Liebe tut weh. Liebe heißt Treue. Liebe macht uns überhaupt erst vollständig. Und romantische Beziehungen sind die wichtigsten Beziehungen im Leben. Das sind Beispiele von Glaubenssätzen über die Liebe, die mir lange Zeit wie selbstverständlich vorgelebt wurden. Ich habe sie geglaubt. Viele Menschen glauben sie.
Autor:in Şeyda Kurt nennt Annahmen wie diese »zirkulierendes kollektives Wissen«. Was sie damit meint: Wir alle kennen diese vermeintlichen Wahrheiten und reproduzieren sie immer wieder – in Filmen, Büchern und in unseren romantischen Erwartungen. Ein »Unbehagen« gegenüber diesen Wahrheiten hat sie motiviert,
Es heißt »Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist«; Kurt untersucht darin die gesellschaftlichen Liebesnormen im »Kraftfeld von Patriarchat, Rassismus und Kapitalismus am Beispiel ihrer eigenen Biografie«, wie auf dem Klappentext zu lesen ist.
Auch ich spüre ein Unbehagen, wenn ich an meine Märchenfilm-Liebeswahrheiten denke. Was gibt es abseits meiner alten Glaubenssätze, das auch wahr sein könnte? Kann es tatsächlich eine Revolution der Liebe geben, wie Kurt sie fordert? Antworten auf diese und viele andere Fragen habe ich nicht nur in Şeyda Kurts Buch gesucht, sondern auch im persönlichen Gespräch via Zoom.
Marisa Uphoff:
Şeyda, warum ist Liebe politisch?
Şeyda Kurt:
Eigentlich ist alles, was das Zwischenmenschliche betrifft, politisch. Und auch alles, wo es darum geht, wer wie viel Handlungsmacht hat. In romantischen Beziehungen stellt sich etwa die Frage: Wer hat die Möglichkeit, eine Beziehung einfach zu beenden? Diese Frage hängt immer unmittelbar mit politischen Verhältnissen zusammen, in diesem Beispiel
Hinzu kommt die historische, philosophische und kulturgeschichtliche Betrachtung dessen, wie manche Konzepte der romantischen Liebe überhaupt so dominant geworden sind. Das hat mit politischen Machtkämpfen zu tun. Ein Beispiel, das ich in meinem Buch beschreibe, ist die Monogamie als koloniales Projekt:
haben den aus ihrer Sicht vermeintlich unzivilisierten nicht-
weißen Menschen die Monogamie als zivilisierendes Ordnungsprinzip aufgezwungen – um im Gegenzug ihre eigene angebliche Zivilisiertheit zu bestätigen und ihr Recht auf koloniale Unterwerfungen und Gewalt zu begründen.
Damit sind Konzepte der romantischen Liebe und der bürgerlichen Ehe nicht nur Produkte von Unterdrückungsverhältnissen,
Şeyda Kurt:
Es geht die ganze Zeit um die Frage: Was ist eigentlich Liebe? Der Film kommt zu dem Schluss: Liebe ist Arbeit. Über den Begriff der Arbeit lande ich schnell bei Marx. Ich hebe den Begriff der Arbeit auf eine philosophische Ebene, weil es mir darum geht zu schauen, wer überhaupt privilegiert genug ist, die Vorstellung von romantischer Liebe als Verbindung ohne Zweckmäßigkeit zu bewahren. Auch andere Philosoph:innen haben sich Gedanken über Liebe als Arbeit gemacht, so etwa
Sie und Aktivist:innen, mit denen sie zusammenarbeitete, haben den Satz geprägt:
Diese feministischen Positionen von Federici beschäftigen sich mit der Unterdrückung von weiblichen Personen, zum Beispiel im Haushalt.
Der Film, von dem du gesprochen hast, bietet ein recht progressives Bild an. Die Frau hat die Wahl und entscheidet sich nicht für den Vater ihres Kindes. Ist das ungewöhnlich für das türkische Kino dieser Zeit?
Şeyda Kurt:
Nicht nur in der Türkei waren die 70er-Jahre eine politische Zeit. Vielleicht ist der Unterschied, dass in der Türkei gewisse Problematiken und Auswüchse der Ausbeutungs- und Unterdrückungsmechanismen –
Urbanisierung und Prekarisierung – krasser waren. Dementsprechend war es für Menschen, die Kultur produzieren, unumgänglich, sich damit auseinanderzusetzen. Ich bin außerdem in einer politischen Familie aufgewachsen. Mein Vater wurde in der Türkei als linker Aktivist auf Demonstrationen festgenommen. Mir wurde das Politische quasi in die Wiege gelegt.
Du schreibst in deinem Buch, dass die Ehe deiner Eltern an den in der Familie etablierten Glaubenssätzen zerbrochen ist. Zum Beispiel an der Monogamie. Hat das deinen Blick auf die Ehe geprägt?
Şeyda Kurt:
Vor allem war für mich wichtig zu sehen, dass die Ehe kein Garant dafür ist, dass man eine nachhaltige und fürsorgliche Beziehung führt. Es kann für viele Menschen eine Station sein, aber dass die Ehe ewig hält, ist nicht garantiert. Im zweiten Schritt habe ich erkannt, dass ich auch ganz andere Formen von Beziehungen etablieren kann, die vielleicht sogar nachhaltiger, ehrlicher und fürsorglicher sind als eine Ehe.
Welche alternativen Formen sind das?
