Druckerei gegeben. Sie plant Kräuter- und Landschaftswanderungen mit Familien und für Menschen mit Behinderungen. Dafür macht sie nebenher eine Ausbildung zur Bergwanderführerin. Parallel lässt sie sich zur Klettertrainerin ausbilden. »Ich habe viel Zeit im Krankenhaus verbracht. Jetzt verschiebe ich nichts mehr.«
»Nichts verschieben, einfach machen!« ist auch eine der Botschaften, die das Multitalent am Berg in ihren Vorträgen und Seminaren verbreitet.
Jacqueline Fritz
An ihrem Lieblingsplatz angekommen, setzt sich Jacqueline gerade mit Loui auf den Buntsandsteinfelsen. Loui bellt, nicht weit entfernt geht’s bergab. »Loui, es isch gut, so bin ich sicher. Es kann nix mehr passiere. Du kannschd dich entspanne.« Noch ein paar Klimmzüge am portablen Trainingsboard und ein rascher Blick zum Felsen. Die Nachmittagssonne blendet in ihrer Kraft über den Gipfeln der Pfalz. Der Blick ist weit. Bis zum Horizont. Was dahinter kommt? »Vielleicht wird Paraclimbing olympisch. Dann will ich in 4 Jahren unbedingt antreten. Dann bin ich 40. Das wäre ein toller Abschluss meiner Sportkarriere.« Ihre Augen leuchten, als sie das sagt.
Redaktion: Stefan Boes, Maria Stich
Titelbild: Monika Rech-Heider - copyright