Şeyda Kurt:
Es gibt diese dominante Vorstellung der monogamen, bürgerlichen Zweierbeziehung,
Als wäre das die einzige Art, wie Menschen beständige Beziehungen führen können. Dem gegenüber wirkt alles andere unverfänglich und nicht auf Dauer ausgelegt. Dieses binäre Denken ist Bullshit. Auch nicht-monogame Beziehungen und Konstellationen, in denen 3 oder 4 Menschen involviert sind, können nachhaltig sein. Auch in diesen Beziehungen wird an einer gemeinsamen Zukunft gearbeitet.
Diese halten oft viel länger als romantische Beziehungen, manchmal jahrzehntelang. Trotzdem wird die romantische Beziehung priorisiert. Mir geht es nicht darum, dass eine Beziehungsform besser ist als die andere. Sondern darum, dass es eine große Vielfalt an Beziehungsformen gibt, die wertvoll sind, und dass auch die politischen Verhältnisse nicht eine dieser Formen priorisieren dürfen.
Glaubst du, die Monogamie hat ausgedient?
Şeyda Kurt:
Ich glaube, dass die monogame Zweierbeziehung als Institution mit Vorrechten ausgedient hat. Wenn sich Menschen dazu entscheiden, eine monogame Beziehung zu führen, dann von mir aus. Ich will aber durchschauen, was politisch dahintersteckt. Die Institutionalisierung dieser Beziehungsform ist ja nicht einfach ein großer Zufall des Schicksals. Im Gegenteil: Durch sie werden in Heterokonstellationen gewisse Unterdrückungsverhältnisse stabilisiert. Dazu gehört der Besitzanspruch auf den weiblich betrachteten Körper und die weibliche Sexualität sowie generell die Anspruchshaltung, Menschen exklusiv besitzen zu wollen. Das ist eine Grundhaltung der monogamen Beziehung, die in kapitalistischen, patriarchalen Verhältnissen eine Vorrangstellung hat. Wenn wir in einer anderen Gesellschaft leben würden, die eben nicht kapitalistisch und patriarchal wäre, in der es nicht um Besitz und Ausbeutung ginge, könnte die Monogamie von mir aus Teil einer großen Vielfalt von unterschiedlichen Beziehungsformen sein.
Sieht so die Revolution der Liebe aus, die du dir vorstellst?
Şeyda Kurt:
Die Revolution der Liebe, die ich mir wünsche, ist notwendigerweise gekoppelt an eine gesamtgesellschaftliche Revolution. Ich habe das Buch in der Anerkennung geschrieben, dass wir keine neuen Beziehungen etablieren können und auch wir uns nicht verändern können, wenn sich nicht gleichzeitig die patriarchalen und kapitalistischen Verhältnisse, zu denen auch Besitzverhältnisse und Ausbeutung gehören, mit verändern.
Ich komme am Ende meines Buches auf das Thema »Zeit« zu sprechen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es unfassbar viel Anstrengung erfordert, Beziehungen jenseits der starren Raster einer monogamen Zweierbeziehung zu führen, weil einfach mehr Menschen daran beteiligt sind, die zusammen ein Leben organisieren müssen. Das kostet Zeit und Energie. Ich weiß, dass sehr viele Menschen diese Zeit nicht haben. Deswegen weiß ich auch, dass in den bestehenden Verhältnissen, in denen wir Lohn erwirtschaften müssen und nur leben, um zu arbeiten, solche Konstellationen für viele Menschen nicht möglich sind. Viele Menschen können gar nicht herausfinden, welche Art von Beziehung sie leben wollen. Eine Revolution der Liebe ist deshalb auch mit der Revolution von gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen verbunden. Damit wir die Freiheit haben, abseits von Zweckmäßigkeit und Sicherheitsbedürfnissen Beziehungen einzugehen.
Welche Rolle spielt dabei die »radikale Zärtlichkeit«, nach der du dein Buch benannt hast?
Şeyda Kurt:
Der Begriff Liebe ist mir zu vorbelastet, als dass ich damit weiterarbeiten will. Er ist wie ein Heilsversprechen. Diese 3 magischen Worte – ich liebe dich –, die alles bedeuten sollen, aber zugleich auch nichts bedeuten … Ich habe mich für den Begriff der Zärtlichkeit entschieden, weil er die Momente des zärtlichen Handelns in den Vordergrund stellt. Viele Menschen können sich etwas unter Zärtlichkeit vorstellen: eine Art des Miteinanderseins, die wohltuend und bejahend ist. Zärtlichkeit ist für mich etwas, was ich in meinen Beziehungen etablieren will. Ich frage mich darüber hinaus, wie die Verhältnisse in unserer Gesellschaft Zärtlichkeit ermöglichen, aber vielleicht auch verhindern.
Hast du einen Ratschlag, wie wir Machtverhältnisse und Ungleichheiten in Beziehungen beseitigen können?
Şeyda Kurt:
Das geht leider gar nicht so einfach, weil sich Machtverhältnisse nicht ohne Weiteres abschaffen lassen. Aber es kann eine Annäherung geben. Aus meiner Erfahrung hat es sehr viel damit zu tun, sich mit Themen wie Rassismus und Feminismus zu beschäftigen. Man sollte sich dieser Auseinandersetzung annehmen und versuchen, die eigene Position in diesen Verhältnissen zu betrachten. Alle an einer Beziehung Beteiligten müssen sehr viel miteinander sprechen. Beim Sprechen gibt es Werkzeuge wie wertschätzende und
Was wird jetzt aus der romantischen Liebe?
Şeyda Kurt:
Da bin ich selbst noch gespannt. Wir können uns jedenfalls weiter an Romantik und Kitsch erfreuen, auch wenn es die bürgerliche, romantische Liebe als Institution, also als System mit Hierarchien, eines Tages nicht mehr geben sollte.